P. Mykhailo Stanchyshyn: Hoffnung und Widerstand im Krieg
Jesuitenpater Mykhailo Stanchyshyn: Unermüdlicher Einsatz für die Menschen inmitten von Krieg und Zerstörung. (c) ÖOK/emw
Vom Schock zum Einsatz: Hilfe in Charkiw
Am Morgen des 24. Februar 2022, als Russland die Ukraine angriff, befand sich der aus Lemberg stammende Pater Mykhailo bei Exerzitien mit einer Gruppe Gläubiger. „Der Krieg kam plötzlich und veränderte alles“, erinnert er sich. Bereits in den ersten Tagen entschloss er sich, den Menschen in den am stärksten betroffenen Regionen beizustehen. Sein Weg führte ihn nach Charkiw, eine der schwer getroffenen Städte, nur 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
Sechs Monate blieb er in der verwüsteten Stadt. „Dreimal die Woche fuhren wir mit Hilfsgütern durch die Stadt: Kleidung, Medikamente, Nahrung für Kinder und Hygieneartikel.“ Vor dem Krieg war Charkiw eine blühende Stadt mit 1,8 Millionen Einwohnern. In den ersten drei Wochen des Krieges flohen 1,5 Millionen Menschen, zurück blieben jene, die nicht fliehen wollten – oder konnten.
Bombenalarme als täglicher Begleiter
„Die Bombenalarme kamen oft erst nach den Einschlägen“, berichtet er. Schutz suchte er, wie die meisten Bewohner, in Kellern. Doch während einige nach einiger Zeit zurück in den Alltag fanden, blieben andere monatelang im Untergrund. Besonders die Gesichter der Kinder, die von Dunkelheit und Angst gezeichnet waren, prägen seine Erinnerungen. „Viele Kinder fingen mit zehn oder zwölf Jahren wieder an, ins Bett zu machen, weil sie ständig Angst hatten.“
„Viele Kinder fingen mit zehn oder zwölf Jahren wieder an, ins Bett zu machen, weil sie ständig Angst hatten.“
Das Kreuz vor der Kirche: Symbol der Kraft für die Menschen, die dort Hilfe bekommen. (c) privat
Ein einfacher Gegenstand wurde für Pater Mykhailo zu einem Symbol der Hoffnung: Ein Holzkreuz vor seiner Kirche. „Ich stellte mir vor, dass Jesus tagsüber vom Kreuz herunterklettert, um durch meine Hände den Menschen zu helfen. Dieses Bild hat mir Kraft gegeben.“
Angst und ein zweiter Geburtstag
Am 11. April 2022 um 18:27 explodierte eine Bombe direkt vor seiner Wohnung. Ein parkender Mini-Van rettete ihm das Leben. „Seitdem feiere ich diesen Tag als meinen zweiten Geburtstag.“ Die Anspannung, die er während seines Aufenthalts in Charkiw erlebte, spürte er erst auf der Rückfahrt nach Lemberg. „Ich merkte, in welcher Gefahr ich tatsächlich war.“ Bis heute leidet er unter Schlafstörungen.
Geistliche Begleitung und die Last des Krieges
Nach seiner Rückkehr nach Lemberg nahm Pater Mykhailo seine Arbeit als geistlicher Begleiter und Exerzitienleiter wieder auf. Besonders seine Arbeit mit rund 200 Müttern, die drei oder mehr Kinder haben, verdeutlicht ihm das tiefe Leid, das der Krieg verursacht.
„Eine Mutter sagte zu mir: ‚In was für einer Zeit leben wir eigentlich, dass eine Mutter sich freut, eine Leiche begraben zu können?‘“ Oft erhalten Familien nur eine knappe Nachricht über den Tod ihrer Männer, Väter oder Söhne. Eine andere Frau erzählte ihm, dass sie ohne ihre kleinen Kinder keinen Grund mehr zum Weiterleben hätte. „Ich höre zu, bleibe bei ihnen und wische die Tränen ab“, erzählt er.
„In was für einer Zeit leben wir eigentlich, dass eine Mutter sich freut, eine Leiche begraben zu können?“ P. Mykhailo Stanchyshyn
Die Zahlen des Krieges: Über 70.000 ukrainische Soldaten sind gefallen, 300.000 weitere wurden so schwer verwundet, dass sie nicht mehr kämpfen können. „Im Westen denkt man oft an die getöteten Zivilisten. Ich denke oft an die getöteten Soldaten. Es sind meine Brüder, die ihr Leben für unsere Freiheit gegeben haben.“
Am Friedhof von Lemberg, den Pater Mykhailo häufig besucht, erinnern mittlerweile 1.000 neue Gräber an die Opfer des Krieges.
1.000 neue Gräber gibt es am Friedhof in Lemberg. Insgesamt sind mehr als 70.000 ukrainische Soldaten im Krieg getötet worden. (c) privat
Reicht die militärische Unterstützung?
„Zu Beginn ja“, sagt Pater Mykhailo auf die Frage nach der westlichen Hilfe. „Doch mittlerweile ist diese so gering, dass die Ukraine sich nur noch verteidigen kann. Die Lebensreserven reichen noch etwa ein Jahr.“
Ein Kampf um Werte
Für Pater Mykhailo ist der Krieg mehr als eine geopolitische Auseinandersetzung. „Es ist ein Kampf um Freiheit, Würde und Demokratie – Werte, die für uns alle wichtig sind.“ Besonders beeindruckt ihn der unerschütterliche Wille der Ukrainer. „Putin will, dass das Ukrainische aufhört zu existieren. Aber er hat sich verschätzt. Die Ukraine lebt – und kämpft.“
„Putin will, dass das Ukrainische aufhört zu existieren. Aber er hat sich verschätzt. Die Ukraine lebt – und kämpft.“ P. Mykhailo Stanchyshyn
Obwohl er den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj nicht immer unterstützt hat, erkennt er dessen Verdienste im Krieg an: „Er ist geblieben. Und er hat uns internationale Unterstützung geholt.“
Bis heute gelangen Hilfslieferungen aus Europa an die Menschen in der Ukraine. (c) privat
Putin und Europa
Für Pater Mykhailo hat der Ukrainekrieg auch Wurzeln in Europas Umgang mit Russland in den vergangenen Jahrzehnten. „Die heutige Situation ist auch eine Folge davon, dass Europa Putin hofiert hat“, sagt er. Als Beispiel nennt er den ehemaligen deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder, der Putin nach den Tschetschenienkriegen als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete. „Solche Aussagen haben Putin in seinem Handeln bestärkt. Jetzt erleben wir, wohin das führt.“ Russisches Gas und Öl dürfen nicht die Werte Europas sein. Er wünscht sich ein Umdenken Europas.
Kritik am Papst
Deutliche Worte richtete Pater Mykhailo an den Papst in einem offenen Brief, den er auf Facebook veröffentlichte. Darin kritisierte er dessen Aufruf zur Versöhnung als verfrüht. „Wer von Versöhnung spricht, sieht die frischen Wunden nicht, die täglich gerissen werden. Die Mutter, die ihren Mann und den Vater ihrer Kinder begraben hat, will keine Versöhnung hören, wenn keine Reue gezeigt wird. Die Ukraine wurde aus dem Nichts angegriffen – und wir sollen uns versöhnen?“ sagt er. Mit dem Brief forderte Pater Mykhailo ein tieferes Verständnis für die Realität in der Ukraine, auch vom Vatikan. Er betonte, dass Versöhnung erst dann möglich sei, wenn echte Reue und Wiedergutmachung stattgefunden hätten.
„Wer von Versöhnung spricht, sieht die frischen Wunden nicht, die täglich gerissen werden. Die Mutter, die ihren Mann und den Vater ihrer Kinder begraben hat, will keine Versöhnung hören, wenn keine Reue gezeigt wird.“ P. Mykhailo Stanchyshyn
Solidarität und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft
Pater Mykhailo: Die internationale Solidarität gibt den Menschen Hoffnung . (c) privat
Trotz der unvorstellbaren Zerstörung sieht Pater Mykhailo Hoffnung. Die internationale Solidarität mit der Ukraine habe Europa gestärkt. Der Widerstand der Ukraine zeigt, dass unsere Werte stärker sind als die Angst."
„Die Ukraine wird existieren. Und die Werte, für die wir kämpfen, werden bleiben.“ P. Mykhailo Stanchyshyn
Seine Botschaft ist klar: „Die Ukraine wird existieren. Und die Werte, für die wir kämpfen, werden bleiben.“ Sein Einsatz inmitten von Leid und Zerstörung erinnert daran, dass Solidarität, Menschlichkeit und Glaube auch in den dunkelsten Zeiten Licht spenden können.