Mitterlehner: Wie das neue Leben geht
„Die Entscheidung, alle politischen Ämter abzugeben und zurückzutreten, lässt sich nicht auf einen Faktor zurückführen. Es ist wie bei einem Mosaik. In jedem Fall wollte ich selbst die Entscheidung treffen und als Sachpolitiker erhobenen Hauptes von der Bühne gehen. Diese Selbstbestimmung war mir ganz wichtig.“ Nicht einmal seine Frau hat den genauen Zeitpunkt gewusst. Eine Stunde vor der Pressekonferenz hat er seine Abschiedsworte rund um den Satz „Ich lege alle meine politischen Ämter zurück“ fertig gehabt. Mitterlehner hat ein ganz tiefes Loslassen in dieser Entscheidung gespürt, „fast so etwas wie eine partielle Todeserfahrung. Du gibst einen wesentlichen Teil deines Lebens ab und gehst in eine neue Phase. Ein wesentlicher Teil von dir ist dann weg.“ Als leidenschaftlicher Tarockspieler hat er mit seinen Freunden unmittelbar nachher einen „Befreiungstarock“ gespielt. Es war so etwas wie ein Ritus des Loslassens. „Ich war total gelöst.“ Ein paar Wochen hat er eine große Euphorie verspürt. Auch die vielen Rückmeldungen haben ihn getragen: „Die Menschen haben ein ganz tiefes Sensorium für Vorgänge dieser Art. Sie spüren ganz genau, was da abgegangen ist.“ Nach seinem Rücktritt hat er bei verschiedenen großen Veranstaltungen bei der Begrüßung immer wieder „langen Applaus“ bekommen. „Das trägt und zeigt, dass man nicht falsch lag mit der Entscheidung. Und: keine einzige negative Rückmeldung.“
Revanche oder umblättern
„Freilich habe ich in diesen Vorgängen so etwas wie eine persönliche Kränkung erlebt. Mir ging es in allen Auseinandersetzungen in der Politik immer um die Sache. Jetzt werden andere politische Methoden ins Spiel gebracht. Gedanken nach Revanche tauchen auf. Wie gehst du mit Gedanken und Informationen im Wahlkampf um? Sollst du nicht ein Buch schreiben, wie es wirklich war?“ Mitterlehner spricht auch offen davon, dass er sich in dieser Situation professionell helfen, begleiten hat lassen. „Diese Revanche oder fast Rache erwarten viele, aber sie bringt nichts. Niemandem. Auch wenn es noch so verlockend oder berechtigt wäre. Außerdem halten dich diese Gedanken in der Situation gefangen. Du musst umblättern und das neue Kapitel anfangen zu leben, zu gestalten.“ Wichtig geworden ist dem ehemaligen Vizekanzler und Minister ein „neuer Abstand, der vorher nicht mehr da war in der Tretmühle der Politik“. Deshalb hat er sich keine einzige Fernsehdiskussion im Wahlkampf angeschaut. „Es ist hilfreich, Informationen gefiltert über die Zeitung und nicht unmittelbar über das Fernsehen wahrzunehmen.“
Neu berührt von der Natur und neuen Menschen
Er spricht davon, dass er von der Wirklichkeit „ganz neu berührt wurde und wird. Gerade die Natur und das Mühlviertel berühren mich ganz neu. Eine neue Wahrnehmung ist da. Ich entdecke Orte, an denen ich als Politiker war, ganz neu und sehe, erlebe, genieße sie viel dichter.“ Als Radfahrer bleibt er jetzt oft stehen und schaut in die Gegend. „Sich neu berühren lassen.“ Gegenüber anderen spricht er schmunzelnd von seiner „Resozialisierung“. Spannend findet er auch, dass ihm jetzt neue Menschen begegnen. Mitterlehner erzählt von einem Begräbnis eines befreundeten Bürgermeisters in dieser Zeit, wo der Satz des Pfarrers für ihn eine ganz besondere Bedeutung gewonnen hat. Die dunklen Tage verlieren sich, „wenn die Schönheit die Seele wieder berührt und berühren kann“.
Unter die Leute gehen
Rückzug ist ganz schlecht. „Kopf hoch und unter die Leute“ ist sein Motto. So hat er auch seine Entscheidung getroffen. Bisher hat er ausschließlich anerkennenden Respekt dafür geerntet. Selbst SocialMedia haben ihm geholfen, präsent zu sein, Kontakte zu halten und das neue Leben sichtbar zu machen. „Weil ich gerne reise, habe ich Fotos von den Reisen gepostet. Darauf kamen immer positive Rückmeldungen.“ Mitterlehner weiß, dass die Leute fragen: „Wie geht es ihm? Was macht er jetzt?“ Das lässt sich über diese Schiene gut für Interessierte beantworten und sie nehmen Anteil. Ortswechsel empfindet er als hilfreich, verändert den Horizont, „stellt dich in einen neuen Kontext“. Aber man muss ehrlich bleiben: Es ist auch immer wieder ein Auf und Ab. Mitterlehner schildert den Parteitag nach seinem Rücktritt, wo er sich hinstellen musste, die meisten Leute persönlich kennt, „und die Anwesenden sich in einer Art Trunkenheit und Siegestaumel befinden, schon einem anderen zuwinken und du gute Miene zum Spiel machen musst. Aber auch in dieser Situation wollte ich mir treu bleiben: Beweggründe erläutern, den Leuten den Spiegel vorhalten; meine Resozialisierung gelingt und mir geht es gut.“ Und immer hat er mit seiner gelösten, gelockerten Art die Lacher auf seiner Seite. Humor ist wichtig. Das hat eine positive Betroffenheit zur Folge gehabt. „Ich selber bleiben, nicht das Kreuz brechen lassen.“ Ja nicht zurückziehen, sondern unter die Leute gehen. Aber auch nicht überall dabei sein, „überall der Schnittlauch sein wollen“. Einfach da und dort sein.
Die Befreiung strukturieren
Wie geht das neue Leben? „Du musst deinen Tag neu strukturieren, weil du am Abend einen Art Tageserfolg haben willst. Das Wort Tagewerk ist nicht umsonst da. Es können ganz einfache Dinge sein wie Rasenmähen. Aber du musst mindestens drei, vier Punkte benennen, die du zu erledigen hast und wo du eine Struktur hineinbringen musst. Das ist das Rüstzeug für den Tag.“ Der Ex-Politiker nimmt sich heute mehr Zeit für verschiedene Dinge wie Zeitung lesen, Gespräche, zufällige Begegnungen. Da fühlt er sich neu befreit. Aber der selbst strukturierte Tag ist ihm wichtig geworden: „Nix ist, wenn jemand den Tag im Nichtstun abwartet. Du brauchst eine Struktur.“ Aufzählend hält Mitterlehner die Faktoren für ein „neues Leben nach einer tiefgreifenden Entscheidung“ fest: Sich neu berühren lassen, den Tag strukturieren, ein Tagewerk vollbringen, unter die Menschen gehen und sich helfen lassen. „Jetzt kann ich meine Ziele selber stecken.“ Mitterlehner warnt leise, dass in solchen Situation „von selber sich die Dinge nicht lösen. Du musst aktiv in die Zukunft gehen und dein Leben gestalten“. Er hat eine Firma gegründet, um erstens abgesichert zu sein und zweitens sein Netzwerk, das er sich aufgebaut hat, nicht verkümmern zu lassen. Und: Er macht gerne Führungen in der Burg Piberstein in seinem Heimatort. Menschen etwas vermitteln beflügelt ihn.
Fotos: [fkaineder]
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