Die Stiftsbibliothek Melk stellt sich vor
Die beiden barocken Schauräume sind Teil des touristischen Rundgangs im Haus und damit auch für Besuchende abseits des Wissenschaftsbetriebs zugänglich. Eine Wechselausstellung – momentan „SMS aus dem Mittelalter. Fragmente in der Stiftsbibliothek Melk und ihre Geschichte(n)“ – bildet einen zusätzlichen Anreiz, diesen speziellen Ort wiederholt aufzusuchen. Die Tätigkeit des Bibliotheksteams lässt sich grob auf die gängigen Bereiche der Erwerbung, der Katalogisierung und der Benutzung von Büchern festmachen. Zentral sind darüber hinaus die Beforschung und die Vermittlung bestandsrelevanter Inhalte.
Zahlen, Fakten, Geschichte
Der Buchbestand der Stiftsbibliothek Melk umfasst aktuell über 100.000 Bände. Das Herzstück der Sammlung bilden ohne Zweifel die 1800 Handschriften, von denen knapp 1250 im Mittelalter entstanden sind – ein quantitativer Topwert, nicht nur für eine kirchliche Sammlung. Die 750 Inkunabeln, Drucke vor 1500, bezeugen einen erfolgreichen medialen Übergang des Bestandes vom späten Mittelalter in die Frühe Neuzeit. In den folgenden Jahrhunderten vervielfacht sich der Druckbestand. Noch heute werden Neuerscheinungen im Hinblick auf die Sammelgebiete angekauft und Nachlässe integriert.
Zu den besonderen Schätzen des Bestandes zählt das älteste Buch, das im heutigen Niederösterreich überliefert wurde: eine Abschrift naturkundlicher Abhandlungen des Beda Venerabilis aus dem frühen 9. Jahrhundert (Cod. 412). Im „Annalencodex“ (Cod. 391) findet sich mit dem „Melker Marienlied“ das älteste erhaltene Marienlied in deutscher Sprache (zweites Viertel des 12. Jahrhunderts). Ebenfalls im Codex enthalten sind die „Melker Annalen“, ein Vorzeigewerk mittelalterlicher Annalistik, das zwischen 1123 und 1564 bearbeitet und erweitert wurde. Das „Breve chronicon Austriacum Mellicense“ fokussiert hingegen knapp auf die Geschichte der Babenberger. Ein 1997 entdecktes Fragment des Nibelungenlieds aus dem 13. Jahrhundert (Fragm. Germ. 6) ist fixer Bestandteil des touristischen Rundgangs. Das „Psalterium“ (Cod. 1903) bildet die wahrscheinlich eindrucksvollste Handschrift des Bestandes im Sinne der Buchkunst; im Würzburg des 13. Jahrhunderts entstanden, werden darin biblische Psalmen von kunstvoll illuminiertem Buchschmuck begleitet. Ein Kalendarium und eine Litanei ergänzen die Handschrift. Die Frühe Neuzeit hält mit der „Regula emblematica“ des Melker Profess Bonifaz Gallner eine besondere Umsetzung der Benediktsregel bereit, die in illustrierter Emblemform (inscriptio – pictura – subscriptio) auftritt (als handschriftlicher Entwurf: Cod. 510, im posthumen Druck: Sign. 3317,18). Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ in der Erstausgabe von Riga 1781 (Sign. 16.854/1) ist Ausdruck einer intensiven Beschäftigung mit den Ideen der Aufklärung. Aufgrund ihrer Provenienz erwähnenswert sind weiters der historische Buchbestand der Pfarrbibliothek Wullersdorf, der sich mittlerweile in der Melker Stiftsbibliothek befindet, wie auch der Nachlass des Mistelbacher Arztes Johannes Häringshauser, der das seltene Zeugnis einer bürgerlichen Privatbibliothek des 17. Jahrhunderts abgibt.
Beispiel einer mittelalterlichen Handschrift (c) Stift Melk, Brigitte Kobler-Pimiskern
Eine Bibliothek gab es in Melk schon seit der Besiedlung des Felsens durch die Benediktinermönche im Jahr 1089, als diese Bücher aus dem oberösterreichischen Kloster Lambach mitbrachten. Die Herstellung handschriftlicher Codices wurde bald durch eine hauseigene Schreibstube betrieben, weitere Schriften kamen durch Schenkung, Tausch oder Erwerbung in den Bestand. Der verheerende Brand von 1297 macht es den späteren Generationen leider unmöglich, die bis dahin gesammelten Werke vollständig zu bestimmen. Die erhaltenen lateinischen Lehrtexte bezeugen eine bestehenden Schule im Kloster, die auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten weitergeführt wurde. Der Höhepunkt in der Melker Handschriftenproduktion und Sammeltätigkeit liegt im 15. Jahrhundert: Dank des Tatendrangs im Rahmen der „Melker Reform“ – einer von Melk ausgehenden Klosterreform, die eine Rückbesinnung auf die Benediktsregel vorsah, das humanistische Quellenstudium förderte und die Aufnahme im Kloster nicht nur dem Adel vorbehielt – finden sich aus diesem Jahrhundert an die 800 Codices (bei ähnlich vielen Inkunabeln). Gerade die Schriften des Laienbruders und Redaktors Lienhard Peuger beschäftigen die Forschung nachhaltig. Mit dem wachsenden Einfluss des Protestantismus stagniert die Ausweitung der Bibliothek für einige Zeit. Im Folgejahrhundert erwacht das Interesse an den Büchern neu – die Errichtung eines größeren Bibliotheksraumes, Druckankäufe und Fortschritte in der Bestandserfassung prägten diese Zeit. Die heute bekannten historischen Räume gehen hingegen erst auf das 18. Jahrhundert zurück, als das Kloster vollständig barockisiert wurde und Erweiterungen wegen des wachsenden Druckbestandes notwendig waren. Die Aufstellung der Bücher gemäß der damaligen vier Fakultäten (Theologie, Jurisprudenz, Naturwissenschaften, Philosophie) belegt am großen Saal das breite Spektrum des Bestandes und die enge Verbundenheit mit dem universitären Betrieb. In diesem Jahrhundert entspricht die Anzahl angeschaffter deutschsprachiger Bücher erstmals fast jener der lateinischen – philosophisches Schrifttum der Aufklärung trägt dazu bei. Ab dem 19. Jahrhundert dominieren bereits die deutschsprachigen Neuzugänge. Räumliche Erweiterungen im zweiten Stock und im Erdgeschoß – inklusive eines neu angelegten Raumes für die Handschriften – bezeugen dabei Zugewinne. Vor allem in der Belletristik und in der Literaturwissenschaft bietet der Bestand ein Angebot auf der Höhe der Zeit, das zahlreiche Volkssprachen bedient. Die wirtschaftlichen Notverkäufe der Zwischenkriegszeit schmerzen Bibliotheksvertraute noch heute, wobei das 1926 abgetretene Melker Exemplar der Gutenbergbibel (heute Yale University Library) heraussticht. Positiv zu bewerten sind die Neuaufstellung des Handschriftenbestandes und die Verwirklichung des aktuellen Zettelkataloges für die Druckwerke während der 1930er-Jahre. Eine neue Ära in der Bibliotheksgeschichte Melks wurde mit der EDV-gestützten Erfassung der Neuerscheinungen seit Anfang der 1990er-Jahre eingeläutet. Seitdem wurden über 33.000 Datensätze zu Neueingängen angelegt.
Einblick in die historische Bibliothek (c) Stift Melk, Brigitte Kobler-Pimiskern
Neuerungen und Tendenzen
In der Bestandsgenese der letzten Jahre ist vor allem die Eingliederung der „Manfred-Angerer-Bibliothek“ hervorzuheben. So wurde ein Teil der Privatbibliothek des 2010 verstorbenen Musikwissenschaftlers Manfred Angerer (Uni Wien) an das Stift übergeben, wobei die vollständige Katalogisierung zwischen 2014 und 2021 erfolgte. In den etwa 11.000 Bänden sind einschlägige Schriften der Rubriken Philosophie, Geschichte, Literaturwissenschaft, Soziologie etc. vertreten. Damit ist eine wichtige Ergänzung zur laufend erweiterten Theologischen Handbibliothek gelungen, die auch den Neubestand über die Grenzen theologischer Fachliteratur führt und ihn damit für eine breitere Benutzung empfiehlt.
Aus dem Nachlass des verstorbenen Priors P. Wilfried Kowarik wurde ein interner Museumsraum bestückt, der über das Medium Buch hinausgeht: Mit der Unterbringung seiner privaten Modelleisenbahnanlage sowie einem zugehörigen Handapparat rund um das Thema Eisenbahn wurde der herzlichen Wertschätzung für den Verstorbenen Ausdruck verliehen und ein neuer Sonderbereich für den Bibliotheksbestand geschaffen. Die Katalogisierung dieser Spezialsammlung mit einigen hundert Bänden erfolgt im Augenblick.
In den letzten Jahren, vor allem aber seit Beginn der Pandemie, steigen die externen Anfragen nach Digitalisaten zum Handschriftenbestand sukzessive an. Eine seit Jahren bestehende Vereinbarung zwischen der Stiftsbibliothek und der Akademie der Wissenschaften (Schrift- und Buchwesen) ermöglicht eine zielgerichtete Digitalisierung besonders relevanter Codices und solcher, die anlassbezogen angefragt werden. Dabei steht die Qualität der Aufnahmen im Fokus, um einen potenziellen Einsatz der Bilder in Publikationen zu ermöglichen. Mit dieser Grundsatzausrichtung wirkt man dem zum Teil saloppen 'Abfotografieren' während der 2000er-Jahre an manchen Institutionen entgegen, wo sich Dateien für eine professionelle Weiterverarbeitung manchmal als unbrauchbar erwiesen.
Ein Aufwärtstrend herrscht auch in der pädagogischen Vermittlung der Wissensgeschichte, die aus den Schriften der Bibliothek spricht. Die geschnürten Pakete dazu decken ein breites thematisches Feld ab und finden je nach Schulstufe Anwendung. So gibt es beispielsweise Specials zu den mittelalterlichen Handschriften oder dem frühen Buchdruck. Die Vermittlungseinheiten dauern ein bis zwei Schulstunden und werden von den Schüler*innen und Lehrkräften positiv aufgenommen. Als eine Art Verlängerung der Schulbibliothek gibt es weiters für die älteren Schüler*innen des Gymnasiums die Möglichkeit, für die Recherche zur vorwissenschaftlichen Arbeit (VWA) auch den Bestand der Stiftsbibliothek einzusehen. Das Bibliotheksteam berät hier gern zu den gefragten Themenfeldern und lässt für den Neubestand auch Ausleihen zu.
In der wissenschaftlichen Vermittlung der letzten Jahre ist auf die Schriftenreihe „Thesaurus Mellicensis“ hinzuweisen, die unter der Herausgeberschaft von Bibliothekar P. Gottfried Glaßner bereits vier Bände hervorgebracht hat. Dabei wurde über die Melker Astronomiegeschichte, das Wirken der Brüder Pez und die engen Verstrickungen zwischen dem Kloster Melk und der Universität Wien über die Jahrhunderte berichtet. Ein Anekdotenband lockert die Reihe mit launigen Erzählungen aus dem Melker Klosteralltag auf. Weitere Bände stehen unmittelbar vor der Fertigstellung.
Weiters ist auf die Vortragstätigkeit zu den Schätzen der Bibliothek hinzuweisen, besonders auf die jährliche Begleitung zum aktuellen Stück der „Melker Sommerspiele“. In den vergangenen Jahren konnte der Bestand über Themen wie den „Turmbau zu Babel“ oder die „zehn Gebote“ informieren. Im heurigen Sommer erfährt das Publikum Näheres zum römischen Tyrannen „Nero“ und erhält dabei einmalige Einblicke in themenrelevante Schriften.
Eine umwälzende Neuerung für die Stiftsbibliothek bringt das umfangreiche Restaurierungsprojekt (2022-2032) mit sich. Bei einem Buchbestand, der bis in das frühe 9. Jahrhundert zurückreicht, und Räumlichkeiten, die seit hunderten Jahren nahezu unverändert bestehen, entsteht trotz guter Pflege Handlungsbedarf. So werden mit der Unterstützung des Landes Niederösterreich, des Bundes, der Gemeinde Melk und des ins Leben gerufenen Fördervereins „Ex litteris immortalitas“ über die nächsten zehn Jahre Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen gesetzt, die das Ensemble von barockem Raum und Buchbestand bestmöglich schützen sollen. Es erfolgen Restaurierungsarbeiten an den Raumschalen (Boden, Wände, Decken, Türen, Fenster), an der Raumausstattung (Holz, Stein, Metal, Fresken) und an schadhaften Büchern (mechanische Schäden, Fraßschäden, Schimmelbefall etc.). Weiters werden angrenzende Räume in den Bibliotheksbereich integriert (Verlagerung der Handschriftenkammer, zusätzliche Büro- und Arbeitsflächen, zusätzliche Lagermöglichkeiten für den Buchbestand). Wichtige begleitende Maßnahmen erfolgen im Bereich der Haustechnik (Klima, Heizung, Lüftung, Elektrik) wie speziell im Bereich des Brandschutzes (Hochdruckvernebelung, Fluchtwegadaption). Das Bibliotheksteam nutzt das Restaurierungsprojekt, bei dem jedes Buch in die Hand genommen wird, zur weiteren Provenienzforschung und überprüft die Bände auf mögliche enthaltene Fragmente. Eine Gesamtinventur und die räumliche Zusammenführung bisher getrennter Werke des selben Signaturbereichs begleiten diese Maßnahmen. Der Förderverein „Ex litteris immortalitas“ ist nicht nur ein Baustein bei der Finanzierung des Projektes: Er verfolgt ebenso das Ziel, die Sichtbarkeit der Bibliothek in den kommenden Jahren durch gezielte Aktivitäten zu erhöhen. Das Bibliotheksteam begrüßt diesen Schritt und freut sich auf die Zusammenarbeit.
Beispiel für ein Buch mit Fraßspuren (c) Johannes Deibl
Abschließend folgt eine Auswahl an überblicksartiger Forschungsliteratur und Katalogen zur Stiftsbibliothek:
Gerhard Floßmann; Wolfgang Hilger; Herbert Fasching, Stift Melk und seine Kunstschätze. 2., verb. Aufl. St. Pölten; Wien 1980, 61-63 [zur Bibliothek].
Christine Glaßner: Inventar der Handschriften des Benediktinerstiftes Melk. T. 1. Von den Anfängen bis ca. 1400 (=Denkschriften der ÖAW, phil.-hist. Klasse 285 = Veröffentlichungen der ÖAW, Kommission für Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Reihe 2 = Verzeichnisse der Handschriften österreichischer Bibliotheken 8). Wien 2000.
Christine Glaßner, Katalog der deutschen Handschriften des 15. und 16. Jahrhunderts des Benediktinerstifts Melk (=Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Denkschriften, 492. Band. Veröffentlichungen zum Schrift- und Buchwesen des Mittelalters, Reihe III. Verzeichnisse der deutschen Handschriften österreichischer Bibliotheken, Bd. 3). Wien 2016.
Christine Glaßner, Schreiben ist lesen und studiern, der sel speis und des herczen jubiliern. Zu den mittelalterlichen Handschriften des Benediktinerstiftes Melk. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige. Bd. 108 (1997), 283-320.
Gottfried Glaßner, Bibliothek des Benediktinerstiftes Melk. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich. Hrsg. von Bernhard Fabian. Hildesheim; Zürich; New York 1994, 146-157.
Freimut Löser, Im Dialog mit Handschriften. Handschriftenphilologie am Beispiel der Laienbrüderbibliothek in Melk. Mit einer Einl. von Gottfried Glaßner OSB. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, 6. – 8. April 2000. Tübingen 2002, 178-208.
Meta Niederkorn, Unterricht und Wissenschaftspflege im Spannungsfeld von Universität und Kloster. Neue Erkenntnisse zum Buchbestand und Bücherzuwachs der Melker Bibliothek zwischen 1365 und 1517. In: Universität und Kloster. Hrsg. von Gottfried Glaßner OSB und Meta Niederkorn (=Thesaurus Mellicensis, Bd. 3), 99-127.
Rudolf Schachinger: Die Wiegendrucke der Stiftsbibliothek in Melk. Melk 1901.
[Dr. Johannes Deibl MA/ Mag.a Bernadette Kalteis, Stiftsbibliothek Melk]
https://www.stiftmelk.at/sammlungen-wissenschaft/stiftsbibliothek-melk/
https://www.stiftmelk.at/kloster-orden/restaurierung/