Beten im Strudel der Zeit
Ettliche Christliche Gebehtt / morgenndts und Abenndts zu sprechenn […] Geschribenn zu Constantinopell denn 19. Novembr. Anno 1589 © Stiftsbibliothek Melk, Cod. 1661, fol. 7r
Wenn der Wert von Büchern und das Wissen um ihre Hintergründe verblasst, wenn ihre gesellschaftliche Relevanz schwindet, treten Bibliotheken auf den Plan. An keinem anderen Ort der Welt findet man die Geschichte der Menschheit auf ähnliche Weise organisiert und verdichtet, gesammelt und bewahrt wie in einer historischen Bibliothek. Hier hatten immer auch jene Bücher eine Überlebenschance, die „draußen“ im Strudel der Zeit verloren oder kaputt gegangen, vernichtet oder entsorgt worden wären.
Auch historische Gebetbücher sind weit mehr als nostalgische Überbleibsel privater Frömmigkeit. Sie geben eindrucksvolle Zeitzeugen der Vergangenheit ab. Formulierungen und Begrifflichkeiten können zum Beispiel als spannende Quellen gesehen werden, die davon erzählen, inwieweit die Kirche als Institution das Privatleben der Menschen durchdrang und reglementierte. In Bittgebeten wiederum blitzen die Alltagsnöte der Vergangenheit durch.
Gebete um Trost und Hilfe in Notlagen
Im Melker Mini-Gebetbuch von 1589/90 wird an vielen Stellen das Flehen um Trost und Hilfe in Notlagen laut. Die Themen haben nach wie vor nicht an Aktualität verloren: Krankheit, unerfüllter Kinderwunsch, Naturkatastrophen, Glaubenskrisen und Existenzängste werden angesprochen, genauso wie die tiefsitzende Sorge „umb Friedenn“ und „wenn Krig ist“. Damals war es die Angst vor einem Krieg „wider dem Türkenn“.
1589/90 war es tatsächlich mehr als angebracht, sich um die fragile Balance im Kräftemessen zwischen Europa und dem Osmanischen Reich Sorgen zu machen. Beide Seiten verfolgten eine angespannte Still- und Hinhaltetaktik, die in zähen Prozessen ständig neu ausverhandelt werden musste. Schauplatz der Diplomatik war Konstantinopel. Die Vertreter der Habsburgermonarchie wohnten dort im „Deutschen Haus“ nahe beim Palast des Sultans. Auf engstem Raum trafen hier zwei mächtige politische Gegner aufeinander, zwei völlig unterschiedliche Kulturkreise, Sprachen und Religionen – ein explosives Gemisch. Augenzeugen berichten von Spionen, Doppelagenten und Überläufern, von Bestechung, Korruption, Kerker und Geiseln. In diplomatischer Mission nach Konstantinopel entsandt zu werden, war eine Ehre und gut für die spätere politische Karriere, vor allem aber war es ein gewagtes Abenteuer und mitunter auch tödlich.
Das unmittelbare Risiko für die Botschafter Habsburgs und ihr Gefolge ging dabei weniger vom türkischen Sultan aus als vielmehr vom eigenen Kaiser. Der ließ seine Gesandten aus politischem Kalkül und noch häufiger aus Geldnot in der Luft hängen, indem er die vertraglich fixierten Tributzahlungen nicht zeitgerecht oder nicht in vollem Umfang leistete. Damit aber brachte er seine Leute in Konstantinopel in Erklärungsnotstand und in Lebensgefahr, weil sie für die Säumigkeit ihrer Regierung geradestehen mussten.
Ein kleines Buch auf großer Reise
Aufregend ist das alles deshalb, weil der allererste Besitzer von Cod. 1661 selbst eine Zeit lang mitten in diesem politischen Machtzentrum gelebt haben muss. Vor seiner Abreise in den Orient hat er sich noch ein kleines Buch in Wien gekauft – ein unbeschriebenes Blankoexemplar, handtellergroß, praktisch für unterwegs. Das war am 19. April 1589. Weit weg von Wien hat er dann damit begonnen, die leeren Seiten nach und nach mit Gebeten und Bibelstellen vollzuschreiben. Warum man das so genau weiß? Zum Glück hat der gute Mann in der Fremde immer wieder genau notiert, wann und wo er mit Papier und Feder Zuflucht zum vertrauten Wortlaut christlicher Gebete gesucht hat: in Konstantinopel in den Jahren 1589 und 1590.
Zur Verfügung gestellt vom Team der Melker Stiftsbibliothek