Am 20. Juni ist Weltflüchtlingstag
Kinder holen sich dafür manchmal ein Stückchen Kreide von der Tafel. Dann ziehen sie einen Strich in der Mitte der Schulbank. „Hier ist die Grenze. Das gehört mir. Du bleib mit Deinen Sachen da drüben!“ Das ist die eindeutige Botschaft. So gern die Kinder die Köpfe zusammenstecken, so sehr haben sie auch das Bedürfnis nach ihrem eigenen Feld.
Das gilt nicht nur für die Kinder. Wir alle brauchen einen Platz für uns selbst, für den ganz persönlichen Raum. Grenzen geben Sicherheit, können Freiraum schaffen. Grenzen können auch Klarheit bringen, sich abzugrenzen von menschenverachtenden Aussagen kann zur Gewissensentscheidung werden. Es kann sehr mutig sein, eigene Begrenzungen anzuerkennen, einen Fehler zuzugeben und Versäumnisse einzugestehen. Grenzen gehören zum Leben.
Die Grenzziehung gibt es nicht nur bei den Schulbänken. Bauplätze brauchen sie, ebenso die privaten und öffentlichen Räume, die sakralen und profanen Bereiche. Auch die freie Natur kennt ihre Markierungen. Die Baumgrenze bildet in unseren Alpen einen wichtigen und mahnenden Indikator für die Veränderungen des Klimas. Und natürlich kann ich nicht unerwähnt lassen, dass viele Sportarten ihre ganz spezifischen Grenzen bestimmen, die für die Gültigkeit eines Spiels entscheidend sind. Schließlich gibt es die wirklich wichtige Feststellung
des Schiedsrichters: „Der Ball war hinter der Linie!“ – also im Tor. Über die Richtigkeit wird dann lang diskutiert. Sieg oder Niederlage entscheiden sich an dieser Grenze.
Im Blick auf die grausamen Auseinandersetzungen in unserer Welt will niemand mehr von Sieg oder Niederlage reden. An der Wassergrenze des Mittelmeeres fallen ganz andere Entschei-dungen. Leben und Tod stehen auf dem Spiel. Plötzlich gerät ganz Europa an seine Grenzen. Retten oder ertrinken lassen? Aufnehmen oder ausgrenzen? Grenzen öffnen oder Grenzbalken aufrichten? Grenzbalken oder Grenzzäune, Mauern oder elektrische Stacheldrähte? Gezerre im Kaukasischen Kreidekreis?
Doch einmal war einer, der hielt nicht daran fest, wie Gott zu sein. Er hat sogar die Grenze des Todes gesprengt. Die Grenzen der Liebe auch.
Foto: Katrin Bruder
Aus ON 4/2015. Die ganze Ausgabe des Magazins finden Sie hier.