Wiener Mechitaristenkloster als bedeutendes Zentrum armenischer Kultur
In der Klosterkirche auf der kleinen italienischen Insel San Lazzaro degli Armeni in der Lagune von Venedig hat Mechitar von Sebaste seine letzte Ruhestätte gefunden. Als „Manuk“ 1676 in Sebaste (heute Sivas in der Türkei) geboren, trat er früh in das Kloster Surb Nšan ein und nahm den Mönchsnamen Mechitar an, der auf Armenisch „Tröster“ bedeutet. Auf Reisen lernte er einen gelehrten Jesuiten kennen und durch ihn europäische Kultur, Wissenschaft und die römisch-katholische Kirche. Beeindruckt von dieser Begegnung, wollte Mechitar eine Predigergemeinschaft zur Verbesserung der Bildung und des spirituellen Niveaus des armenischen Volkes gründen. So entstand 1701 in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, der Orden, der später nach ihm Mechitaristen Kongregation genannt wurde.
Mechitar von Sebaste in einem Stich von ca. 1760. (c) gemeinfrei
Gelehrter und Ordensgründer
Nachdem er sich aufgrund der zunehmenden konfessionellen Spannungen und des Widerstands der apostolischen Patriarchen gegen die katholische Missionierung und drohender Verfolgung seitens des osmanischen Staates gezwungen sah Konstantinopel zu verlassen, gründete er sein Kloster in Methoni (griechische Stadt am Peloponnes), die zu dieser Zeit unter der Herrschaft der Republik Venedig stand. Nach dem Fall von Methoni an den osmanischen Sultan und der anschließenden Zerstörung des Klosters im Jahr 1717 zog Mechitar von Sebaste mit seinem Orden auf die Insel San Lazzaro degli Armeni. Dort blieb er bis zu seinem Tod im Jahr 1749 und wurde in dieser Zeit als hoch angesehener Gelehrter und Publizist anerkannt. Im Jahr 1727 veröffentlichte er eine Grammatik des modernen Armenisch, die als das früheste gedruckte Werk in türkischer Sprache gilt, das in armenischer Schrift verfasst wurde.
Neues Zuhause in Wien
Eine Spaltung innerhalb des Ordens führte 1773 zum Austritt mehrerer Mitglieder aus dem Mutterhaus in Venedig, die sich daraufhin in Triest niederließen. Kaiserin Maria Theresia (reg. 1740–1780) gewährte den Mönchen 1775 das Recht, sich im Habsburgerreich niederzulassen. Die Mechitaristen erhielten ein Kloster, eine Kirche und eine Schule. Zudem erhielt der Orden das Recht, eine Druckerei mit armenischen und lateinischen Buchstaben zu betreiben.
Nach dem Fall von Triest an Frankreich im Jahr 1809 gewährte Kaiser Franz I. (reg. 1804–1835), den Mechitaristen 1810 Asyl in Wien und bestätigte damit ihre bisherigen Privilegien. 1811 fanden sie in einem neu errichteten Gebäude, dem ehemaligen Kapuzinerkloster, Unterkunft und richteten eine neue Druckerei ein.
Beeindruckende Sammlung
Diese 1811 in Wien gegründete Mechitaristen Kongregation ist heute ein Ort vielfältigen kulturellen Erbes. Sie bietet Einblicke in die Geschichte der Armenier sowie des Habsburger- und des Osmanischen Reiches und verfügt über eine unschätzbare Sammlung von über 2.600 armenischen Manuskripten, 150.000 Büchern und der weltweit größten Sammlung armenischer Zeitungen und Zeitschriften.
Die Bibliothek der Kongregation enthält auch eine beträchtliche Anzahl von Manuskripten, Drucken und Zeitungen in türkischer Sprache, die zwischen dem späten 17. und 20. Jahrhundert in armenischer Schrift verfasst und gedruckt wurden. Bisher konnten 874 armeno-türkische Drucke und 62 Manuskripte identifiziert werden.
Die Bibliothek der Mechitaristen Kongregation (c) Jeanette Kilicci
Eine erste Untersuchung des Zustands der Manuskripte ergab, dass sie sich aufgrund von Tintenkorrosion in einem schlechten Zustand befinden, was bedeutet, dass einige dieser Texte bald verloren gehen werden, wenn sie nicht behandelt werden.
Neben der weltweit größten Sammlung armenischer Zeitungen beherbergt die Mechitaristenbibliothek eine beträchtliche Anzahl armeno-türkischer Zeitungen und Zeitschriften aus dem 19. und 20. Jahrhundert, darunter die wichtigsten Publikationen der Tanzimat-Zeit, also der Periode tiefgreifender Reformen im Osmanischen Reich, die 1839 begann und 1876 mit der Annahme der Osmanischen Verfassung endete.
Zeitschrift Ճիհան /Cihan (Die Welt) (1884-1885) (c) Jeanette Kilicci
Wichiges Kulturerbe
Die bisher einzige umfassende Studie zur osmanisch-armenischen Presse stammt von Kübra Uygur, deren Doktorarbeit an der University of Birmingham (2021) sich mit der kulturellen Identität der osmanischen Armenier befasste, indem sie armenisch-türkische Printmedien in der osmanischen Welt des neunzehnten Jahrhunderts untersuchte.
Sie zeigt darin die Vielfalt und die unterschiedlichen Meinungen der Redakteure, Journalisten und Autoren aus verschiedenen Gemeinschaften, darunter apostolische, protestantische und katholische, aber auch die große Leserschaft armeno-türkischer Zeitungen unter den muslimischen Osmanen, die neben den türkischen Zeitungen in arabischer Schrift auch armeno-türkische Zeitungen lasen. Die armeno-türkischen Zeitungen stellen einen bedeutenden Aspekt des kulturellen Erbes der osmanischen Armenier dar.
Aktuelles Forschungsprojekt
Trotz ihrer historischen Bedeutung sind die reichen Bestände der Wiener Mechitaristen noch nicht gründlich erforscht worden. Um diese Lücke zu schließen und die bedeutende Rolle der Mechitaristen in der osmanisch-türkischen Textproduktion anzuerkennen, ist es unerlässlich, diese Texte eingehend und vergleichend zu untersuchen, um ein umfassendes Verständnis ihres historischen Kontextes zu ermöglichen. Derzeit wird im Rahmen des Exzellenzclusters „EurAsian Transformations“ ein Projekt durchgeführt, das die Beiträge der Mechitaristen zur armenischen Renaissance im 19. Jahrhundert in Wien, die das intellektuelle Wachstum prominenter Persönlichkeiten wie Hovsep Vartanian (auch bekannt als Vartan Pascha), dem Autor des ersten türkischen Romans (Akabi Hikayesi, 1851), förderte, würdigt.
Pionierarbeiten wie die erste Studie über Armeno-Türkisch von Friedrich von Kraelitz-Greifenhorst (1912), der 1923/24 zum ersten ordentlichen Professor für Turkologie an der Universität Wien ernannt wurde (und in der Zwischenkriegszeit als Teil eines gut organisierten antisemitischen Netzwerkes an der Universität Wien eine unrühmliche Rolle spielte)[1], sowie von Andreas Tietzes (1991), dem bedeutendsten Wiener Turkologen, unterstreichen durch ihre grundlegenden Beiträge die historische Affinität des Projekts. Es basiert auf diesen Werken und nutzt Methoden der digitalen Geisteswissenschaften, um wichtige Primärquellen für die Erforschung der Geschichte der Armenier im Osmanischen Reich und in der Diaspora bereitzustellen.
Einblick in armeno-türkische Textkultur
Derzeit werden 51 armeno-türkische Zeitungen und Zeitschriften der Mechitaristen Kongregation mit einem Umfang von etwa 165.000 Seiten digitalisiert. Die Erfassung und Vorbereitung für die Digitalisierung erfolgten in enger Zusammenarbeit und in Kooperation mit den Patres der Kongregation sowie mit armenisch- und türkischsprachigen Studenten der Universität Wien. Dieses Projekt hat bislang lediglich einen ersten Einblick in die umfassende Sammlung ermöglicht und soll als Grundlage für weitere, erkenntnisreiche Forschung dienen. Der nächste Schritt wird, unterstützt von Wien Kultur, die Digitalisierung der armeno-türkischen Handschriften und Bücher sein. Das Team hat eine Blog-Seite eingerichtet, die Interessierten einen Einblick in die vielfältige und komplexe Welt der armeno-türkischen Textkultur gewährt.
Kurz-Bio
Jeanette Kilicci hat ihren Master im Fach Musikwissenschaft an der Universität Wien im Oktober abgeschlossen. Zwischen März und September hat sie ca. 165.000 armeno-türkische Zeitungs-/ Zeitschriftenseiten erfasst und dokumentiert.
Yavuz Köse ist Professor für Turkologie an der Universität Wien und Vorstandsvorsitzender der Gesellschaft für Turkologie, Osmanistik und Türkeiforschung (GTOT e.V.) sowie Key Researcher im FWF-Exzellenzcluster „EurAsian Transformations“.
Literaturhinweise (Auswahl)
Arat, S. Mari Kristin. 1990. Die Wiener Mechitharisten. Armenische Mönche in der Diaspora. Wien, Köln: Böhlau.
Aslanian, Sebouh D. 2016. “‘Prepared in the Language of the Hagarites’: Abbot Mkhitar’s 1727 Armeno-Turkish Grammar of Modern Western Armenian”, Journal of the Society for Armenian Studies, 25: 54-86.
Berbérian, Haig. 1964. “La Littérature Arméno-Turque,” in Philologiae Turcica Fundamenta Vol. 1, ed. Louiz Bazin et al, 809–819. Wiesbaden: Steiner.
Cankara, Murat. 2018. “Armeno-Turkish Writing and the Question of Hybridity”, in An Armenian Mediterranean. Words and Worlds in Motion, ed. by Kathry Babayan, and Michael Pifer, 173-192. Cham: Palgrave Macmillan.
Der Matossian, Bedross. 2020. “The Development of Armeno-Turkish (Hayatar T‘rk‘erēn) in the 19th Century Ottoman Empire: Marking and Crossing Ethnoreligious Boundaries,” Intellectual History of the Islamicate World 8: 1-34.
Kraelitz-Greifenhorst, Friedrich von. 1912. Studien zum Armenisch-Türkischen: Sitzungsberichte der philosophisch-historischen Klasse der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften Band: 168. Band, 3. Abhandlung. Wien: Hölder.
Ter Minassian, Anahide. 1998. “Enjeux d’une politique de reconquête linguistique: les Arméniens dans l’Empire Ottoman (1853-1914)” in: Langues et pouvoirs de l’Afrique du Nord à l’Extrême Orient., ed. by Salem Chaker, 151-167. Aix-en-Provence: Edisud.
Tietze, Andreas. 1991. Akabi Hikayesi: İlk Türkçe Roman. Istanbul: Eren Yayınları.
Ueno, Masayuki. 2016. “One Script, Two Languages: Garabed Panosian and His Armeno-Turkish Newspapers in the Nineteenth-Century Ottoman Empire”. Middle Eastern Studies 52, No. 4: 605-622.
Uygur, Kubra, “Understanding a Hybrid Print Media and its Influence on Public Opinion: The Case of Armeno-Turkish Periodical Press in the Ottoman Empire, 1850–1875” (Unpublished PhD diss., University of Birmingham UK, 2021).
Zekiyan, Levon Boghos. 2017. “L’abbé Mékhitar de Sébaste”, in Jubilé de l’ordre des Pères mékhitaristes. Tricentenaire de la maison mère, l’Abbaye de Saint-Lazare 1717-2017, ed. by Bernard Outtier and Maxime K. Yevadian, 37-46. Paris: Sources d’Arménie.
[1] Dass v. Kraelitz-Greifenhorst in der Zwischenkriegszeit Teil eines gut organisierten antisemitischen Netzwerkes an der Universität Wien war, die, um hier Klaus Taschwer zu zitieren „jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb“, soll nicht unerwähnt bleiben. Vgl. Klaus Taschwer, "Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique nach 1918 an der Universität Wien jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb", in Regina Fitz, Grzegorz Rossolinski-Liebe, Jana Starek (Hrsg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1938. Wien 2016, S. 221-242.