Eine Chance für Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge
Sie kommen von dort her, wo Krieg und Gewalt herrschen: aus Afghanistan, Syrien, Nigeria, Pakistan, Iran … Sie sind minderjährig, kommen ohne Eltern, flüchten vor Armut und Unterdrückung allein in ein Land wie Österreich, das ihnen wenigstens Schutz und Sicherheit geben kann: Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge (UMF). Allein 2014 sind 2.260 Jugendliche ohne ihre Eltern nach Österreich geflüchtet. Hier gibt es rund 50 UMF-Betreuungsstellen, die sich um die Grundversorgung kümmern, sie beim Asylverfahren unterstützen, für einen strukturierten Tagesablauf sorgen, … Manche haben in ihrer Heimat nie eine Schule besucht, können weder lesen noch schreiben und lediglich ein paar Brocken Englisch oder Deutsch. Sie haben das Recht auf Schulbildung – aber kaum Chancen, in einer Schule aufgenommen zu werden.
Ein Projektversuch
„Wir probieren es mit einem Projekt“, sagten sich Fr. Direktor Gabi Kopetzky und Klassenvorstand Harald Hengl von der privaten Neuen Mittelschule (NMS) der Grazer Schulschwestern in Eggenberg. Die dritten Klassen der Ordensschule luden junge Burschen der UMF Betreuungsstelle Graz aus Nigeria, Pakistan und dem Iran ein, eine Woche lang mit ihnen die Schule zu besuchen und gemeinsam mit ihnen zu lernen. „Wir haben uns in der Vorbereitung mit den Schülerinnen und Schülern genau überlegt: Welche anfänglichen Grundkenntnisse über Österreich, in der deutschen Sprache, beim Rechnen sind für die Jugendlichen hilfreich“, sagt Mag. Hengl. Die SchülerInnen haben daraufhin in Kleingruppen spezielles Arbeitsmaterial erstellt. Ob Jugendliche – noch dazu männliche – überhaupt bereit sein würden, von Minderjährigen Informationen anzunehmen? Bei einem ersten gemeinsamen Vorstellungstreffen wurden diese Zweifel rasch beseitigt. Die Freude auf eine „etwas andere Schulwoche“ war enorm. In den Unterrichtsstunden schlüpften die 12- bis 13-jährigen Schülerinnen und Schüler in die Lehrerrolle. In Kleingruppen mit jeweils einem Jugendlichen übten sie englische Dialoge ein, behandelten mathematische Beispiele und führten Übungen zur deutschen Sprache durch. „Wie erkläre ich einem anderen exakt, was ich weiß? Noch dazu wenn es große sprachliche Hürden gibt? Für die SchülerInnen war das mitunter eine große Herausforderung“, berichtet Mag. Hengl. Aber durch die Begeisterung auf beiden Seiten ließen sich alle Schwierigkeiten schnell überwinden.
Begegnung auf Augenhöhe
Das Schulprojekt sollte aber nicht nur Wissenstransfer als Einbahn bieten – die jungen Burschen haben ihr musikalisches, künstlerisches und sprachliches Können in den Unterricht eingebracht. Gemeinsame Interessen und Vorlieben wurden so entdeckt, Musikbeispiele ausgetauscht. Einige der Jugendlichen haben erstmals vor einer Gruppe über ihre Hobbys gesprochen, ein Bursche hat spontan mit einem Rap begeistert. Aber es wurden auch die Bedrohungen angesprochen, die Anlass zur Flucht aus der Heimat waren. „Es war uns wichtig, dass unsere SchülerInnen Einblick in das Leben eines Flüchtlings erhalten und zu diesem Thema in Zukunft überlegt sprechen und handeln.“ So kam eine Begegnung auf Augenhöhe zustande, ein Geben und Nehmen in angenehmer Atmosphäre – auch so kann Schule und Wissensvermittlung funktionieren! „Ein besonderes Erlebnis war für die SchülerInnen und mich das gemeinsame Essen: Fladenbrote – frisch in der Klasse zubereitet von zwei Pakistani – mit steirischen Füllungen, gemixt und gerührt von Schülerinnen und Schülern der dritten Klassen“, erzählt Mag. Hengl. Und zieht ein äußerst positives Resümee dieses Projekts: „Diese Schulwoche war mehr als Unterricht, sie hat unseren eigenen Horizont erweitert.“
Die Chance eröffnen
„Probieren wir’s“, sagte Sr. Hanna Neissl, die Direktorin des Oberstufenrealgymnasiums (ORG) der Grazer Schulschwestern, als von Seiten einer Betreuungsstelle für unbegleitete Flüchtlinge die Frage an sie heran kam, drei unbegleitete Jugendliche in die Schule aufzunehmen. Auf ihren Vorschlag hin entschied der Vorstand des Schulvereins, die Schüler im Schuljahr 2012/13 in die fünfte Klasse regulär aufzunehmen und in den Schulalltag zu integrieren. Sie wurden auf zwei Klassen aufgeteilt. „Dass das nicht immer einfach war, ist klar“, erzählt Sr. Hanna. Es wurden im Vorfeld Ängste geäußert. Würden die schlechten Deutschkenntnisse der neuen Schüler dazu führen, dass man mit dem Stoff nicht durchkäme? Stört das nicht das geschützte Umfeld und die familiäre Atmosphäre der Ordensschule? Sr. Hanna fasst die Bedenken so zusammen: „Bleiben wir sozusagen eine ,Oase der Seligen‘ für die österreichischen SchülerInnen oder geben wir diesen unbegleiteten Jugendlichen eine Chance?“ Schließlich zahlen die Eltern Schulgeld … Das Schulgeld wurde den unbegleiteten Jugendlichen erlassen, der Stipendienfonds zur Unterstützung bedürftiger Schülerinnen und Schüler kam dafür auf. „Die Lehrerinnen und Lehrer standen letztlich hinter dem Projekt und haben die Jugendlichen so gut es ging unterstützt“, berichtet Sr. Hanna. „Und auch die MitschülerInnen haben sie gut aufgenommen.“ Das hat ihnen geholfen und ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen gegeben. Das beste Beispiel ist Omid Rezai. Omid war ohne Eltern und Geschwister via Teheran aus Afghanistan geflüchtet und hatte seit vier Jahren seine Familie nicht gesehen. In der Schule blühte er richtig auf. Er habe rasch Deutsch gelernt und sei sehr lern- und wissbegierig gewesen, erzählt Sr. Hanna. „Sein offenes Wesen, seine enorme Hilfsbereitschaft und Höflichkeit haben die Klasse und mich sehr beeindruckt“, sagt sie. „Die Schule hat er als eine große Chance gesehen.“ Das ORG der Schulschwestern reichte Omid deshalb beim Landesschulrat der Steiermark für die Auszeichnung „Heldinnen und Helden“ der Schule ein, die er 2012/2013 auch erhielt.
„Ich würde es wieder tun!“
Trotz allem Engagement haben weder Omid noch die beiden anderen Schüler aus dem Iran einen Schulabschluss gemacht. Zwei Burschen sind nur wenige Monate in Österreich geblieben. Einer konnte zu Verwandten nach England ausreisen, ein anderer ist in den Iran zurückgekehrt, er konnte sich hierzulande nicht einleben. Omid war am längsten am ORG der Schwestern: zweieinhalb Jahre. Dann durften seine Mutter und seine zwei kleineren Brüder – der Vater ist verstorben – nachkommen und wurden in der gleichen Betreuungsstätte untergebracht. Als „Mann in der Familie“ hat Omid nun für die Seinen zu sorgen – und einfach keine Zeit mehr für die Schule. Er macht nun eine Lehre zum Metalltechniker. Selbst wenn keiner dieser unbegleiteten Jugendlichen die Schule abgeschlossen hat, Sr. Hanna würde wieder dafür plädieren, solche Jugendlichen aufzunehmen. „Man muss diesen Jugendlichen einfach eine Chance geben. Es ist auch für die Mitschüler/ innen sehr lehrreich. Weil es ihre soziale Kompetenz fördert.“
Foto: Grazer Schulschwestern
Aus ON 4/2015. Das ganze Heft lesen Sie hier.
[hw]