Die vergessenen Christen im Tur Abdin
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Auf unserer siebentägigen Reise durch den Tur Abdin besuchten wir uralte Klöster und Kirchen, lernten Bischöfe, Äbte, Mönche und Nonnen kennen, feierten Gottesdienste und Gebete in der Sprache Jesu und kamen mit den Christen vor Ort, aber auch mit „Heimkehrern“ in Kontakt. (c) ÖOK
Auch die Familie von Aho Shemunkasho ist in den 80er Jahren nach Deutschland ausgewandert. Aho stammt aus dem kleinen Dorf Beth Debe im Tur Abdin und lehrt heute, nach Studien in Paderborn und in Oxford, Geschichte und Theologie des syrischen Christentums an der Universität Salzburg. Einen besseren Experten gibt es für unsere Studien- und Solidaritätsreise wohl nicht. Wir begeben uns mit ihm und unseren drei weiteren Reisegefährten auf die Spuren der Christen im Tur Abdin. Wir besuchen uralte Klöster und Kirchen, lernen Bischöfe, Äbte, Mönche und Nonnen kennen, feiern Gottesdienste und Gebete in der Sprache Jesu und kommen mit den Christen vor Ort, aber auch mit „Heimkehrern“ in Kontakt. Eine bewegte Geschichte und viele Wunden zeichnen das Gebiet und die Menschen dort aus – auch heute noch.
Das Kloster Mor Gabriel in der Abendsonne. Das Kloster ist der Sitz des Erzbischofs des Tur Abdin Timotheos Samuel Aktas. (c) ÖOK
Dass der Tur Abdin ein umkämpftes Gebiet ist und eine schwierige Geschichte hatte und noch immer hat, wird uns auf unserer Reise immer wieder bewusst. Auf den Wegen zu den Klöstern treffen wir immer wieder auf Wachtürme des türkischen Militärs. Wir sehen die stark bewachte Mauer und den Stacheldrahtzaun entlang der syrischen Grenze, die aktuell nicht passierbar ist. Ein Gedanke prägt sich ein: Wir sind auf dieser Reise ganz sicher gut bewacht.
Zu Besuch bei Timotheos Samuel Aktas, Erzbischof des Tur Abdin, im Kloster Mor Gabriel. Peter Bohynik und Sr. Christine Rod überreichen ihm ein Bildband über die Klostertradition in Österreich. (c) ÖOK
Auf den Spuren der Anfänge des Christentums
Der Tur Abdin ist das spirituelle und kulturelle Zentrum des syrisch-orthodoxen Christentums, mit einer unglaublich lebendigen Vergangenheit, von der heute kaum mehr etwas übrig ist. Auf unserer Reise können wir weit in die Geschichte des Christentums zurückblicken – auf Kirchen und Klöster, deren Geschichte bis ins 3. oder 4. Jahrhundert zurückreicht.
Um 1900 gab es im Tur Abdin rund 200.000 Christen. Der Völkermord 1915 – die syrischen Christen nennen ihn „Sayfo“ (Schwert) – hatte verheerende Folgen, die bis heute spürbar sind. Unterdrückung, Hass gegenüber Christen und der Konflikt zwischen Kurden und Türken taten ihr Übriges. Viele der syrischen Christen ergriffen die Flucht, u.a. gingen sie als Gastarbeiter ab den 1960er Jahren nach Deutschland. Heute leben nur noch rund 2.600 Christen im Tur Abdin. Im Orient wird allerdings in Familien gezählt, so sind es rund 650 christliche Familien in den beiden syrisch-orthodoxen Diözesen „Tur Abdin“ und „Mardin“. Nicht selten lebt nur eine christliche Familie in einem Dorf. Die überwiegende Mehrheit der syrisch-aramäischen Christen, mehrere Hunderttausend, lebt heute im Ausland. Viele kommenden alljährlich für Wochen oder Monate in ihre alte Heimat zurück und schicken großzügige finanzielle Unterstützung.
Uralte, wunderschöne Kirchen und gepflegte, gut bewirtschaftete Klöster stehen auf unserem Reiseplan. Sie zeugen von jahrhundertealter Tradition. In den Klöstern treffen wir auf Mönche, Nonnen, Studierende und Gäste. (c) ÖOK
Zu Besuch in den Klöstern des Tur Abdin
Von den einst 80 Klöstern im Tur Abdin sind nur wenige erhalten und bewohnt. Mit viel Einsatz, Engagement von einzelnen Mönchen und Bischöfen aber auch mit Spenden, vorrangig von den ausgewanderten Christen, werden die Klöster renoviert und erhalten.
Uralte, wunderschöne Kirchen und gepflegte, gut bewirtschaftete Klöster stehen auf unserem Reiseplan. Darunter z.B. das Kloster Mor Gabriel, das Herz des Tur Abdins mit dem Sitz von Erzbischof Timotheos Samuel Aktas, das Kloster Mor Augin nahe an der syrischen Grenze, das Mor Yakub-Kloster in Karno und das gleichnamige Kloster bei Salah, Kloster Mor Malke im Izlo-Gebirge oder auch der Sitz von Erzbischof Mor Grigorios Malke Ürek, dessen Kirche in Adiyaman beim Erdbeben im Februar 2023 zerstört wurde.
In Safrangelb sind die Klöster oft gut in der Landschaft eingebettet und nahezu versteckt, von ferne kaum sichtbar. Ein Kloster trägt das wertvolle Gewürz sogar in seinem Namen: Das Kloster Deyrulzafaran, das auf das 5. Jahrhundert zurückgeht. Es beschert uns eine unvergessliche Nacht. Wir dürfen im Kloster übernachten. Ein Gästetrakt mit Mehrbett-Zimmern steht zur Verfügung. Bei über 30 Grad in der Nacht schläft aber kaum jemand im Zimmer. Die meisten von uns nehmen sich ihre Matratze und übernachten auf der Terrasse. So verbringen auch wir eine Nacht unter dem Sternenzelt. Einschlafen mit dem Blick zu Millionen Sternen und gekühlt von einer Brise Wind, das bleibt wohl unvergessen. So bekommt der Begriff eines Sterne-Hotels gleich eine ganze andere Bedeutung.
Oft werden die Klöster nur von einem Mönch bewohnt. Hier im Kloster Deyrulzafaran, das auf das 5. Jahrhundert zurückgeht. v.l.: Aho Shemunkasho, Georg Pulling, Christine Rod, Thiemo Pree, ein Mönch von Kloster Deyrulzafaran, Andreas Kickinger, Renate Magerl und Peter Bohynik. (c) ÖOK
Einsame Mönche!?
Eines fällt sehr bald auf: Klosterleben wird im Tur Abdin anders gedacht als bei uns im Westen. Ein Kloster mit nur einem Mönch ist keine Seltenheit. Für uns zuerst unvorstellbar, erklären uns die Mönche mit einer Selbstverständlichkeit, dass sie ja nicht allein seien. Es kommen Gäste, es sind Studenten hier, die Aramäisch lernen, und in vielen Klöstern leben auch Nonnen.
Wir treffen auf Mönche und Bischöfe mit teils sehr harten Lebensgeschichten – von Verhaftungen und Gefängnisaufenthalten, von Landraub und Gerichtsverfahren, die sich ewig hinziehen, von durch Erdbeben zerstörten Kirchen wird uns erzählt. Doch anders als vermutet, strahlen die Menschen hier Freude und Lebensenergie aus. Ein christliches Volk, das nicht aufgibt, das für sich und seine Identität einsteht – komme was wolle!
Die Christen im Tur Abdin beten in der Sprache Jesu: Aramäisch/Syrisch,„Turoyo“ genannt. (c) ÖOK
Beten in der Sprache Jesu
Die Tradition wird im Tur Abdin hochgehalten, die Menschen sind tief mit ihrem Glauben und ihrer Heimat verwurzelt. Wir treffen auf unserer Reise zahlreiche junge Menschen, die sich mit dem Glauben und ihrer Heimat stark identifizieren. Junge christliche Frauen und Männer studieren in Klöstern die Sprache Jesu – Aramäisch/Syrisch, „Turoyo“ genannt – um die Psalmen und Gebete mitsingen zu können. Im Gebet wechseln sich zwei Chöre ab, es ist ein rhythmisches Hin und her, das einen – auch wenn man die Sprache nicht versteht – in den Bann zieht und in einen meditativen Zustand versetzt. Für uns nahezu unglaublich: Da singen junge Männer und Frauen in der Sprache Jesu. Eine tiefgehende Erfahrung.
In den Dörfern und Klöstern werden Kinder und Jugendliche unterrichtet – manchmal täglich am Nachmittag, manchmal als Sonntagsschule nach dem Gottesdienst. Es sind Kinder und Jugendliche aus aller Welt, die mit ihren Eltern im Sommer in ihre Heimat zurückkommen. Kinder, die im Sommer freiwillig die Schulbank drücken? Ja, das gibt es! Anfangs etwas ungläubig, beginnen wir zu verstehen, dass nur so die Identität, der Glaube, die Sprache lebendig gehalten werden können. Und die Kinder und Jugendlichen haben sichtlich Freude daran. Auch der Sohn unseres Reiseleiters Aho war erst vor kurzem für mehrere Wochen im Kloster Mor Gabriel – einerseits, um sich auf seine Medizinaufnahmeprüfung in Wien vorzubereiten, andererseits, um seiner Familientradition treu zu bleiben und sein Aramäisch aufzufrischen.
Kinder und Jugendlichen aus aller Welt, die im Sommer mit ihren Eltern zu Besuch in der Heimat Tur Abdin sind, lernen in der Sommerschule Aramäisch. (c) ÖOK
Wenn Chai und Gurken für Gastfreundschaft stehen
Gastfreundschaft wird großgeschrieben. Und die Freude über unseren Besuch ist überall deutlich spürbar. Wo wir auch hinkommen, wird uns Chai (Schwarztee) oder türkischer Kaffee serviert, und – weil sie gerade reif sind – Snackgurken und Wassermelonen aus dem eigenen Garten. Gastfreundschaft erleben wir auch bei einem Begräbnis, zu dem wir eher zufällig dazustoßen. Als Fremde kommen wir an, als Freunde verlassen wir die Zeremonie. In der Kirche sorgen sich die Frauen sofort um Plätze für uns Frauen und reichen uns Wasser. Wir werden zum geselligen Beisammensein nach dem Begräbnis eingeladen, bei Chai und Trauben kommen wir mit den Menschen ins Gespräch. Viele leben in Deutschland oder in der Schweiz, und wir werden in nahezu perfektem Deutsch angesprochen. Der Verstorbene ist nach Deutschland ausgewandert, begraben wurde er aber jetzt in seiner Heimaterde. Zwei junge Männer aus Deutschland sprechen uns an. Auch sie sind wegen des Begräbnisses hier und bleiben ein paar Wochen in „ihrer Heimat“ Tur Abdin – erzählen sie mit voller Überzeug, obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Sie freuen sich über den seltenen Besuch aus dem Westen und sind neugierig, was wir hier machen. Den Stolz auf ihre Heimat, auf ihre Wurzeln und auf ihren Glauben hört man in jedem einzelnen Wort.
Von Ordensfrau zu Ordensfrau. Sr. Christine Rod im Gespräch mit einer Nonne in der vom Erdbeben im Februar 2023 stark betroffenen Stadt Adiyaman. (c) ÖOK
Erfüllt und nachdenklich zurück in Österreich
Nach sieben ereignisreichen Tagen kehren wir müde, aber erfüllt nach Österreich zurück. Eine Reise, die sowohl kulturell, spirituell und auch menschlich eine ganz besondere und einmalige Reise in unserem Leben bleiben wird. Wir haben Menschen kennen gelernt, die sich nicht entmutigen lassen, wir haben Klöster gesehen, die hunderte von Jahren alt sind und – zwar anders als früher – nach wie vor lebendig sind, aber wir haben auch vieles gesehen und erlebt, das uns nachdenklich und auch ein wenig besorgt zurücklässt. Welche Perspektiven und Zukunft haben die Christen im Tur Abdin? Gelingt es, den Glauben, die Kultur und die Identität auch im fernen Ausland, in einer ganz anderen Umgebung zu bewahren? Und was können wir von den Christen im Tur Abdin lernen?