Kinderarbeit erlaubt: Quo vadis Bolivia?
Wir geben eine Stellungnahme von P. Roberto Eckerstorfer zu dieser Gesetzesänderung wieder:
"Als Kind einer Arbeiterfamilie musste auch ich schon arbeiten, bevor ich zehn Jahre alt war. Das Motto meines Vaters: Kinder, ihr sollt wissen, wo das Brot herkommt. Es war zu unserer Zeit ganz selbstverständlich, dass Kinder die Kühe hüten, bei der Roggenernte die Garben in Zahl und Reihe hinlegen, bei der Heu- und Kartoffelernte die Pferde führen mussten, usw. Vielleicht gab es aber trotzdem einen nicht unbedeutenden Unterschied zu den heutigen Kinderarbeiten in Bolivien: Wir mussten nicht die Arbeit von Erwachsenen übernehmen, weil wir von Statur aus weniger Schwierigkeiten hatten bei dieser Arbeit, wie es im Stollen eines Bergwerkes geschieht. Wir wurden zu diesen Arbeiten angehalten, weil sie wenig Kraftaufwand erforderten. Dazu kommt noch ein ganz wesentlicher Unterschied: Wir verrichteten diese Arbeiten in unserer Freizeit. Es handelte sich also nicht um eine „gewerbliche“ Arbeit, und unser Schulbesuch wurde darum niemals beeinträchtigt. Wir waren ein Teil der Familie und darum auch ein Teil der Arbeitswelt. In meinen Gymnasialjahren musste ich während der Ferien als junger Bursch schon schwerere Arbeiten verrichten, weil ich damit den Eltern helfen konnte, mein Studium zu finanzieren. Sporadisch gab es aber auch andere Beispiele von Arbeit. So hatte einer meiner Freunde schon mit 13 Jahren einen von ihm bezahlten „Arbeitskollegen“, der ihm half, Eis zu verkaufen. Beide, Chef und Arbeiter, gingen aber normal zur Schule und – in diesem Fall – beide kamen zum Abschluss eines Universitätsstudiums.
Arbeit als Zeitvertreib?
Eine massive Propaganda in der bolivianischen Presse unterstrich die spontane Initiative der “Unión de niños, niñas y adolescentes trabajadores de Bolivia” (UNATSBO = Vereinigung der Kinder, Mädchen und Jugendlichen Arbeiter Boliviens). Wer bolivianische Verhältnisse kennt, weiß, dass solche „spontanen“ Aufmärsche nicht nur „fast immer“, sondern immer politisch organisiert werden. Ein Schuhputzer könnte sich sonst keine Reise dreimal im Monat zur Versammlung im Departement leisten. Diese Organisation kann von der politischen Opposition ausgehen, wird aber diesmal von der Regierung selbst gesteuert. Der angebliche Grund: um der Ausbeutung der Kinder am Arbeitsmarkt entgegenzuwirken. In der Presse werden Kinder und Jugendliche zitiert, die sich brüsten, die Arbeit freiwillig und mit Wohlwollen zu verrichten, da sie nicht wüssten, was sie nach der Schule tun sollten. Das wirft wieder ein besonderes Licht auf das Schulwesen: Ich hatte Maturanten, die erklärten, sie hätten in ihrem Leben noch nie eine Hausaufgabe gemacht oder eine Stunde Studium absolviert. Dementsprechend ist die Qualität des Schulsystems vieler Schulen. Also ist diese Art von „Zeitvertreib“ kein erstrebenswertes Ziel. Warum also Kinderarbeit? Persönlich glaube ich verschiedene Hauptmotive erkennen zu können. Erstens: Der Lohn ist geringer. Der „Ausrufer“ eines Kleinbusses zum Beispiel ruft die Route des Busses aus und kassiert den zuständigen Fahrpreis von den Passagieren. Würde das ein Mann verrichten, so wäre das ein großer Einkommensverlust. Eine Frau bekommt für dieselbe Arbeit weniger Lohn und ein Kind bekommt noch weniger.
P. Roberto feiert Gottesdienst mit bolivinanischen Kindern
Ein neues Bild von Bolivien?
Die Regierung Boliviens will den äußeren Schein wahren, dass es wenige Arbeitslose gibt. Wenn einer in zehn Tagen auch nur fünf Orangen verkauft hat, gilt er nicht mehr als beschäftigungslos. Außerdem: eine Menge Kinder in den Straßen als Schuhputzer zeigen von einer ebenso großen Menge zerrütteter Familien oder von arbeitslosen Vätern. Wenn man sie aber nun als „neue Kraft am Arbeitsmarkt“ vorstellen kann, so verdecken sie den sozialen Hintergrund, der sie zum Arbeiten zwingt. Von der sozialen Struktur her ist die Kinderarbeit also nicht unbedingt ein erstrebenswertes Ziel. Aber in der jetzigen politischen Konjunktur gibt es meiner Meinung nach noch einen triftigeren Grund: es nur anders zu machen als die anderen, nur um die bolivianische Kultur zu „entkolonialisieren“. Man möchte alles versuchen, um den Einfluss von außen, sei er aus der Vergangenheit oder in der Gegenwart, zu verwischen und zu zeigen, dass man eine eigene Kultur besitzt, die nichts zu tun hat mit der Außenwelt. Es ist dies die typische Position eines pubertierenden Halbwüchsigen… Zu dieser Gattung gehören die meisten, welche die jetzt vorherrschende politische Schicht bilden. Ein untrügliches Zeichen dieser Behauptung sind die Zeiger der Uhr am Parlamentsgebäude in La Paz, die sich seit einigen Wochen nicht nach rechts, sondern nach links bewegen… Es fehlt mir nur noch eines: dass sich die Vertreterinnen der Gruppe „Bartolina Sisa“ (linksradikale regierungstreue bolivianische Frauengruppe) die linke Brust entblößen, nur um es anders zu machen als die Kolonialdamen es machten…
Brutale Realität der Gefängnisse
Auch wenn die öffentliche Presse dem nicht so viel Aufmerksamkeit schenkt, sehe ich persönlich den zweiten Teil dieses Gesetzes viel schlimmer: die Entscheidung, dass ab dem 14. Lebensjahr jeder Jugendliche bereits straffällig ist, genauso wie ein Erwachsener. In Bolivien sind momentan die Gefängnisse vier- oder fünffach überfüllt, mehr als 80 Prozent der Insassen sind ohne gerichtliches Urteil schon jahrelang im Gefängnis. In dieser Situation sehe ich es als ganz schlimm an, dass 14jährige, die einen Fehltritt begangen haben, in diese brutale Realität der bolivianischen Gefängnisse gesteckt werden, statt eine persönliche sozialpädagogische und psychotherapeutische Betreuung in einem kleineren Jugendgefängnis zu erhalten. Wiederum: Wir wollen zeigen, dass junge Bolivianer schon reifer und früher verantwortlich sind für ihre Taten als überall auf der Welt, so die Überlegung der Regierung. Es sind also nicht das Erziehungs- oder das Rechtssystem verantwortlich für diese Gesetzesänderungen. Es ist die Regierung, die der ganzen Welt ein neues Bild von Bolivien vorgaukeln will. Das Resultat dieser Entscheidungen werden wir nicht übermorgen sehen, sondern wir sollten uns auf lange Sicht fragen: Quo vadis, Bolivia?"
Fünf Fragen an P. Robert Eckerstorfer (Video)
Vom 25. bis 26. Juli 2014 findet die diesjährige Fachtagung Weltkirche statt. Sie steht unter dem Motto: „Jugend will Leben.“ Gastgeber ist das Benediktinerstift Lambach in Oberösterreich.