Der rasende Stillstand
„Die Uhr ist ein Instrument zur Vergesellschaftung der Zeit! Das Problem ist, dass wir das, was die Zeitmessung aus der Zeit macht, für die Zeit selbst halten.“ Der, der sich da Zeit genommen hatte, um über die Zeit nachzudenken und um bei Zeiten ein Buch darüber zu schreiben, ist der Philosoph und Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski. Man muss ihn eigentlich nicht vorstellen; der 1945 geborene Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin ist einer der prominentesten Querdenker Deutschlands, der mit seinen weltweiten Bestsellern immer wieder für gesellschaftliche Denkanstöße sorgt – mitunter auch für sehr unbequeme. Als Keynote-Referent auf dem 14. Forum Hospital Management 2017 sorgt er dafür, dass sich die anwesenden Besucherinnen und Besucher mit der Zeit auseinandersetzen.
Der „Rasende Stillstand“, so das Motto der Veranstaltung, geht auf einen Essay des französischen Medienkritikers Paul Virilio zurück. Darin beschreibt er eine Welt entfesselter Mobilität, die von ihrer eigenen Substanz zerrt. Oder anders ausgedrückt: Wir alle müssen immer schneller und schneller laufen, um wenigstens Position zu halten.
Und genau hier hakt Safranski ein: Der Blick auf die Uhr verrät nichts über die Zeit an sich – außer, dass sie vergeht. Sie ist nicht fassbar, trotz aller Instrumente, mit denen wir sie messen. Wir haben allerdings die Uhr zur Institution zur gesellschaftlichen Vereinheitlichung der Zeit und damit zur Norm gemacht. Wir befestigten sie zuerst an Kirchtürmen, dann in den Fabriken und schließlich an unseren Handgelenken. Damit begann der Mensch, sein Leben wie selbstverständlich danach ausrichten. Die Uhr dient zur Koordination, zwingt zur Pünktlichkeit und steuert letztendlich unser Verhalten.
"Das aber, was wir noch vorhaben, ist meist zu viel für ein Menschenleben." Rüdiger Safranski hielt die Keynote am 14. Forum Hospital Management 2017. (c) Ordensgemeinschaften Österreich/rs
Das sei nicht unbedingt positiv, sagt Rüdiger Safranski, denn das hatte gewaltige Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft. Denn die Zeit unterlief einer Transformation: „Wir glauben mittlerweile tatsächlich, dass es unser eigener Rhythmus ist, unsere Eigenzeit, der wir folgen.“ Die „öffentliche Zeit der Uhren“ wurde, weil sie scheinbar Arbeit und Verkehr regelt, als „Zeitgewissen“ verinnerlicht.
Mehr noch, wir stehen unter dem Zwang, Zeit gewinnen zu müssen. Im kapitalistischen Wettbewerb muss man neue Produkte früher als die Konkurrenz auf den Markt bringen. Die Zeit wird zu eine Art Gegenstand, ein Objekt, das „verschleudert, verwertet, bewirtschaftet“ wird. Schließlich: Time is money. Die eigentlichen Maschinen der Industrialisierung waren nicht die Maschinen, sondern die Uhren.
Wir sagen: Zeit ist knapp. Doch: „Wie kann Zeit knapp werden?“, fragt Safranski. Und hat auch eine logische Antwort parat: „Doch nur, wenn wir für eine Tätigkeit zu wenig Zeit einberechnen. Wir leben immer in einem strikten Zeitregime, indem wir immer Fristen beachten.“ Arbeit, Schule, Freizeit – alles ist sind genau geregelt; es gibt für alles feste Zeiten und Fristen. Es gibt für alles Deadlines.
Josef Probst (Generaldirektor im Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger), Michael Heinisch (Geschäftsführer Vinzenz Gruppe), Johannes Steyrer (WU Wien), Herwig Wetzlinger (Direktor der Teilunternehmung AKH) begrüßten die Gäste des Forums. (c) Ordensgemeinschaften Österreich/rs
Die absolute Deadline
Wo liegt die Ursache? Das Wort „Deadline“ trägt die Antwort in sich. Wir alle wissen, dass wir eines Tages sterben müssen. Nur wissen wir nicht, wann das sein wird. Safranski: „Das aber, was wir noch vorhaben, ist meist zu viel für ein Menschenleben. Deshalb die Hast, auch wenn sie uns nicht guttut.“ Die absolute Deadline, man verdrängt sie erfolgreich und nimmt kaum noch Zeit für sich selbst. Diese Beschleunigung wird durch die moderne Kommunikation unterstützt. Mehr noch: Gerade in der medialen Erfahrung entsteht der Eindruck der Beschleunigung.
Dazu kommt, dass in der Kommunikation der Trump-Ära die Lüge einfacher ist als die Wahrheit. Denn der Gegensatz der Wahrheit ist eigentlich der Irrtum. Die Struktur der Lüge ist anders: Sie führt in die Irre – und wird durch das Element der Schnelligkeit noch unterstützt.
Doch echte Lebenserfahrung braucht (Verarbeitungs-)Zeit. Und: Demokratie braucht Lebenserfahrung – und damit Zeit. „Wir leben in einer Gesellschaft der verschiedenen Geschwindigkeiten“, doziert der Philosophieprofessor. „Der Zeittakt, in dem die Geschäfte in der Finanzwirtschaft abgeschlossen werden, ist extrem schnell und erfordert eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit bei immer kürzer werdenden Fristen.“ Beim Hochfrequenzhandel kämen ohnehin nur mehr die Computer mit; menschliches Reaktionsvermögen ist schon abgehängt. Es kommt zu Synchronisationsproblemen. Doch Demokratie braucht für vernünftige Schlüsse Zeit. „Zwei Geschwindigkeiten also? Welche gibt den Takt vor?“, fragt Safranski. „Setzt sich die Zeit der Demokratie durch oder die Zeit der Finanzmärkte? Letztendlich ist das eine politische Machtfrage.“
Das 14. Forum Hospital Management 2017 wurde von der Vinzenz Gruppe, dem AKH Wien, dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und der WU Wien veranstaltet.
[rs]