Treffen der AHS und BAKIP der Ordensgemeinschaften Österreich: Menschen wert(e)voll führen
Günther Hoegg: Schüler denken anders als Erwachsene
Günther Hoegg ist nicht nur studierter Jurist (mit Schwerpunkt Schulrecht), sondern arbeitet seit 1981 auch als Lehrer (mit abgeschlossenem Lehramtsstudium in Deutsch und Kunst) in Emden. Seit 2012 ist er außerdem als Dozent für Schulrecht an der Universität Halle tätig. Sein Hauptaugenmerk gilt dem Umgang mit schwierigen Schülerinnen und Schülern (und auch Eltern). Auf der Schultagung erläuterte Tipps und Tricks aus der Schulpraxis: „Es klingt vielleicht banal, muss aber trotzdem deutlich gesagt werden: Schüler denken grundsätzlich anders als Erwachsene oder Lehrkräfte!“
Günter Hoegg: "Es geht nicht darum, Bonbons oder gute Noten zu verteilen, sondern dem Schüler das Gefühl zu vermitteln, als Person geschätzt zu werden." (c) Ordensgemeinschaften Österreich/rs
Günter Hoegg spricht hier aus Erfahrung. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet der ursprünglich studierte Jurist als Lehrer und beschäftigt sich seither damit, wie SchülerInnen denken. Ihr Denken und in der Folge ihr Verhalten sei in hohem Maße durch das geprägt, was sie in den ersten Lebensjahren durch das Verhalten ihrer Eltern verinnerlicht haben. Falls dieses pädagogisch ungünstig sei und rückgängig gemacht werden soll, muss das gewünschte Verhalten sehr häufig wiederholt werden.
Dazu gilt: Das Zeitgefühl von Kinder und Jugendliche ist deutlich anders als das von Erwachsenen. Schülern erscheint die Zeit regelmäßig länger, was immer dann zu Schwierigkeiten führt, wenn Klassenarbeiten angekündigt, Referate vorbereitet oder spätere Konsequenzen angedroht werden.
Keine Bonbons, sondern Wertschätzung
Um das Vergessen aufzuhalten, wäre eine Wiederholung des Unterrichtsstoffes am nächsten Tage die beste Möglichkeit, was aber aufgrund des Stundenplans meist nicht möglich ist.
Die zweitbeste Möglichkeit besteht deshalb darin, zum Anfang einer jeden Stunde das zu wiederholen, was in der letzten Stunde behandelt wurde. „Als Faustformel kann sich merken, dass Unterrichtsinhalte oder Verhalten mindestens zehnmal wiederholt werden müssen, damit sie fest im Gedächtnis verankert bleiben“, weiß Günther Hoegg, „und wenn das zu Lernende in eine besonders einprägsame Form wie z.B.in einen Reim oder ein Bild präsentiert wird, wird das Behalten deutlich erleichtert.“
Der wichtigste Zugang zum Gehirn eines Schülers wird jedoch über positive Emotionen eröffnet. Hoegg: „Es geht nicht darum, Bonbons oder gute Noten zu verteilen, sondern dem Schüler das Gefühl zu vermitteln, als Person geschätzt zu werden.“
Man dürfe Schülern auch nie das Gefühl zu vermitteln, eine Sache sei (z.B. durch die Klassenarbeit) abgeschlossen; das Gelernte wird so sofort in die unterste Gehirnschublade ablegt.
Auch der wohlmeinende Hinweis, der jetzt zu vermittelnde Lernstoff sei ganz leicht, erzeugt genau den gegenteiligen Effekt. „Schüler suchen die Herausforderung“, berichtet Günther Hoegg aus seiner Erfahrung. „Die Äußerung, etwas sei ganz leicht, wirkt in hohem Maße demotivierend.“
„Prime time“, in der die Schüler besonders aufnahmefähig seien, sei jeweils der Beginn der Unterrichtsstunde. In schwierigen Klassen ist es deshalb besonders wichtig, die Unterrichtsstunde ruhig, arbeitsorientiert und klar strukturiert zu beginnen.
Classroom-Management
Das Zauberwort heiße „Classroom-Management“, also die Möglichkeiten, schulische Abläufe zu standardisieren wie z. B.: das Aufstehen zum Unterrichtsbeginn oder das Nachreichen vergessener Hausaufgaben. Aus der Fülle der Beispiele sei hier nur auf das Zuspätkommen von Schülern eingegangen. Sinnvoll es ist, für solche Fälle ein standardisiertes Verfahren anzuwenden, das dem zu spät kommenden Schüler keine besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt. Anstatt wortreicher mündlicher Erklärungen sollte die Lehrkraft ein vorbereitetes Formular hinlegen, auf dem der Schüler das Datum und das Ausmaß seiner Verspätung einträgt sowie den Grund für sein Zuspätkommen schriftlich erklärt. „Classroom-Management ist in Bezug auf Schüler umso wirksamer, je mehr Kollegen sich auf bestimmte Abläufe verständigen und sie einheitlich anwenden“, so Günther Hoegg.
Mehr Info: Homepage von Dr. Günther Hoegg
Günter Funke: Zeichen setzen - wert(e)voll führen
Günter Funke ist nicht nur Theologe, sondern auch Existenzanalytiker und Logotherapeut (persönlicher Schüler Viktor E. Frankls). Seine „Personale Pädagogik“ meint eine Pädagogik, die Bildung ermöglicht, indem sie genügend Zeit und Raum für bildende Erfahrungen und für die personale Entfaltung des Menschen in den Mittelpunkt stellt.
Günter Funke: "Gerade katholische Privatschulen haben die Möglichkeit, auch ein wenig ein anderes System zu kreieren." (c) Ordensgemeinschaften Österreich/rs
"Schule ist ein System. Und eingebunden sein in ein System macht es unmöglich, wirklich Personal zu begegnen, weil das Personale immer das System übersteigt", beginnt Funke seinen Vortrag auf der Schultagung. "Sinn und Werte ist ein zutiefst personales Thema. Wir müssen immer auf das System schauen, in dem wir agieren, und müssen uns fragen, hat das System selbst genügend Raum, Empathieraum, Resonanzraum für das Personale." Die Gefahr sei, dass man sich als Lehrperson aufreibe, weil man zwischen Anforderungen des Systems steht und gleichzeitig der eigenen Intuition folgen möchte, als Person mit einer anderen Person, mit Schülerinnen und Schülern, mit Kolleginnen und Kollegen, mit Eltern zu kommunizieren und ihnen so zu begegnen.
Das sei schwierig, seit PISA immer mehr in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt wurde. Unter Bildungsexperten ist es keine Frage mehr, PISA ist eine Katastrophe. Man könne sich zwar darauf verständigen und sagen: Man kann jetzt Leistung messen, man kann Vergleichtests machen. Es gibt einen Vergleichstest, der für alle gilt; allein das ist Apersonal, wenn Person sein bedeutet, wir sind individuell und einzigartig. Alles Elend beginnt mit dem Vergleich. Aus dem Vergleich entsteht der Neid, aus dem Vergleich entsteht die Relativierung, die Gleichgültigkeit. Es muss alles gleich gültig sein, und dann ist es einem auch schon gleichgültig – wie es der Person geht. Wenn das Ergebnis auf das Funktionieren reduziert wird, hat man die Person zutiefst verletzt.
"Gerade katholische Privatschulen haben die Möglichkeit, auch ein wenig ein anderes System zu kreieren", betonte Funke, und weiter: "Mir ist klar, wir sind eingebunden in die Schulgesetzgebung, trotzdem würde ich mir sehr viel mehr Kreativität wünschen. Dass der Person-Sein doch der Vorrang gegeben wird gegenüber dem Funktionieren."
Mensch als Person zu sehen ist elementar christlich
Natürlich lässt sich leicht sagen, im Mittelpunkt steht der Mensch, doch dann kommen die formalen Dinge. Doch die Person, den Menschen in den Mittelpunkt zu stelln, das sei das elementar Christliche. Alles andere ist in der christlichen Religionsgeschichte vergleichbar. Aber den Menschen als Person zu sehen, ihm eine eigene Würde und einen Vorrang vor dem Allgemeinen zu geben, das ist zutiefst christlich. Man müsse immer wieder aufpassen, dass der Mensch nicht funktionalisiert wird, um Systeme zu bedienen, damit sich diese Systeme dann gut finden. Funke wörtlich: "Wir können nicht die Schülerinnen und Schüler hernehmen, um sie dem System PISA zuzuführen und zu opfern."
Angst aktiviere bekannte Muster. Im Moment sei die Angst ein unheimlicher Aktivator für Leistungsprozesse. "Wenn die Angst zum politischen Kontext dazu passt, dann kann man die Angst sehr wohl instrumentalisieren, um eigene politische Konstellationen zu etablieren", sagte Funke. "Aber so geht das nicht. Wir merken schon seit geraumer Zeit: In Mitteleuropa ist eine Erosion der Werte im Gange. Es ist uns langsam weggerutscht unter den Füssen. Wer sensibel war hat das lange gemerkt, und deshalb überrascht mich auch die Flüchtlingssituation gar nicht, und sie bringt es auch auf den Punkt. Sie bringt auch die Hohlheit auf den Punkt."
Es seien die Lehrkräfte, die dafür sorgen müssten, dass unsere Kinder so ausgestattet werden, dass sie diese "Insel" verteidigen können. Denn Kinder sind mittlerweile vom Burnout bedroht. Eine Umfrage unter Eltern zeigt: Ein hoher Prozentsatz nimmt heute bewusst psychische Schäden und Schwierigkeiten der Kinder in Kauf, nur damit sie in der Leistung nicht nachgeben. Die Psyche kann man ja später wieder reparieren. Das hat sich im Denken etabliert. Leistung ist das Wichtigste. Und man muss die vorgegeben Leistungen im Sinne der Benotung erreichen, koste es was es wolle. Eltern setzten da die Schule ziemlich unter Druck, aber sie sind selber getrieben von der Angst. "Denn sie haben keine anderen Werte hat als das Glück über materiellen Wohlstand", formulierte es Logotherapeut Funke. "Dieses Glück durch Wohlstand ist letztendlich eine Kompensation des Sinnlosigkeitsgefühls. Aber Kompensation heißt: Ich brauche das wie mein Suchtmittel. Nehmen Sie einem Süchtigen das Suchtmittel, da wird kriminelle Energie frei, weil man ohne dieses Suchtmittel nicht leben kann."
Das Leistungsprinzip habe natürlich damit zu tun, dass wir in der modernen Gesellschaft leben. Doch moderne Gesellschaften seien darauf ausgelegt, dass sie nur weiterbestehen können, wenn sie fortwährend auf Wachstum, auf Beschleunigung und auf Innovationsverdichtung setzen. Und sie müssen diesen Prozess permanent dynamisieren, d.h. dieser Prozess muss auch immer schneller gehen, damit ein Level erhalten bleibt. "Wir haben uns längst davon verabschieden müssen, dass bei aller zunehmenden Dynamisierung noch eine Steigerung zu erwarten wäre", sagte Funke. "Wir können nichts mehr steigern. Wir können nur noch mit immer mehr Mühe den Level halten. Jeder hat verstanden, dass ein Model, das nur auf Wachstum ausgerichtet ist, nicht über Jahrhunderte laufen kann."
Bildung hatte ein Versprechen: Dass es dir besser geht! Du konntest durch Bildung Freiheit erwerben; Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung. Das gehörte zusammen. Bildung führte zur Selbstbestimmung. Selbstbestimmung führte zu Freiheit. Es war ein Stehsatz der früheren Generationen: Dir soll es mal besser gehen als uns! Und es ist auch gelungen.
Der katastrophische Abgrund hinter uns
Jetzt seien wir in der schwierigen Phase, dass es nicht mehr weitergeht. Diese ganze Wachstumsphilosophie greift nicht mehr. Doch wir haben heute nicht mehr die Erwartungen, dass es den Kindern einmal besser gehen wird als uns selbst. Ganz im Gegenteil: Wir hoffen, dass die Krisen nicht ganz so schwer werden, dass die Standards einigermaßen zu halten sein werden. Dabei ist aber klar, dass das nur möglich ist, wenn individuell als auch kollektiv noch mehr Energien mobilisiert werden, um Wachstum, Beschleunigung und Innovation anzutreiben. Die Fragen werden sein: Wie sollen wir das schaffen? Wie sollen das unsere Kinder schaffen? Und wir wissen von vielen jungen Leuten: In dieses Hamsterrad will ich nicht hinein. Weil es schlicht und einfach keinen Sinn hat, weil dahinter kein Wert zu finden. Funke zitierte dazu den deutschen Soziologen und Politikwissenschaftler Hartmut Rosa: Wir Heutigen laufen nicht mehr auf ein verheißungsvolles Ziel vor uns zu, sondern vor dem katastrophischen Abgrund hinter uns davon. Wir seien gar nicht zukunftsorientiert; wir wollen nur nicht wahrhaben, was uns einholen wird.
Bildung ist die Frage, in welchem Geist werde ich die Fertigkeiten, die ich gelernt habe, einsetzen? Wer aber formt den Geist junger Menschen? Bei diesem Überangebot von Informationsinhalten in der Schule bleibt für Bildung überhaupt keine Zeit mehr.
Ob Schüler von Werten berührt werden hat mit dem Unterrichtsstoff, vor allem aber mit der Lehrperson zu tun. Wir als Lehrpersonen sind der Schlüssel. Das heißt nicht, immer nur nett und freundlich und ein Kumpel für die Schüler sein. Sie müssen aber spüren, in welchem Geist lebe ich. Ist das mein Credo: Der Mensch steht im Mittelpunkt. Der Mensch ist Person; der Mensch als Person hat Vorrang – immer! Vor allem! Das gilt auch theologisch. Nimmt die Kirche den Menschen ernst, muss sie viele ihrer Dogmen ändern.
Mit Pauken macht man keine guten Abschlüsse
Eigentlich ist Schule ein wunderbarer Ort mit fantastischen Inhalten, gewachsen über viele Tausend Jahre der Menschheitsgeschichte. Das dürfen wir Kindern vermitteln. Funke: "Ich glaube, dass es ganz wichtig ist, dass wir die jungen Menschen hinführen zu einem ganz stabilen Selbstvertrauen, zu einem ganz stabilen Selbstwert. Der sich auch noch etablieren kann als Grundwert. Selbstvertrauen leitet sich nie von Wissen ab. Mit Pauken macht man keine guten Abschlüsse. Ich weiß, dass viele junge Menschen sehr verunsichert aus der Schule gehen, weil sie sich ihrer selbst nicht gewiss sind."
Jeder von uns ist ein Individuum, hat eigene Werte. Werte kann man aber nicht normieren. Das ist der Unterschied zwischen Wert und Norm. Werte sind wie ein Instrument. Deshalb ist es wichtig, Werte wie ein Instrument immer wieder neu zu stimmen und sich fragen: Wie klinge ich eigentlich? Das funktioniert aber nur, wenn es uns gelingt, die Schule mit all ihren Forderungen draußen vor zu lassen, mit all ihren formalen Anforderungen. Funkes fazit: "Man muss sich fragen: Wer bin ich in der Schule ohne diesen formalen Hintergrund. Wenn ich das, was ich inhaltlich an Wissen zu vermitteln habe, durch meine Werthaftigkeit hindurch laufen lasse, dann kommt das bei den Schülerinnen und Schülern auch an."
Der gesamte Vortrag von Günter Funke als MP3-File zum Download bzw. zum Anhören: 2016_01_12_g_funke.mp3 52.00 MB
[rs]