Flussabwärts treiben die Blumen...
Abt Melchior war ein kranker Mann. Zeitlebens litt der Prälat an Podagra, der Gicht, einer nicht untypischen Erkrankung sozial hochstehender Schichten früherer Zeiten, die sich Fleischgenuss und Alkohol in Mengen leisten konnten. Schon mit 37 Jahren vermerkte er zum ersten Mal einen schmerzhaften Gichtanfall in seinem Tagebuch. Und die Krankheit, vor allem der Schmerz, den sie bereitete, sollte ohne Zweifel das Weltbild Abt Melchiors entscheidend prägen - entgegen dem Bild vom prachtliebenden, sonnigen Barockmenschen spricht viel Verschlossenheit aus den Dokumenten seines Lebens. Schmerz als Begleiter.
Passionsbüsten von Franz Ignaz Bendl (c) Stift Zwettl / Schewig-fotodesign
Abt Melchior von Zaunagg, der im Jahr 1706 als 39-jähriger zum Vorsteher der Zisterzienserabtei Zwettl gewählt worden war und deren glänzendsten Vertreter eines Barockprälaten darstellt, hat vor allem durch sein Engagement auf dem Gebiet der Kunst historische Bedeutung erlangt; mit der Beauftragung hochrangiger Künstler wie Paul Troger oder Joseph Munggenast veränderte er das Aussehen seines Klosters nachhaltig. Erstaunlich ist dabei Abt Melchiors Interesse an Skulptur. Weniger die deckenfüllenden Fresken scheinen ihn in ihren Bann gezogen zu haben, sondern plastische Figuren. So erhielt der Hochaltar der Stiftskirche kein Altarbild (im Gegensatz zu den ursprünglichen Planungen), sondern eine monumentale vollplastisch geschnitzte Szene der Himmelfahrt Mariens. Die Querhausaltäre ließ er von virtuosen Reliefs flankieren, auf den Kirchturm kein Kreuz, sondern die 8 Fuß (= 240 cm!) hohe, vergoldete Statue des Erlösers setzen. Doch auch in weniger offiziellen Bereichen zeigt sich die Faszination des Prälaten für das plastische Medium.
Faszination
Die Anziehungskraft, die Skulptur auf Abt Melchior ausübte, äußert sich besonders in einem „Einkauf“, den er im Herbst 1731 tätigte. Eine Statuette des „Ecce homo“ sowie zwei kleine Büsten des Schmerzensmannes und der Mater dolorosa erwarb der kunstsinnige Abt bei einem Goldschmied in Wien. Stolz vermerkte er sowohl den Künstler („Pendl“) als Urheber der Statuetten als auch das ungewöhnliche Material auf der Rückseite der einen Büste: „Spöckhstein“. Der aus Bayern stammende Bildhauer Franz Ignaz Bendl war zwar bereits 1708 in Wien verstorben, ohne Zweifel waren seine Werke aber nach wie vor für Kunstkenner ein Begriff - so hatte der Künstler die Reliefs der Wiener Pestsäule geliefert und sich als Elfenbeinschnitzer einen Namen gemacht. Mehrmals arbeitete er mit dem Star-Architekten Fischer von Erlach zusammen. Ein Werk des bekannten Virtuosen erwerben zu können (zumal um wohlfeile 26 Gulden), scheint den Besitzer mit berechtigtem Stolz erfüllt zu haben.
Nach ihrem Erwerb fügte Abt Melchior die kleinen Figuren - die Büsten messen nur etwa 15 cm - in seine Kunstsammlung ein. Zwei Aspekte an den Werken mögen ihn besonders angesprochen haben. Das eine ist die Materialwahl, denn Bendl hatte bewusst die Maserung des Steins genutzt, um seinen Figuren Expressivität zu verleihen: Während bei Christus rote Adern im Stein den Eindruck von fließendem Blut erzeugen, verwendete er beim Gesicht Mariens einen wolkig blauen Stein.
Den zweiten Aspekt der Faszination machte wohl das Thema aus. Im Schmerz des leidenden Jesus, dem seiner trauernden Mutter mag sich für Abt Melchior Raum eröffnet haben für die eigene Erfahrung von Schmerz. Vielleicht aus seiner Krankheit, vielleicht auch in einem Leben, das nicht immer glückerfüllt verlaufen sein mag. Schmerz, in dem zugleich die Hoffnung auf Erlösung verborgen ist, unsichtbar, unglaublich. Hoffnung auf die eigene Erlösung.
Schmerz
Vergleicht man die beiden Büsten, fällt - bei aller Übereinstimmung in der künstlerischen Gestaltung - die unterschiedliche Herangehensweise an das Thema „Schmerz“ auf. Bei Christus findet sich ein beinahe plakatives Illustrieren, eine typisch barocke Extrovertierheit. Der geöffnete Mund, das geneigte Haupt, die niedergeschlagenen Lider sind Pathosformeln, die auf eine reiche Tradition blicken können. Den Kunstkniff, geäderte Buntsteine bei einem Schmerzensmann einzusetzen, sollte Balthasar Permoser in monumentaler Form für seine Version in Dresden (1728) aufgreifen und übersteigern.
Überraschender ist deshalb (wenn auch auf den zweiten Blick) die Büste der Gottesmutter. Nur das Evangelium nach Johannes erwähnt explizit das Ausharren der Mutter Jesu unter dem Kreuz ihres Sohnes (Joh 19, 25-27), doch hat die christliche Tradition den Schmerz Mariens in zahlreichen weiteren Episoden aufgegriffen. Die Büste Bendls verzichtet auf die sentimentale Gestaltung, die dem Thema „Pietà“ oft beigelegt wurde. Maria hat die Augen nicht niedergeschlagen, sondern blickt geradeaus. Die Skulptur scheint dabei völlig unbewegt, keine wehenden Haare wie bei Jesus, kein geneigter Kopf. Sie ist erstarrt, diese Frau, die das Entsetzliche miterlebt, den Tod ihres Sohnes. (Nur bei der Stirn, den Brauen, findet sich etwas wie ein Beben, das auf den Abgrund des Schmerzes schließen lässt.) Und nicht zuletzt das Material! Wie Rauchschwaden über verbrannten Äckern durchzieht es diese regungslose Fassade. Hinter dem unerschütterlich wirkenden Blick - zerfällt eine Welt zu Asche.
Übersetzung
Es ist nicht leicht, barocke Bildwelten für heutige Betrachter*innen zu erschließen. Die (zugegeben) manchmal abgedroschenen Phrasen einer bigotten Vergangenheit wirken auf viele fremd oder sogar abstoßend; das Thematisieren von „Schmerz“ wird oft abgetan als Wehleidigkeit oder Druckmittel, um Passivität zu legitimieren als Ergebenheit in ein unabänderliches Schicksal. Dabei eröffnet gerade die künstlerische Auseinandersetzung der Vergangenheit mit den Themen der Leidensgeschichte Jesu spannende Assoziationshorizonte, will man in ihnen auch Chiffren sehen, dem Phänomen menschlichen Leidens nachzuspüren - einem Thema, das nie seine Aktualität verliert.
"Ecce Homo" (c) Stift Zwettl / Schewig-fotodesign
Für die Präsentation von Franz Ignaz Bendls hochwertigen Passionsbüsten haben wir uns in Stift Zwettl deshalb mehrerer Gestaltungsmittel bedient. Die kleinformatigen Skulpturen sind vor „Paravents“ positioniert, die mit Marmorpapier überzogen sind. Die Buntfarbigkeit der Papiere und ihre abstrakten Muster sollen verdeutlichen, dass die Darstellungen nicht nur Objekte einer vergangenen Epoche sind, sondern sich auch mit unserer Lebenwelt in Verbindung setzen lassen. Um die vermeintliche Eindeutigkeit des Inhalts der Büsten zu hinterfragen, wurden die Paravents zusätzlich mit handschriftlichen Gedichten von Rainer Maria Rilke versehen, die bewusst keinen religiösen Inhalt haben. Die Gedichte können nie gänzlich gelesen werden - sie erfüllen also keinen illustrativen Sinn -, vielmehr sollen einzelne Worte in ihrem Assoziationsgehalt („flussabwärts treiben die Blumen“ - „aus den offenen Fingern fiel eine“...) quasi unmerklich die Möglichkeit eröffnen, hinter den vor religiösem Hintergrund entstandenen images den viel weiteren Horizont auszumachen: dem Schmerz Raum, Bild zu geben.
Weitere Bilder finden Sie unter Kunst im Blick.
[Andreas Gamerith; Kurator, Archivar und Bibliothekar Zisterzienserstift Zwettl, NÖ]