Das Fremde in uns selbst
Der Wiener Professor für Biologische Psychologie Claus Lamm initiierte 2013 ein ungewöhnliches Experiment: Er spielte ausgewählten Studenten, ausschließlich weiße Europäer, zwei Filme vor. Das erste Video zeigte in Großaufnahme, wie eine Nadel, offensichtlich sehr schmerzhaft, in die Hand eines Weißen gestochen wurde. Das zweite Video brachte denselben Inhalt – mit einem Unterschied: Die Hand hatte eine dunkle Hautfarbe. Anschließend fragte Lamm seine Studenten, welche Person ihnen mehr leidgetan hätte. Die Antwort schien auf den ersten Blick nicht überraschend zu sein: Die meisten sagten, sie hätten für beide gleich viel Mitgefühl gespürt. So weit, so gut, wenn … der Neuro-Psychologe während des Tests nicht die Gehirnaktivitäten der Zuseher gemessen hätte. Hier zeigte sich, dass diese auf die Nadel in der weißen Hand wesentlich intensiver reagiert hatten. Das (erschreckende) Fazit: In unseren Gehirnen sind unbewusste Mechanismen der Diskriminierung verankert, die sich der bewussten Beeinflussung widersetzen. Je ähnlicher und „näher“ uns Fremde sind, desto mehr Empathie empfinden wir und desto eher sind wir bereit, ihnen zu helfen. Je andersartiger, je fremder sie sind, desto mehr Angst haben wir. Doch wo liegen die Wurzeln für dieses Verhalten?
Angst vor Fremden/m als Überlebensstrategie
Um diese zu finden, muss man sich tief in die Evolutionsgeschichte des Menschen eingraben und ungefähr 10.000 Jahre weit ins Neolithikum zurückgehen. Die Frühphase des Menschen ist von Kleinstämmen, von Familienverbänden mit 100 bis 150 Leuten geprägt gewesen, die stark von Ressourcen abhängig waren. Ihre ausreichende Verfügbarkeit war Grundvoraussetzung fürs Überleben. Der Konkurrenzdruck war gewaltig; Fremde konnten unter Umständen den Untergang der ganzen Gruppe bedeuten. Fremdenangst und Vorurteile waren daher Survivalstrategien. Für Bert Hölldobler, emeritierter Professor für Evolutionsbiologie an der Harvard University, bedeutet das aber auch: Um die Evolution von Xenophobie zu verstehen, muss man sich auch mit ihrem Gegenteil beschäftigen, dem Altruismus. „Familienbezogener Altruismus ist der Kernfaktor des Zusammenlebens der Menschen, ganz gleich, welcher Zivilisation, welcher Kultur oder welchem politischen System sie angehören“, formuliert der international anerkannte Experte auf dem Gebiet der experimentellen Verhaltensphysiologie und Soziobiologie. Konkurrenz innerhalb einer Gruppe schlägt in Kooperation um, wenn Konkurrenz von außen droht – und diese Art des sozialen Zusammenlebens habe sich letztendlich als äußerst erfolgreich erwiesen. Hier liegt der evolutionsbiologische Kern der Heimat. „Das, was das Heimatgefühl ausmacht, ist das Selbstverständliche, das Sicherheit gibt“ sagt Konrad Paul Liessmann, Professor für Philosophie an der Universität Wien. „Zur engeren Umgebung der ersten Erfahrung gehören natürlich auch Menschen. Heimat sind auch diejenigen, die fraglos dazugehören.“ Logischer Rückschluss: „Wir denken uns den Fremden immer als den, der von außen, von woanders, aus einer anderen Welt und Kultur kommt.“ Wenn „Fremde“ von außen in unser Leben treten, dann verändern sie vieles; Veränderungen werden als Bedrohungen wahrgenommen. Doch für Liessmann stellt sich viel mehr die Frage: „Schlummert der Fremde nicht in uns selbst?“ Die Welt von heute ist in ständiger Bewegung, sie ist konfus und komplex zugleich, dynamisch und ungewiss, flexibel und vieldeutig, grenzenlos und in ständiger Weiterentwicklung. Diese permanente Veränderung fordert von den Menschen höchste Flexibilität, um sich in immer neuen Umgebungen zurecht finden zu können. Liessmann hat dafür den Begriff der „Permanenten Reform“ geprägt und spricht geradezu von einer „Reform-Hektik“. Überall habe sich der Reformgeist eingenistet, Institutionen würden ständig reformiert werden: Ob Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen, ob Verwaltungseinheiten oder die Feuerwehr – andauernd würde man diese Institutionen umstrukturieren und den neuen Gegebenheiten anpassen. „Die ständigen Veränderungen in der flüchtigen Moderne verunsichern“, bringt es der Philosoph auf den Punkt. „Wir können uns nur auf Weniges verlassen, immer wieder müssen wir uns neu orientieren und auf neue Umstände einstellen: ein neuer Arbeitsplatz, ein neuer Studienplan, eine Umstrukturierung des Unternehmens.“
Der Wiener Philosoph Konrad Paul Liessmann hat den Begriff der permanenten Reform geprägt. Foto: Richard Schuster
Permanente Veränderung versus Heimatgefühl
Hand in Hand geht damit eine permanente Veränderung in den sozialen Beziehungen einher. Menschen verlieren ihre Position in der sozialen Hierarchie, sie verlieren immer mehr die Gemeinschaft, das „Heimatgefühl“. Der Vorteil sei sicher eine gewisse gesellschaftliche Freiheit, doch diese kann überfordern, stressen und ängstigen. Dazu kommt, dass fast alle Menschen an dieser Spirale mitdrehen; fast automatisch findet man sich in der Rolle des permanenten Konkurrenten wieder – und denen kann man nicht vertrauen. Diese permanente Stimmung des Misstrauens ist ein Nährboden für die Angst vor dem Fremden – und die hat gerade Hochsaison, denn seit dem Bürgerkrieg im Nahen Osten kommen Tausende aus Ländern wie Syrien, Afghanistan oder dem Irak nach Europa, um vor Krieg und Tod zu flüchten. Noch mehr Konkurrenz? Der Ausweg, dieser Angst mit mehr „Sicherheit“ und mehr „Heimatgefühl“ zu begegnen, ist nur ein scheinbarer. „Heimat als politischer Begriff ist nicht wirklich gut nutzbar“, resümiert Liessmann. Die Angst vor dem Fremden lauert schon seit grauer Vorzeit in uns. Hat es überhaupt einen Sinn, sich gegen eine psychologische Disposition zu wehren? Neuropsychologe Claus Lamm hat dazu eine klare Antwort: „In unserem Gehirn gibt es keine fixe, unveränderliche Verdrahtung. Wir können aktiv gegen Vorurteile steuern, indem wir sie uns bewusst machen und dadurch brechen.“ Ein Gutteil der menschlichen Evolution sei gekennzeichnet durch die Fähigkeit zum rationalen Denken; die Erkenntnis, dass auch dunkle Seiten in uns vorhanden sind, zwar tief vergraben im Abgrund des evolutionsbedingten Unterbewusstseins, aber dennoch vorhanden, ist der erste Schritt, um sich von Vorurteilen und Ängsten freizumachen. Lamms Resümee: „Die Angst vor dem Fremden abzubauen funktioniert nur über den Ausbau des Bildungssystems.“ Man möge verzeihen, dass dieser Artikel mit einem Zitat aus dem Asterix-Band „Das Geschenk Cäsars“ endet, aber der greise Methusalix bringt die Problematik des Fremdseins pointiert auf den Punkt: „Ich hab' nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!“
[rs]