Busek und Haidinger: Sauerteig der Gesellschaft
Herr Dr. Busek, Sie schreiben in ihrem Buch „Republik in der Krise“, Sie haben den Eindruck, dass wir wie Schlafwandler durch die Gegend gehen. Und wir wären der Überzeugung, die Konsequenzen der ungelösten Probleme würden uns ohnehin nicht treffen. Was müsste passieren, dass wir aus diesem Schlaf erwachen?
Busek: Der Begriff der Schlafwandler wurde von einem Historiker verwendet für das Entstehen des 1. Weltkrieges, aber man muss deutlich sagen, er gilt heute auch genauso. Sie können jeden Tag die Zeitungen hernehmen und schauen, worüber die Politik etwas offeriert, was die wirklichen Probleme sind. Es gibt keine wie auch immer gearteten Antworten, wobei auch die Reaktion der Betroffenen oder jener Gruppen, die interessiert sein müssen, sehr bescheiden ist.
Ich sage Ihnen ein Beispiel: Ganz sicher gibt es in Österreich Probleme mit den Pensionisten und ihren Einkommen, aber die hervorragende Idee, den Pensionisten einen Hunderter zu geben, ist wohl einer der dümmsten Vorschläge, die je gemacht wurden, das ist eine intellektuelle Unterforderung des Herrn Bundeskanzlers. Denn es gibt Unterschiede. Für den einen ist das eine Freude, für den anderen ist es überflüssig. Das heißt, man hätte sozial gerecht verteilen müssen, aber die Diskussion gibt es gar nicht. Haben Sie Reaktionen in diese Richtung gelesen?
Nehmen Sie ein anderes Problem her, das ist die Frage der Sicherheit, die durch die Flüchtlinge und durch den IS entstanden ist. Wir geben wahnsinnig viel Geld aus für die Sicherheit, wir stocken die Polizei auf und dergleichen mehr, und kaufen Panzer und Kampfhubschrauber. Stellen Sie sich als Kontrastprogramm jenen Syrer vor, der in Leipzig dingfest gemacht wurde … Wie bekämpfen Sie den mit einem Kampfhubschrauber und mit einem Panzer? Ist da nichts Anderes erforderlich?
Ich negiere nicht das Problem. Das gibt es sicher. Und da muss ich ganz aggressiv für uns alle und für die Öffentlichkeit sagen, wir reagieren auch gar nicht darauf. Es ist sozusagen eine Art Unterhaltungsstaat, der existiert, die schlagen das alles vor, sind alle sehr nett, okay. Jeder denkt, hoffentlich hilft’s, aber es interessiert in Wirklichkeit keinen. Es fehlt die Ernsthaftigkeit der Diskussion unserer Situation. Und um Ihnen zum Schluss meiner ersten Bemerkung noch einen Schock zu versetzen: Ich bin überzeugt, dass wir in Wirklichkeit inmitten des Beginns des 3. Weltkrieges sind.
Das ist wenig vergnüglich zu sagen, ich fürchte mich immer vor dieser Aussage, weil einfach nicht kapiert wird, dass das anders funktioniert. Seine Apostolische Majestät hat 1914 noch den Krieg erklärt; dieser eigentlich wunderschön formulierte Text wurde von Hugo von Hofmannsthal geschrieben, das muss man sich auch vor Augen führen. Der 2. Weltkrieg ist schon technokratischer eröffnet worden: Seit 5.45 Uhr wird zurückgeschossen. Der 3. Weltkrieg beginnt, indem einmal in Madrid und einmal in London und einmal irgendwo Dinge passieren, um unsere Gesellschaft auseinanderzubringen. Und da ist auch der Begriff des Schlafwandlers mehr als berechtigt; er existiert.
Ich gehe jetzt quasi auf die andere Seite: Es gibt Institutionen in der Gesellschaft, die hier erhöhte Aufgaben haben. Das ist mit Sicherheit die Wissenschaft, das war vor allem die Politik, es sind Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Und da muss man fragen: Sind das nicht auch Schlafwandler? Ist irgendeine gewichtige Reaktion da? Das beunruhigt mich.
Ich vermisse oft von der Kirche Stellungnahmen zu Themen wie den extremistischen Islam.
Haidinger: Kann sein, dass man auch da noch wesentlich mehr machen sollte. Aber gerade dieser interreligiöse Dialog, der wird sehr gefördert, da geschieht wirklich sehr, sehr viel. Das kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen.
In Altenburg haben wir seit 2008 die „Sommer University“ zum christlich-islamischen Dialog. Wir haben Studentinnen und Studenten aus der ganzen Welt dagehabt, wo einerseits auf universitärer Ebene ein wirklich intensiver Dialog geführt wird, aber auch Vermittlung von Wissen, Einführung ins Christentum, Einführung in den Islam. Aber vor allem wird drei Wochen lang miteinander gesprochen. Das ist vielleicht nicht revolutionär, aber an diesem Dialog geht nichts vorbei. Diesen Dialog zu fördern, da gibt es in der Kirche, nicht nur in Österreich, sondern auch von Papst Franziskus, ganz intensive Bemühungen. Das ist eine Frucht des 2. Vatikanischen Konzils, dass der Dialog etwas Unverzichtbares ist. Und ich freue mich immer wieder, wenn ich Muslime bei uns in der Kirche beim Chorgebet sitzen sehe.
Busek: Ich bin ein alter professioneller Kirchenkritiker aus Liebe zur Kirche. Natürlich kann es intensiver und besser sein, nach oben hin gibt es keine Grenze. Aber ich wäre froh, wenn in anderen Bereichen so viel geschehen würde. Das gilt auch für die Flüchtlingsfrage. Da muss ich die Kirche in Schutz nehmen, weil man auch einkalkulieren muss, dass sie nicht jene Stärke hat, in der ich aufgewachsen bin. Das muss man auch ganz nüchtern realisieren. Und habe ich ein Erlebnis gehabt, das lässt mich nicht los. Ich komme in der Straßenbahn mit drei Jugendlichen in Gespräch, und sie sagen: Wir sind vor fünf Tagen zum Islam übergetreten. Ich gestehe, dass mir alles runtergefallen ist. Aber ich habe die Zeit genutzt und habe mit ihnen gesprochen. Die haben mir dann erklärt, um es kurz zu machen: Der Islam verlangt noch etwas von uns. Da müssen wir etwas tun. Und ich habe die eigentliche Kritik verstanden. In der Art und Weise, wie wir Glauben verstehen. Wir sind da zu sehr auf der sanften Seite. Das muss auf eine gewisse Art und Weise radikaler sein.
Wobei auch eine zweite Frage erörtert gehört, und das können die Aktivitäten, die der Abtpräses genannt hat, nicht leisten: Das ist der Missbrauch des Islam durch die Politik. Ein wesentlicher Teil dieser Aktivitäten hat nämlich mit der Religion absolut nichts zu tun. Hier greift die Politik ein, um sie zu instrumentalisieren, wobei es das im Christentum auch gibt. Mit großer Sorge auch auf Hinblick der Orthodoxie, vor allem der russischen Orthodoxie, die wird politisch instrumentalisiert und lässt sich auch instrumentalisieren. […] Sie verkaufen das auch als Erlösung. Unterschätzen Sie diesen Aspekt nicht. Die Menschen wollen letztendlich erlöst werden. Das ist die Frage an meine Kirche und an mich selber: Reden wir genug von diesem Aspekt? Sie sagen ja zum Beispiel im Islam, wir werden in die paradiesischen Gärten eingehen, die schöne harmonische Welt. Und sprengen sich deswegen in die Luft.
Wir haben das geistig noch nicht ganz erfasst, wo hier die Ansatzpunkte sind. Und da braucht es mehr Anstrengungen. Es muss ein Stückerl weiter gehen. Ich habe seinerzeit der Universität Wien angetragen, ein Islam-Zentrum zu installieren. Die Gremien der Universität haben das abgelehnt. Doch wir brauchen ganz entschieden mehr in diese Richtung, eine Unterstützung dieser Wissenschaftszweige, die uns die Zugänge dorthin eröffnen. […] Da sind die Defizite auf unserer Seite, und da bedarf es einfach mehr Nachfrage. Dort müsste man ansetzen, nicht bei einer Notverordnung. Die halte ich ja für einen Wahnsinn. Es gibt ja keine Not. Und mit mehr Polizisten ist sie auch sicher nicht zu bekämpfen.
Der Untertitel der Veranstaltung lautet: Christliche Werte im Fadenkreuz. Erzbischof Gänswein meinte, christliche Nächstenliebe ist auf einer sehr persönlichen Ebene und hat nichts auf Gesellschaftsebene zu suchen.
Busek: Das ist ein Irrtum, bei allem Respekt …
Kardinal Dominik Duka von Tschechien hat gemeint: Mitgefühl und Emotion ohne Vernunft führen in die Hölle. Sollte man jetzt Nächstenliebe neu definieren angesichts der Emigrationswellen?
Haidinger: Jedenfalls glaube ich nicht, dass Erzbischof Gänswein die zuständige Autorität ist, darüber etwas zu sagen. Aber da braucht man gar nicht in die Bibel schauen, sondern nur auf die Menschenwürde blicken. Jeder Mensch hat die selben Rechte. Da wird sehr viel Schindluder getrieben, auch in den letzten Monaten. Bei uns hat man am Anfang dieser Flüchtlingswelle gespürt, da ist noch ein ganz natürliches Empfinden da. Aber ich glaube nicht, dass die Überforderung die Menschen abgeschreckt hat, sondern die Reaktionen einfach auch der Öffentlichkeit und der Politiker gewesen sind. Einige unserer Politiker haben ja eine 180-Grad-Wende gemacht. Dann ist auf einmal das Angstschüren gekommen. Aber ich glaube, zu definieren, was Nächstenliebe ist, bringt uns da nicht weiter. Aber der Blick daraufhin, wie das Menschen verwirklichen, das kann man in der nächsten Kreuz-und-Quer-Sendung sehen. Sie wurde in der Pfarre Horn gedreht, da waren ganz große Widerstände am Anfang da, aber da wurde eine vorbildliche Arbeit geleistet. Hundert Leute aus der Pfarre sind in diesem Verein engagiert, der etwa 130 Flüchtlinge begleitet. Dazu diskutieren, wie weit Nächstenliebe gehen darf, da kann man Moralbücher lesen. Aber dort, wo es gelebt wird, passieren einfach Wunder, und auf einmal sind diese vielen, vielen Aufständischen, die sich in Horn zuerst gemeldet haben, so ruhig geworden, dass die gelebte Nächstenliebe die gesamte Atmosphäre bestimmt.
Busek: Da muss ich dem Herrn Abtpräses Haidinger zustimmen. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, vor allem in kleineren Orten, dass die Auseinandersetzung mit den und die Hilfe für die Flüchtlingen und die gante Integration aus der Zivilgesellschaft heraus eigentlich sehr gut funktioniert. Doch man muss sagen: Irgendwo hat es was in der Pastoraltheologie. Theoretisch ist es zum Teil nicht schlecht, was geboten wird, aber wie ist die pastorale Ausbildung, des Lernens, auf die Menschen zuzugehen und ihre Sprache zu sprechen. Bis auf einen bestimmten Grad hat meine Mutter Kirche auch die Sprache für bestimmte Dinge verloren. Das beunruhigt mich.
Haidinger: Eines muss ich noch in diesem Zusammenhang sagen: Wo ich große Empörung innerhalb Orden und kirchliche Gemeinschaften spüre, ist, wenn Flüchtlinge, die seit einem Jahr oder länger in einer Ordensgemeinschaft oder in einer Pfarre leben und integriert sind, um 5.00 Uhr in der Früh von Polizisten abgeholt werden, die sagen: Sie werden jetzt ausgewiesen und abgeschoben. Manchmal kommt offener Wiederstand, aber es macht ungutes Blut. Da funktioniert die Integration, aber wir haben ein Gesetz, und nach diesem Gesetz muss er weg. So wird da gehandelt. Und da erlebe ich wirklich viel Empörung von Seiten derer, die versuchen, nach ihren Möglichkeiten mitzuwirken und mitzuhelfen. Und die dann resignieren und voll Wut sagen: Dann lassen wir es halt bleiben. Und da muss ich zugeben, da sind wir momentan ratlos. Aber wir diskutieren darüber, was man dagegen machen kann.
Eine übereinstimmende Definition, wie es sie früher gab, wie etwa das katholische Österreich, das gibt es nicht mehr. Die christlichen Kirchen werden sich darauf einstellen müssen, mehr und mehr in eine Minderheitsrolle zu kommen. Einige Studien sagen, bis 2030 wird es in Österreich 31 Prozent Orthodoxe, 29 Prozent Katholiken und 19 Prozent Moslems. Müssen wir andere Wege finden, weil wir eine Minderheit werden?
Haidinger: Ich glaube, Antworten auf diese Fragen haben wir noch nicht. Aber ich möchte einen kleinen Bereich herausnehmen. Wir haben uns in den Ordensgemeinschaften gerade im letzten Jahr sehr intensiv mit unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft beschäftigt, weil die Entwicklung wirklich ganz dramatisch ist. 1940 hat es noch rund 14.000 Ordensschwestern geben, 2015 insgesamt 3750 Ordensschwestern. Davon waren mehr als zwei Drittel älter als 75 Jahre. So schaut das wirklich ganz dramatisch aus. Und dennoch heißt das nicht: Alles geht den Bach runter. Franziskus hat uns in seiner klaren, einfachen Sprache ein paar Leitplanken gegeben. Er hat uns ein Ziel mitgegeben: Wir sollen dankbar in die Vergangenheit blicken; aus dem könnt ihr Kraft schöpfen. Die Gegenwart mit Leidenschaft leben; ich hab zum ersten Mal aus dem Mund eines Papstes das Wort Leidenschaft gehört. Das, was jetzt möglich ist, mit Leidenschaft, mit Liebe, mit Empathie angehen. Und die Zukunft voll Hoffnung ergreifen. Wir wissen nicht, wie diese Zukunft aussehen wird. Aber dennoch, wir sehen tagtäglich Möglichkeiten. Im Evangelium ist vom Sauerteig die Rede. Aber dort, wo wir hier und heute mit Leidenschaft unser Christsein leben und uns auch darauf verlassen, was wir als Zusage haben: Ich bin bei euch bis zum Ende aller Tage, dass wir diese Wirkung des Sauerteigs in die Gesellschaft immer wieder einbringen können.
[rs]