Alles ist hoch politisch
Julianna Fehlinger hat Soziale Ökologie in Wien studiert, ist Geschäftsführerin der Österreichischen Berg- und Kleinbäuer_innenvereinigung (ÖBV), hat selber drei Jahre einen Bauernhof bewirtschaftet und war mehrere Jahre im Vorstand von ATTAC Österreich. Sie wurde medial bekannt als „Dirndl- Aktivistin“ gegen den 12-Stunden-Tag bei der PR-Wanderung von Sebastian Kurz. Foto: © Ferdinand Kaineder
„Treiber für die wachsende Ungleichheit ist die Wirtschaft selber und die jetzige Regierungspolitik. Der Wert der grenzenlosen Nächstenliebe steht dem Mechanismus der gezielten Ausgrenzung entgegen. Die Erhöhung des Drucks in der Arbeitswelt steht gegen tragende soziale Beziehungen, gegen das achtsame gemeinschaftliche Leben und nimmt gemeinsamen Entscheidungsprozessen den Boden - die Zeit. ATTAC holt die wirtschaftlichen Ungleichheiten vor den Vorhang und will eine Vorstellung, ein Bild davon vermitteln, was dazu führt. Mit unserer Bildungsarbeit wollen wir Handwerkszeug vermitteln, wie wir uns aktiv wehren und dagegen stellen können. Entgegen einem allgemeinen Unwohl-Sein wollen wir verstehen, wie beispielsweise das Bankenwesen oder Machtverhältnisse im Agrarsektor funktionieren. Es ist eine Selbstermächtigung, um nicht in Verschwörungstheorien abzugleiten. Kurz: Wir können etwas tun, um den Konzerninteressen und der Politik, die diese unterstützt nicht ausgeliefert zu sein. Wir wollen die Interessen der Bevölkerung zusammenschließen und zeigen, dass ein gutes Leben für alle möglich ist. Hier setzt unser Tun an, um konkret in diese Vision zu kommen.“ So erklärt die ATTAC-Aktivistin die Zielsetzung, um gleich anzuhängen: „Und jede und jeder kann sich aktiv beteiligen. Dafür gibt es die vielen Regionalgruppen.“ Sie selber ist Mitglied in der Wiener Gruppe.
Vielfalt und gegen Ausgrenzung
Auch in der Österreichischen Bergbauernvereinigung, die über eintausend Mitglieder zählt, ist soziale und ökologische Vielfalt das Thema: „Wir wollen Vielfalt stärken, dörfliche Strukturen und regionale Wirtschaftskreisläufe etablieren, Produzenten und Konsumenten nachhaltig zusammenführen. Das braucht genauso eine Offenheit jenen Menschen gegenüber, die nicht in traditionelle Bilder passen.“ Gerade die Ausgrenzungsmechanismen waren Geschäftsführerin Fehlinger immer eine besondere Herausforderung, „weil das auch gegen das religiöse Verständnis von Nächstenliebe steht. Menschen sind vielfältig und dürfen das auch sein. Da darf niemand ausgegrenzt werden.“
Mehr soziale Teilhabe
Es braucht heute nicht ein Mehr an Gütern und schon gar nicht ein „unendliches Wachstum an materiellen Gütern, die unseren Planeten zerstören.“ Was es braucht, ist ein „Wachstum an sozialen Beziehungen, eine tiefe Achtsamkeit und sozialen Zusammenhalt. Es braucht ein Mehr an sozialer Teilhabe“. Und genau hier gilt es zu lernen, „wie es ein Mehr an gemeinsamem, einfacherem Leben und Respekt voreinander geben kann“. Aktuell sieht sie in der Politik der Regierung das Gegenteil von „sozialer Teilhabe“. Hinausdrängen, Ausgrenzen und Beschuldigen stehen im Vordergrund: „Ganz viele Menschen unser Gesellschaft werden derzeit in die Armut gedrängt, ausgeschlossen, werden kriminalisiert oder als ganze Gruppen diffamiert.“ Diese „soziale Spaltung“ wird uns in Zukunft noch unglaublich viele Probleme machen. Die Gesellschaft schafft es nicht, den essentiellen Fragen nachzugehen, sie zu stellen. „Wir sind irgendwie gelähmt von der Angst vor Veränderung, vor Verlust. Diese Angst wird bewusst vergrößert, bewirtschaftet. Menschen machen zu. Scheuen das Fremde.“
Auf dem Teller politisieren
Fehlinger erzählt von ihrer „inneren Wut“ diesen Umständen gegenüber. Sie erzählt im selben Atemzug von der befreienden Wirkung ihrer „konkreten Aktion beim Kurz-Wandertag, wo es ihr gelungen ist, die PR-Show zu zerstören. Noch nie bin ich mir so wirkungsvoll vorgekommen.“ Es gilt, die Ohnmacht abzulegen und kreativ Interventionen zu setzen. „Und der Humor und das Schmunzeln dürfen nicht fehlen.“ Das Foto mit ihrer gehobenen Schürze mit den durchgestrichenen 12h ist über Österreich hinaus medial bekannt geworden. „Die PR-Inszenierung war entlarvt. Es war eine Medienaktion wie die Wanderung selber. Und der 12-Stundentag geht unter die Haut.“ Aber nachdenklich: „Die PR-Show der Regierung scheint zu funktionieren.“ Szenenwechsel hin zum Esstisch. Der ganz kleine persönliche Bereich: „Essen ist immer ein ganz persönlicher Zugang. Wir tun es mehrmals täglich und kaum jemand fragt nach, was wir essen und von wem es wie hergestellt wird. Das alles, was sich auf unseren Tellern abspielt, ist hoch politisch. Auf unseren Tellern können wir verfolgen, was sich gesamtgesellschaftlich verändert. Die Lebensmittel werden immer gleichförmiger. Vielfalt stirbt, der Geschmack schwindet. Das geht einher mit einer unglaublichen Machtkonzentration im Lebensmittelbereich, ähnlich dem Öl- und Bankensektor.“ Fehlinger ist wichtig: „Ich will aber nicht moralisieren, sondern Zusammenhänge sichtbar machen, damit ich selber entscheiden kann. Essen ist ein großes Thema, in jedem Fall ein politisches Statement.“
Foto: © Attac
Jeder ist Experte, jede eine Expertin
Angesprochen auf die Enzyklika „Laudato si“ und den Paradigmenwechsel vom technokratischen hin auf das sozial-ökologisch-spirituelle Welt- und Menschenbild: „Das Spirituelle verbinde ich mit Sinn, Lebenssinn. Und das richtet mich auf, gibt mir die Hoffnung auf Veränderung, ist ein extrem wichtiger Antrieb. Ohne spirituelle Dimension finden wir nicht die Kraft, uns für ein gutes Leben einzusetzen. Es ist wie das Öffnen der inneren Türen. Das ist der tiefste Antrieb des Menschen.“ Fehlinger lässt keinen Zweifel, dass die Freude an der Aneignung der Welt in der achtsamen Haltung eine ganz tiefe Motivation ist. „Jeder und jede ist Experte und Expertin für den eigenen Lebensbereich. Genau deshalb braucht es die Demokratisierung aller Lebensbereiche, damit keine Expertise verloren geht. Um aus dem Schlamassel (Klimawandel, soziale Ungleichheit, Ausgrenzungen) herauszukommen, gilt es nicht einem ‚Heilsversprecher‘ nachzulaufen, sondern Beteiligungsprozesse zu ermöglichen, das Beteiligen anzuregen und zuzulassen.“
Foto: © Attac
[fkaineder]