Die Kraft kommt im Gehen
Die beiden Geh-Begeisterten führten ihr Gespräch an drei Orten zu drei Themen. Sie widmeten sich dem Pilgern in körperlicher Hinsicht, erörterten seine mentalen Auswirkungen und diskutierten die spirituelle Basis oder Erhöhung, die man durch das Sich-Weiterbewegen finden kann. Ferdinand Kaineder fasst es kurz zusammen: „Ich glaube, Gott hat das Pilgern erfunden“, und Christine Dittelbacher stimmt zu: „Unbedingt! Jesus war ja auch unterwegs, die abrahamitischen Stämme waren unterwegs, die Israeliten waren unterwegs und wir, wir sind auch unterwegs.“
(c) magdalena schauer
Das Leben kommt einem entgegen
Die Quintessenz des Gehens lasse sich in zwei Erkenntnissen zusammenfassen, ist Kaineder überzeugt. Erstens komme das Leben einem entgegen, mit all seinen Problemen und Lösungen, den Fragen und den Antworten und zweitens erfahre man ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Auch Dittelbacher sieht es ähnlich, sie findet in der Bewegung ein Aussöhnen mit dem Leben und ein ständiges Entdecken von neuen Schätzen. Momentan erlebe sie dazu eine Kirche, die sehr freudig und sehr hoffnungsvoll sei: „Da bin ich ganz dankbar, dass Franziskus uns jetzt entgegengekommen ist, ich erlebe eine Kirche, die auf dem Weg ist, auf dem Weg in eine Veränderung, die auch Zeit braucht.“ Wer noch nie wirklich bewusst gegangen sei, wisse nicht um die Wirkung, die gemeinsames Gehen haben könne, betont Kaineder: „Ich bin viel alleine gegangen, aber immer öfter gehen auch Leute mit. Ich möchte Organisationen, Gruppen und Einrichtungen, wenn ich sie so sitzen, Sitzungen abhalten sehe, oft einfach empfehlen, in Bewegung zu kommen. Geht! Dinge, die stehen, in Bewegung zu bringen! Denn ich bin persönlich überzeugt, dass die größte mentale Kraft aus der Bewegung kommt, daraus dass man miteinander geht. Im Gehen wird man durchgemischt und die Themen werden viel reichhaltiger.“ Auch Dittelbacher empfiehlt in vielen Gruppencoachings oder Teambuildingveranstaltungen, gemeinsam zu gehen, denn „im Gehen bewegt sich etwas ganz anderes, es löst sich so viel. Im Weitergehen lässt man viel hinter sich, man kommt plötzlich drauf, was wirklich wichtig ist, was man wirklich zum Leben braucht, welche Probleme zu lösen sind und welche Dinge einfach Empfindlichkeiten oder Gewohnheiten sind, die man auch tolerieren kann. Pilgern macht weicher, toleranter, aber auch kraftvoller.“ Das Aufbrechen auf alten und neuen Wegen führt unweigerlich auch zu einer Auseinandersetzung mit dem Fremden. Mit jedem Kilometer, den man zurücklegt, ändern sich die Umgebung, die Landschaft, die Natur und die Menschen, denen man begegnet. Diese unweigerliche Fremde empfinden beide Weitgeher als Bereicherung. Kaineder sieht das Fremde als etwas, das am Weg plötzlich zu ihm gehört und erkennt es auf spiritueller Ebene als das Bereicherndste überhaupt. Nicht nur das Leben komme einem entgegen, sondern auch das Fremde und das führe zu einer Bewegung ganz weit hinaus. Dittelbacher findet auf jedem Weg etwas, das bisher noch nicht in ihr geweckt wurde, etwas, mit dem sie sich anfreunden kann. Sie findet eine Toleranz, die sie innerlich spüren kann, und die Erkenntnis, dass sie nicht alles verstehen müsse und es dennoch sein dürfe.
Wer nicht weiß, wohin er will ...
Jeder Weg, jedes Pilgern ist auch mit einem Ziel verbunden. Ist es wichtig, sich das Ziel unterwegs vor Augen zu halten? Dittelbacher ist davon überzeugt: „Wer nicht weiß, wohin er will, kommt auch nicht an.“ Sie sieht schon den ersten Schritt als Aufbrechen, erkennt ihn als ein Aufmachen dazu, eine neue Weite zu empfinden. Sie hat innere Ziele und manchmal könne das Ziel auch einfach sein, sich selbst zu lassen. Das sei die Herausforderung dabei. Kaineder spürt, dass ihn die Ziele ziehen. Als er kürzlich mit einer Gruppe von 27 Leuten am Marienweg in Rumänien unterwegs war, sei die Frage, wo das Ziel denn sei, immer wieder aufgekommen. Und jedes Mal, wenn es in Worte gefasst wurde und sich die Gruppe damit auseinandergesetzt habe, sei die Motivation wieder gestiegen.
Das eigene Tempo spüren lernen
„Pilgern bewegt mit allen Sinnen, es bewegt im Sinne von Aufmachen, weiter werden, beweglicher werden vor allem durch die Regelmäßigkeit im Gehen. Auch die unterschiedlichen Bodenbeschaffenheiten wecken in meinem Körper die Achtsamkeit für die einzelnen Schritte, für unser gesamtes Tun. Ich habe einen anderen körperlichen Überblick durch den Rucksack, habe eine andere Körperhaltung, und durch die einsetzende Entschleunigung beginnt mein Körper alles ganz anders zu regeln. Ich plädiere immer dafür, dass man sein eigenes Tempo spüren lernt. Man findet körperlich zu sich, entdeckt sich neu und setzt sich bewusst damit auseinander, wie hart man beispielsweise auftritt, wie man sich durch den Alltag bewegt und welche Körperhaltung man hat“, beschreibt es die Pilgerbeauftragte aus Linz. Kaineder erklärt, dass es ganz normal ist, dass die ersten sieben Tage als besonders anstrengend empfunden werden: „Nach dem ersten Tag tut dir alles weh, nach drei, vier, fünf Tagen schmeckt nichts mehr, weil man genügend Körpergewicht mit hat. Man lernt körperliche Achtsamkeit und der Körper sagt einem auch, was er will, wenn man bereit ist, Gewohnheiten zu verlassen. Man isst weniger, man braucht weniger, man isst flüssiger und verliert auch das Verlangen nach Fleisch.“ Ob und wie man für eine Pilgerreise trainieren müsse, werde er oft gefragt, dann antwortet er: Wer gehfähig ist, der braucht nicht zu trainieren, denn die Kraft kommt im Gehen. Die Auseinandersetzung mit dem Inneren, eine Veränderung von Wahrnehmungen und eine neue Kommunikation mit dem eigenen Körper gehören genauso dazu wie der Blick nach außen und die neuen Eindrücke, die durch die sich ständig verändernde Landschaft auf uns einwirken. Der passionierte Weitgeher kann von einem besonderen Erlebnis berichten: „Als ich nach Assisi gegangen bin, habe ich etwas wiedererlebt, das mir schon einmal passiert ist. Ich hatte immer das Gefühl, Steine in den Schuhen zu haben. Dann habe ich sie ausgezogen und nichts gefunden. Das habe ich, glaube ich, sieben Mal gemacht und wurde richtig wütend, dass ich den Schmerz spürte, aber keine Steine in den Schuhen zu finden waren. Bis mir bewusst wurde, dass unser Körper in unseren Fußsohlen abgebildet ist und dass so etwas wie ein Phantomschmerz entsteht, der das Organ, das beim Gehen wahrscheinlich am meisten geschwächt wurde, abbildet. Der Stein im Schuh war also eine Abbildung des Körpers.“
Foto Teaser: Christine Dittelbacher und Ferdinand Kaineder vor der Martinskirche in Linz. Fotos: [msc]
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