Fasten im 19. Jahrhundert: Was Melker Kochbücher über das Kloster und die Veränderung der Welt erzählen
Die Aufzeichnungen geben interessante Aufschlüsse über beliebte Gerichte im Kloster Anfang des 19. Jahrhunderts, auch zur Fastenzeit.1
Alte Ansicht von Stift Melk (c) Stift Melk
Insgesamt 676 Rezepte sind in vier Kategorien unterteilt: „Suppen“, „Saucen und Kren“, „Fleische“ und „Fastenspeisen“. Die „Fastenspeisen“ fallen mit 391 Nummern nicht nur mit Abstand am umfangreichsten aus, sondern bieten mit variantenreichen Fisch- und Gemüsegerichten, mit deftigen, hochkalorischen Mehl- und Süßspeisen, mit aromatischen Säften und würzigen Sulzen ein überraschend breites Spektrum an Pikantem und Süßen. Eine solch opulente Fülle – immerhin knapp 60 % aller Rezepte sind Fastenspeisen –, ausgerechnet gedacht für Zeiten der Enthaltsamkeit und Selbstbescheidung, mag auf den ersten Blick verwundern. Gerade diese auffällige Gewichtung erlaubt es jedoch, die historische Rückbindung auf klösterliche Tradition und den Geist der Benediktusregel zu erkennen. Schriften des 15. Jahrhunderts aus dem Umfeld der Melker Klosterreform und die dort überlieferten Regelungen („Consuetudines“) bezüglich der Mahlzeiten an Fast- und Nichtfasttagen zeigen, dass die gezielte Verbreiterung des Speisenangebots in der Fastenzeit durch unterschiedliche Alternativen zu Fleischgerichten eine bewusst gesetzte Maßnahme war: Die Reduktion von zwei auf nur eine erlaubte Mahlzeit am Tag sollte auf diese Weise kompensiert werden, um einer Entkräftung der Mönche vorzubeugen.2 Es geht daher beim klösterlichen Fasten nicht um speziell designte Fastenspeisen, die mit Blick auf Kalorienreduktion, Fettverbrennung und Light-Varianten von Hausmannskost, die individuelle Gewichtsabnahme und ein gesundes Körperbewusstsein fördern sollen. Vielmehr sind die kirchlich gebotene, theologisch und biblisch begründete Abstinenz zu festgelegten Zeiten und der Verzicht auf bestimmte Zutaten als äußerliche Zeichen innerer Einkehr und Buße zu verstehen. So trägt in Cod. 566 auch nur ein einziges Rezept die Fastenzeit tatsächlich im Titel:
N° 514 Braune Fastenschüsuppe
Man dü[n]ste geputzt und klein geschnittene Petersielwurzeln, Zwiebel, eine gelbe Rüben, Pastinacke, Selerie und Zitronenschallen im schmalze schön braun, daß sie nicht branteln und keinen ungeschmack erhalten, lege einen guten gebackenen Fisch hinein, gieße gesalzene Erbsensuppe darauf lasse sie eine Viertelstunde sieden, passire sie durch ein Haarsieb über Knöderln, gebackene Erbsen oder dergleichen.3
SBM Cod. 566, Koch-Buch von verschiedenen Speisen für Fany Sagberger Vom löblichen Stifte Melk (c) Stift Melk
Historische Kochbücher verraten nicht nur etwas über frühere Ernährungsgewohnheiten, sondern erlauben auch Rückschlüsse auf das Nahrungsmittelangebot vergangener Zeiten. So ist es kein Wunder, wenn dort Zutaten auftauchen, die aus heutiger Sicht überraschen. Schildkröten-, Biber- und Fischottergerichte waren lange Zeit gängige Fastengerichte, da bis weit ins 19. Jahrhundert hinein alle Tiere, die am und im Wasser lebten, den Fischen zugerechnet wurden. Ihr Fleisch durfte daher auch in der Fastenzeit verzehrt werden.4 Heute stehen die drei genannten Arten in Österreich unter Naturschutz, nachdem sie im Lauf des 19. Jahrhunderts fast gänzlich ausgerottet worden waren – teils durch Bejagung, teils durch empfindliche Eingriffe in ihren natürlichen Lebensraum, wie etwa durch die systematische Donauregulierung in Wien, Nieder- und Oberösterreich. Die Rezepte in Fany Sagbergers Kochbuch erzählen also von einer Zeit, als die Gewässer und Auen rund um Melk noch so zahlreich von diesen Tieren bevölkert waren, dass sie bedenkenlos erlegt werden konnten und eine Kochanleitung wie die folgende keineswegs ungewöhnlich war:
N° 276 Einen Biberschweif zuzurichten
Putze wa[s]che ihn und spicke ihn nit Nägel und Zimmet, brate ihn schön gelb begieß ihn mit Butter und Lemoniesaft, wenn er gebraten ist lege ihn auf die Schüssel die Soß dazu und Lemonieschäller darauf.5
Anders als beim Europäischen Biber oder dem Eurasischen Fischotter konnten sich bis heute weder die Populationen der heimischen Flusskrebse noch die der Europäischen Sumpfschildkröten wieder erholen. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts war der sogenannte „Edelkrebs“ in österreichischen Gewässern weit verbreitet und wurden auf adeligen oder klösterlichen Besitzungen für die Versorgung der Hofküchen gezüchtet. Das Stift Melk besaß eine solche Krebszucht im nahegelegenen Schloss Pielach.6 Von Krebs-Nocken7 über Krebs-Strauben8 bis zu Krebs-Schmarrn9 : stattliche 25 Krebsrezepte sind in Cod. 566 zu finden. Die meisten davon sind den Fastenspeisen zuzurechnen. Krebsfang und -zubereitung gehörten zu Fany Sagbergers Zeiten zum Alltag. Das änderte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als eine hochinfektiöse, für europäische Flusskrebsarten tödliche Pilzinfektion die Bestände derart radikal dezimierte, dass der heimische Krebs innerhalb weniger Jahrzehnte nicht nur fast gänzlich aus den Gewässern, sondern damit auch aus den Kochbüchern verschwand.
Rund 60 Jahre nach Fany Sagberger tritt mit Marie Schrammel eine weitere Melker Stiftsköchin auf den Plan. Auch ihr handschriftliches Kochbuch ist überliefert.10 Es ist mit 1892 datiert und unterscheidet sich in bezeichnenden Punkten von seinem Vorgänger. So sind darin nur mehr je ein Rezept für Fischotter und Schildkröte, drei für Krebs und kein einziges für Biber enthalten.11 Der Abschnitt von den Fischspeisen subsummiert u.a. Rezepte für die Zubereitung von Fröschen, Schnecken, Enten oder Rohrhühnern. Ein Hauch von kosmopolitischer Lebensart wird spürbar, wenn nun Muscheln, Austern, Meeresfische, Meerspinnen, Hummer und Kaviar als Zutaten auftauchen. Ob sie auch in der Fastenzeit auf dem Menüplan standen, ist allerdings nicht festzustellen, da Schrammels Kochbuch anders als Cod. 566 die Fisch-, Mehl-, Süß-, Gemüse- und Eierspeisen nicht mehr explizit als Fastengerichte listet. Lediglich die schmale Rubrik „Fastensuppen“ findet sich noch als eigene Kategorie. Hier ist wiederum Erstaunliches zu entdecken: zwei Rezepte für Schokolade-Suppe. Während der Verzicht auf Süßes heute zu den üblichen Fastenvorsätzen zählt, wurde Schokolade von Melker Mönchen vor 130 Jahren offenbar bevorzugt ausgerechnet während der Fastenzeit verspeist.
Chocolade Suppe
In eine Maß kochende Milch werden 4 Tafeln geriebene Chocolade eingekocht, Zucker nach Belieben dazugegeben dan gießt man sie mit 3 Eierdötter ab, und richtet sie über gebähte Semmel.12
Schokolade und Kaffee hatten seit der Entdeckung Amerikas einen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Boom ausgelöst. Handelsflotten importierten unzählige Schiffsbäuche voll Bohnen nach Europa. Man experimentierte phantasiereich mit Zubereitung und Wirkweisen und passte die exotischen Produkte europäischen Geschmacksvorlieben an. Die Frage, ob Schokolade primär ein Heil-, ein Nahrungs- oder ein Genussmittel sei, war ein Thema, das intensiv diskutiert wurde und über das sich an vorderster Front auch die katholische Kirche Gedanken machte. Betrachtete man nämlich Schokolade als Nascherei ohne nährenden oder medizinischen Mehrwert, musste sie aus religiösen Gründen während der kirchlichen Fastenzeiten eigentlich verboten werden, was eine empfindliche Einschränkung für die europäische Oberschicht bedeutet hätte. Kaffee und Schokolade waren aus der „besseren Gesellschaft“ nicht mehr wegzudenken, sie zu konsumieren und Gästen repräsentativ anbieten zu können, gehörte zum guten Ton.13 Das galt auch für das Stift Melk, wo bereits Ende des 17. Jahrhunderts der polnischen Königin Marie Casimire während der Fastenzeit Kaffee serviert wurde, wie der klösterliche Geschichtsschreiber dezidiert festhielt.14
Lehrtafel zum Kaffee aus dem Stiftsgymnasium Melk aus dem 19. Jahrhundert (c) Bernadette Kalteis
Beispiele für den langjährigen kirchlichen Diskurs zur heiklen Frage der Positionierung von Schokolade im Kanon der unter die Fastenbestimmungen fallenden Nahrungsmittel finden sich auch in der Literatur, etwa in einem Predigtbuch von 1770. In fiktiven Dialogen zwischen einem Gläubigen und einem katholischen Priester kommt man übereinstimmend zu dem Schluss, dass Schokolade als stärkende Arznei zu gelten habe, die nur zufälligerweise auch schmackhaft sei, so dass man durch deren überreichen Konsum allenfalls gegen das Gebot der Mäßigung verstoßen würde, keinesfalls aber gegen kirchliche Fastengebote.15 1869 kommt der Jesuit und Moraltheologe Johann Petrus Gury zu einem ähnlichen Ergebnis: Schokolade, allerdings ausschließlich in flüssiger Form (als Trinkschokolade, als Suppe, aber auch als „Gefrorenes“, da Schokoladeeis aus gefrorener Flüssigkeit besteht), gelte nicht als Nahrung und sei damit während der Fastenzeit einmal täglich erlaubt, sofern pro Person nicht mehr als zwei Unzen (ca. 58 Gramm) verkocht würden.16 Bezüglich dieser penibel ausgeklügelten Anweisungen beruft sich der Autor auf die Autorität des heiligen Alfons Maria von Liguori (1696-1787).17
Zwar finden sich auch schon unter Fany Sagbergers Fastenspeisen originelle Darreichungsformen von Schokolade wie Sulz, Biskotten, Zwieback etc., doch zeigt der Vergleich mit Marie Schrammels Kochbuch, dass sich insgesamt das Repertoire der Zutaten, die die Melker Stiftsküche 1835 und 1892 prägten, deutlich verschoben hatte, was wiederum als Gradmesser für die stetige Veränderung der Welt rund um das Benediktinerkloster gelesen werden kann. An den exemplarisch herausgegriffenen Fastenrezepten wird ersichtlich, welche kulturellen Dynamiken veränderte Essgewohnheiten anzustoßen vermochten: Durch global neu erschlossene Märkte etablierten sich neue Konsumgüter in Europa und trafen hier auf kirchliche Speisevorschriften, die zunächst keinerlei Kriterien für ihre Einordnung parat hatten. Die katholische Kirche musste zu einem Weg finden, importierte Nahrungsmittel argumentativ glaubhaft in das eigene Regelsystem zu integrieren. Auf der anderen Seite brachen traditionell intensiv genutzte, regionale tierische oder pflanzliche Lebensmittel innerhalb weniger Jahrzehnte weg, weil die nötige Versorgungsgrundlage aus verschiedenen Gründen nicht mehr gegeben war (Überjagung, Eingriffe in Naturlandschaften etc.). Man musste auf Ersatz ausweichen, andere Schwerpunkte setzen und neue Wege der kulinarischen Ausdrucksform finden – eine Entwicklung, die unter anderen Vorzeichen auch die Gegenwart kennt und die Ernährung in Zukunft beeinflussen wird (Artensterben, Gen-Food etc.).
Eine starke Konstante in der jahrhundertealten, wechselvollen Geschichte der klösterlichen Esskultur und Versorgungsökonomie abseits von kulinarischen Modeerscheinungen und umweltbedingten Ernährungsanpassungen ist in Melk hingegen der Wein. Schon seit dem Mittelalter waren die Besitzungen des Stifts in der Wachau und im Weinviertel ein zentraler Wirtschaftsfaktor.18 Der tägliche Bedarf des Klosters war enorm, u.a. in der Liturgie, für die Bewirtung von Gästen, als Deputat für Klosterangestellte und natürlich als Tischwein auf der Tafel des Konvents und des Abtes.19 Dass Wein dort nicht nur in Gläsern kredenzt, sondern auch als Fastensuppe serviert wurde, zeigt folgendes Rezept aus Marie Schrammels Kochbuch:
Wein-Suppe
Eine halbe Maß Wein ein Seitl Wasser wird mit Citronenschalen, Zimmt Zucker und Gewürznelken gut aufgesotten, dan werden einig Eierdötter mit ein paar Löffel Obers gesprudelt, der Wein darein gegeben und über gebähte Semmel angerichtet.20
Ausschnitt aus dem Kochbuch von Marie Schrammel, Rezept Weinsuppe, Melk 1892. (c) Stift Melk
Rezepte für süße Weinsuppe gibt es bis heute – nahezu unverändert, aber auch in vielen Variationen, selbst in veganen. Eine kurze Erkundungstour durchs Internet liefert zahlreiche Treffer. Die Melker Klosterköchinnen Fany Sagberger und Marie Schrammel hätten sich jedenfalls ziemlich darüber gewundert, dass ihre Fastengerichte nach 190 und 130 Jahren noch immer für Gesprächsstoff sorgen und sich mit zeitgemäßen Neuinterpretationen messen. Ob die Damen aber geschmacklich mit den in die heutige Zeit übersetzten Varianten einverstanden gewesen wären?
[Mag.a Bernadette Kalteis/ Dr. Johannes Deibl MA, Stiftsbibliothek Melk]
Quellen
1Zu Fany Sagberger und ihrem Kochbuch vgl. Bernadette Kalteis, Who the hell is Fany? Einer Stiftsköchin auf den Fersen, in: Kochbuchforschung interdisziplinär. Beiträge der kulinarhistorischen Fachtagungen in Melk 2015 und Seckau 2016, hg. von Andrea HOFMEISTER-WINTER (Grazer mediävistische Schriften: Quellen und Studien 1, Graz 2017) S. 255–268.
2Vgl. Gottfried Glassner, Küche und Kloster. Ein „Mölckerischer“ Aperitif, in: Hannes Etzlstorfer, Bernadette Kalteis, Zwei Capauner mit spanische nudl. Klösterliche Küchenpraxis im Stift Melk zwischen Fastenzeit und Extravaganz. Ein gastrosophischer Streifzug = Thesaurus Mellicensis 5 (Melk 2022), S. 10.
3SBM Cod. 566, Koch-Buch von verschiedenen Speisen für Fany Sagberger Vom löblichen Stifte Melk. 1835. p. 208.
4Vgl. die Vorbemerkungen zum Abschnitt über die Fischrezepte in Anna DORN, Neuestes Universal- oder: Großes Wiener-Kochbuch ect. (Wien 1827), S. 97.
5SBM Cod. 566, p. 112.
6Franz Xaver Joseph Schweickhardt, Darstellung des Erzherzogthums Oesterreich unter der Ens etc., Bd. 9 (Wien 1837) 119.
7SBM Cod. 566, p. 58.
8Ebd. p. 87.
9Ebd. p. 67.
10Kochbuch von Marie Schrammel, Melk 1892. In Privatbesitz, als Digitalisat in der Stiftsbibliothek Melk.
11Bei Fany Sagberger sind es sechs verschiedene Otter- und drei Biberrezepte, sowie sieben Rezepte für Schildkröten.
12Kochbuch von Marie Schrammel, S. 11.
13Bernadette Kalteis, Newcomer. Exotik in Europas Küche und Kultur, in: Sehnsucht Ferne – Aufbruch in neue Welten. Katalog zur Ausstellung auf der Schallaburg vom 20. März-7. November 2021, hg. von der Schallaburg Kulturbetriebsges.m.b.H. (Schallaburg 2021), S. 200-201, hier S. 200.
14Ignaz Keiblinger, Geschichte des Benedictiner-Stiftes Melk in Niederösterreich, Bd. 1 (Wien 1851), S. 929.
15P. Cäsars Calini, Fastenpredigten. Drey Theile. Aus dem Wälschen übersetzt. Erster Theil. Von der Aschermittwoche, bis Montag der zweyten Fastenwoche (Augsburg/Innsbruck 1770), S. 64 ff.
16Johann Petrus Gury, Moraltheologie. In´s Deutsche übertragen von Johann Georg Wesselack (Regensburg 1869), S. 231.
17Ebd.
18Vincenz Staufer, Materialien zur Geschichte des Weinbaues in Oesterreich während des Mittelalters. In: 23. Jahresbericht des kaiserlich-königlichen Obergymnasiums zu Melk (Wien 1873), S. 1-72, besonders S. 4 und die urkundlichen Quellen zu Melk S. 47-60.
19Rudolf Malli: Der Schatz im Keller. Zur Weinwirtschaft der Waldviertler Klöster. Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 41. Horn, Waidhofen/Thaya 2001. S. 61f.
20Kochbuch von Marie Schrammel, S. 13.