Heiliges Land Tirol!?
Vortrag gehalten am 12. Juni 2017 bei der gemeinsamen Jahrestagung der Diözesanarchive und der Ordensarchive in Innsbruck (Bearbeitetes Vortragsmanuskript).
Der Landtag hat
in Anerkennung des Beitrittes des selbständigen Landes Tirol zum Bundesstaat Österreich,
in Anerkennung der Bundesverfassung,
im Bewußtsein, daß
die Treue zu Gott und zum geschichtlichen Erbe,
die geistige und kulturelle Einheit des ganzen Landes,
die Freiheit und Würde des Menschen,
die geordnete Familie als Grundzelle von Volk und Staat die geistigen, politischen und sozialen Grundlagen des Landes Tirol sind, die zu wahren und zu schützen oberste Verpflichtung der Gesetzgebung und der Verwaltung des Landes Tirol sein muß, beschlossen:
…
Präambel der Tiroler Landesverfassung
Die Treue zu Gott, 1980 in die Präambel der Tiroler Landesverfassung gekommen, ist gleichsam Gesetz! Ja, dann …?
„Heiliges Land Tirol“ – provokant oder naiv?
Der Titel „Heiliges Land Tirol“ – bewusst ohne Rufe- oder Fragezeichen – ist provokant gewählt! Oder gar naiv? Und demonstriert nolens volens das „Hinterweltlertum“ der Älplerinnen und Älpler. Oder beweist allein der Titel für manchen Teilnehmer doch eine uns „Älplern“ zugeschriebene Hybris, die von scheinheiliger Demut einerseits und ostentativer Ungehobeltheit oberflächlich kaschiert wird.
Und auch im Refrain des Andreas-Hofer-Liedes, der Tiroler Landeshymne, heißt es eindeutig Heiliges Land Tirol:
Zu Mantua in Banden
Der treue Hofer war,
In Mantua zum Tode
Führt ihn der Feinde Schar.
Es blutete der Brüder Herz,
Ganz Deutschland, ach, in Schmach und Schmerz.
|: Mit ihm das Land Tirol,
Mit ihm das Land Tirol.:|
Die Hände auf dem Rücken
Der Sandwirt Hofer ging,
Mit ruhig festen Schritten,
Ihm schien der Tod gering.
Der Tod, den er so manchesmal,
Vom Iselberg geschickt ins Tal,
|: Im heil’gen Land Tirol,
Im heil’gen Land Tirol.:|
Andererseits, es ist zumeist der Außenblick auf Tirol, der das Epitheton „heilig“ mit Tirol in Verbindung bringt. Der Textautor des Andreas-Hofer-Liedes von 1832 war, um beim Beispiel zu bleiben, der Vogtländer Protestant Julius Mosen. Oder denken wir an Bettina Brentano, die in romantischer Verklärung der Tiroler Freiheitskämpfe von 1809 Goethe vom Heiligen Land Tirol vorschwärmte.
Und irgendwie hört ja ein Jeder Lob gerne und ist es den Tirolern nicht übel zu nehmen, selbst mit dieser Bezeichnung zu kokettieren. Denn eines gilt in Tirol als ungeschriebenes Gesetz: Der Tiroler zieht vor niemandem – wer auch immer das sein mag – den Hut, es sei denn vor dem Herrgott!
Nach dem heutigen Tagesprogramm, das einerseits von teils sehr zeitigem Aufstehen, einer mehrstündigen Anreise wie von Sacharbeit am Tagungsnachmittag geprägt war, möchte ich nicht noch mehr mit „schwerer Kost“ belasten. Wer sich nun mit steifer Miene referierte wissenschaftliche Erkenntnisse, am besten gänzlich neue, erwartet, wird enttäuscht werden. Vielmehr sei ein wenig schlaglichtartig und durchaus launig die christlich-katholische Landschaft umrissen, in der die heurige Doppel-ARGE-Tagung stattfindet; gleichsam als ein sehr persönlich geprägtes Stimmungsbild.
Die erste – grundsätzliche – Frage bzw. Problematik betrifft natürlich den Begriff „Tirol“. Was ist damit gemeint? Das österreichische Bundesland Tirol, die Diözese Innsbruck, die ja nur einen Teil des Bundeslandes einnimmt, oder Tirol, als jenes Gebiet, das bis 1919 vom Unterinntaler Kufstein bis zu Riva am Gardasee, also dem Land, in dem bereits die sprichwörtlichen Zitronen blühen, reichte – in letzterem Falle dann aber historisch Anteile an den Diözesen Brixen, Trient, Salzburg samt Chiemsee, Augsburg und Chur hatte, um nur die wichtigsten zu nennen? Ich werde im Folgenden Unschärfen stillschweigend akzeptieren, meinen Schwerpunkt aber – man möge es mir nachsehen – auf das Gebiet der Diözese Innsbruck legen, ist diese doch meine berufliche Heimat, somit jenes Gebiet, das mir am meisten vertraut ist.
Bleiben wir noch beim Heiligen Land. Wenn man durch das Inntal oder eines der Seitentäler fährt, sieht man, dass – neben den allgegenwärtigen Bergen – vor allem Kirchtürme das Land prägen. Ich habe selbst die Probe gemacht. Ich fahre täglich mit dem Rad ca. 12 km nach Innsbruck. Allein im normalen Blickfeld des Verkehrsteilnehmers sehe ich dabei 29 Kirchtürme (Doppeltürme gelten als einer) – Kirchen und Kapellen ohne Türme sind dabei nicht mitgerechnet. Ob man möchte oder nicht, Kirchen prägen den Blick – und auch das Denken?
In gewisser Weise hätte man das wohl noch bis vor ein paar Jahren sagen können. Als einen Beitrag zum 150-Jahr Jubiläum des Freiheitskampfes von 1809 trug das Land Tirol unter dem Titel Stiftung „Tiroler Landesgedächtniskirche St. Paulus“ mehr als die Hälfte der Kosten zur Errichtung der Pfarrkirche St. Paulus im damals neu entstehenden Stadtviertel Reichenau. Als 1963 die Europabrücke eröffnet wurde, weihte man zu Ehren der hll. Johannes Nepomuk und Christophorus auf einem Hügel bei der Brücke auch eine Kapelle, die sogenannte „Europakapelle“. Errichtet nach Plänen von Hubert Prachensky und mit Fresken von Karl Plattner.
Ein wenig Tiroler Kirchengeschichte
Ein Blick sei auf die südliche Seitenwand dieser Kapelle gelegt, die Szenen aus der Tiroler Geschichte zeigt. Zu sehen ist Karl der Große – Tirol, das Transitland seit Urzeiten, durch das man meist reisen musste, um nach Italien zu kommen. Dann, unter österreichischer und Tiroler Fahne, eine mächtige Prozession über die Felder, weiters der Tiroler Bauernaufstand von 1525, angeführt von Michael Gaismair, sowie, im Bild rechts, ein Hirte, der auf das reiche bäuerliche Erbe des Landes hinweist. Die Prozession und der Bauernaufstand sollen uns noch beschäftigen.
Abb. 1: Karl Plattner, Europakapelle Schönberg im Stubai, Südwand (c) Martin Kapferer
Die Alpen waren zwar verkehrstechnisch immer ein Hindernis, aber dieses galt es zu überwinden, wie wir alle nicht erst seit dem Auffinden des „Ötzi“ am Hauslabjoch in den Ötztaler Alpen wissen. Ausgebaute römische Fernverkehrsstraßen durchzogen das Land: einmal über den Brenner, dann die Straße über den Reschenpass in Richtung Augsburg. Entlang dieser Wege etablierte sich das frühe Christentum, wie beispielweise in Wilten bei Innsbruck im Lager Veldidena. Oder in der römischen Stadt Aguntum und im nahe gelegenen Lavant in Osttirol.
Um 400 erfolgt die Gründung der heutigen (Erz-)Diözese Trient durch den hl. Vigil, um 590 jene des Bistums Säben, das nach der Gründung der Stadt Brixen 901 dorthin verlegt wurde. Große Gebietsanteile lagen weiters auf den Gebieten der Diözesen Salzburg (bis heute), Augsburg und Chur, aber auch Verona, Brescia, Padua, Feltre und Aquileia, wie die Pfarre Lavant, sowie Freising und Chiemsee im Inntal. Auf dem Gebiet der Herrschaft der Diözesen Trient und Brixen erwuchs durch stetige Machtzunahme der eingesetzten Vögte die Grafschaft Tirol schließlich unter Meinrad II von Görz-Tirol (1238–1295).
Mit Nicolaus Cusanus stand in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ein überregional anerkannter Kirchenmann an der Spitze der Diözese Brixen – und im Dauerstreit mit den Landesfürsten wie Klöstern. Das Sittenbild der Kirche am Beginn des 16. Jahrhundert entsprach aber dennoch ganz dem allbekannten, wenig schmeichelhaften Bild jener Zeit. So nimmt es nicht Wunder, dass die reformatorischen Gedanken auf fruchtbaren Boden fielen.
Anfang des 16. Jahrhunderts lagen zwei europaweite protestantische Zentren in Tirol: Hall und Schwaz – beides Bergbauorte für Salz (Hall) bzw. Silber (Schwaz). 1521 fanden in Schwaz lutherische Predigten unter großem Beifall statt, 1521 predigte der ehemalige Dominikaner Jakob Strauß in Hall. Im Jahr 1524 bekannten sich sechs Zisterzienser des Oberinntaler Stiftes Stams zur Lehre Martin Luthers. Da half es auch wenig, dass Erzherzog Ferdinand als Landesfürst 1522 jegliches ketzerisches Gedankengut verboten hatte.
Im Jahr 1525 kam es zu einem Bauernaufstand, als dessen Anführer der ehemals im Dienst des Brixener Bischof stehende, damit mit der Kirchenstruktur nur allzu gut vertraute Michael Gaismair gewählt wurde, der eine Landesordnung für eine demokratische Bauernrepublik Tirol verfasste, was unter anderem die Abschaffung der politischen und wirtschaftlichen Macht der Kirche und des Adels sowie die Einführung der Reformation nach Beispiel von Ulrich Zwingli mit sich bringen hätte sollen.
Ab 1526 erschienen erste Täufer in Tirol, 1529 gab es eine Täufergemeinde im Südtiroler Welsberg (dem späteren Geburtsort von Paul Troger, der zahllosen österreichischen Stiften ihren malerischen Glanz verleihen sollte). Ein Name ist dabei besonders zu erwähnen: Jakob Hutter, der zwar nach Mähren flüchtete, aber dann 1536 in Innsbruck vor dem Goldenen Dachl verbrannt wurde. Die Glaubensnachfahren Hutters zogen 1622 von Mähren nach Siebenbürgen, später nach Russland und schließlich 1874 in die USA, wo sie als „Hutterer“ bis heute leben – eine Tiroler Mission der andern Art. Im Laufe des 16. Jahrhunderts konnte immer wieder ein Aufflammen protestantischer Ideen beobachtet werden, so in Hall, Sterzing oder Bruneck.
Dass das die katholische Kirche über Jahrhunderte prägende Konzil von Trient in Tirol tagte, soll in diesem Zusammenhang zwar erwähnt, aber als selbstverständlich nicht weiter behandelt werden. Dennoch war das Sittenbild der katholischen Geistlichen im Lande auch noch am Ende des 16. Jahrhunderts ein trauriges. Nicht nur, dass die meisten Geistlichen immer noch mangelnd ausgebildet waren, sondern, so ergaben die Visitationen, dass noch rund 80 % der Priester im Konkubinat lebten. Gar so heilig ging es im Land da nicht zu.
Eine gemeinsame Kraftanstrengung von Diözesen und Orden vermochte, eingebunden ins politische katholische System, den Umschwung. Zu nennen sind dabei besonders die Jesuiten und als Person der aus Nimwegen stammende erste deutsche Jesuit Petrus Canisius, der von 1571 bis 1577 als Hofprediger in Innsbruck und Volksmissionar wirkte, als Verfasser des „Kleinen Katechismus“ bekannt wurde und sinnigerweise zum Patron der Diözese Innsbruck auserkoren werden sollte.
Stichwortartig seien einige Ordensgemeinschaften erwähnt, die in jener Zeit eine Niederlassung in Tirol errichteten: 1562 die Jesuiten in Innsbruck, 1578 die jesuitische Marianische Kongregation Innsbruck; in Hall 1573 die Jesuiten samt Schule. Franziskaner kamen 1564 nach Innsbruck, 1628 nach Reutte, 1636 nach Hall, 1640 nach Kaltern, 1693 nach Innichen, 1705 nach Telfs. Die Kapuziner gründeten Niederlassungen 1593 in Innsbruck, 1603 in Brixen, 1617 in Meran, 1644 in Schlanders, 1674 in Imst, 1694 in Ried im Oberinntal. Bezeichnend ist dabei auch, dass die letztgenannten Klöster Schlanders und Ried im ländlichen Raum, aber nahe der stark reformatorischen Schweiz errichtet wurden. Meran und Schlanders lagen damals auf Churer Diözesangebiet. Nicht zu vergessen sind die Serviten bzw. in Innsbruck die Servitinnen oder adelige Damenstifte, wie besonders jenes in Hall.
Hinzu kam – für das Brixener Gebiet – eine pfarrliche wie dekanatliche Strukturreform sowie im Jahr 1607 die Errichtung des Priesterseminars in Brixen.
Die von den Orden im Land flächendeckend durchgeführte Volksmission zeigte Erfolg. Und natürlich bedienten sich die Missionare der Mittel sinnlicher Wahrnehmung, die auf besonders fruchtbaren Boden gefallen sind und bis heute in der Bevölkerung in einem sinnlich geprägten Katholizismus zutiefst nachwirken, mögen viele Tiroler auch nicht mehr katholisch sein oder bestenfalls bei der Christmette und dem Auferstehungsgottesdienst in der Osternacht noch in die Kirche gehen. So wurde 1608 in der Innsbrucker Jesuitenkirche die erste Weihnachtskrippe aufgestellt, es folgten im 17. Jahrhundert Heilige Gräber in der Karwoche, Prozessionen, besonders die Fronleichnamsprozession wurden forciert, ebenso Theater, Passionsspiel und ähnliches. Manches gilt bis heute.
Die Gedanken der Aufklärung taten sich da dementsprechend wesentlich schwerer. Auch künstlerisch-stilistisch; bis auf ein paar Stilzitate kennt man in Tirol den „kühlen“ Klassizismus nicht – das Rokoko geht in weiten Teilen Tirols im Laufe des 19. Jahrhunderts in historistische Tendenzen über. Dennoch, die staatlichen Maßnahmen galten auch im Heiligen Land. Von 1782 bis 1787 wurden so in Tirol 21 Klöster aufgehoben, die Wallfahrten, Prozessionen, Heiligen Gräber und – für Tiroler besonders „schlimm“ – auch die Weihnachtskrippen verboten. Kirchenpolitisch setze sich Joseph II. mit dem Wunsche einer Diözesanregelung Tirols samt einer Diözese Innsbruck allerdings nicht durch.
Selbst bei den kürzesten Fakten zur Tiroler Geschichte scheint zumindest die Nennung der Freiheitskämpfe in Napoleonischer Zeit unumgänglich, was in Tirol immer ein Gang in sakrosanktes Terrain ist. Zwei Jahre seien dabei genannt: 1796 und 1809 – auch als „Initialdaten des Heiligen Landes“.
1796 rückten von Süden her Richtung Bozen französische Truppen, worauf der Abt von Stams Sebastian Stöckl den in Bozen versammelten Landständen vorschlug, das Land dem Heiligsten Herzen Jesu zu weihen, was dann am 1. Juni 1796 für alle nachkommenden Generationen gelobt wurde. Sozusagen „Heiliges Land Version 1.0“. Dieses Gelöbnis wird jedes Jahr in Tirol am 3. Sonntag nach Pfingsten erneuert. Und dieser Bund wird bis heute als quasi Tiroler Monopol betrachtet.
Nichts desto trotz fiel Tirol bei dem Frieden von Pressburg 1805 an das mit Frankreich verbündete Bayern, dessen Kirchenpolitik um einiges rigoroser war als jene Josephs II. Sogar Stifte wie Georgenberg-Fiecht, Wilten, Stams, Marienberg im Vinschgau, Gries bei Bozen und Neustift bei Brixen wurden 1807 aufgehoben.
Dann kam „anno 09“. Das Jahr 1809, in dem es, nicht zuletzt gegen diese kirchenpolitischen Maßnahmen Bayerns, unter Führung des Wirtes Andreas Hofer, zu einem Volksaufstand und den berühmten Schlachten am Berg Isel kam. Der Kampf wurde zwar schlussendlich verloren, Andreas Hofer von französischen Truppen in Mantua erschossen, aber ein europäischer Mythos im 19. Jahrhundert des wachsenden unsäglichen Nationalismus war geboren, unter anderem besungen im Andreas-Hofer-Lied des Julius Mosen 1832 – „im heilʼgen Land Tirol, im heilʼgen Land Tirol“ – gleichsam „Heiliges Land Version 2.0“.
Tirol wurde 1815 wieder österreichisch und das 19. Jahrhundert, auch in Tirol eine Zeit des Kulturkampfes, war kirchlich restaurativ geprägt. Auch, und gerade in der Volksfrömmigkeit.
Der Erste Weltkrieg hatte massive Folgen für das Land Tirol – es wurde politisch am Brenner geteilt. Die politische Realität ließ sich auch kirchlich nicht kaschieren, man bedenke, dass der Bischofssitz eines Großteils des nunmehrigen Bundeslandes Tirol und Vorarlbergs im Südtiroler Brixen lag. Die Apostolische Administratur Innsbruck-Feldkirch wurde errichtet, 1921 in Abhängigkeit von Brixen, 1925 direkt dem Heiligen Stuhl unterstellt, seit 1938 mit einem in Innsbruck residierenden Bischof als Apostolischen Administrator und seit 1964 als eigenständige Diözese, von der 1968 die Diözese Feldkirch abgetrennt wurde. 1964 wurde auch die Diözese Bozen-Brixen errichtet, die das Gebiet von Südtirol umfasst, das bis dahin auf Brixen und Trient aufgeteilt war. Das Bundesland Tirol blieb allerdings kirchlich geteilt – das Unterland blieb kirchlich salzburgisch, was den damaligen Landeshauptmann sogar auf die Idee gebracht haben soll, die Schützen, eine in dieser Form wohl auch Tiroler Spezialität mit massiver kirchlicher und politischer Verquickung, gegen „die Salzburger“ aufmarschieren zu lassen.
Das Heilige Land also doch immer eine heile Welt?
Ein Osttiroler Protestant des Defereggentals im 17. Jahrhundert oder ein Zillertaler Inklinant (so bezeichneter Protestant) im Jahr 1837 hätte das definitiv anders gesehen, wurden diese doch aufgrund ihres Glaubens des Landes verwiesen – und das noch 1837. Eine Entschuldigung bei den Nachfahren der Defregger Protestanten sprach dann als Innsbrucker Bischof Alois Kothgasser aus. Nach erbittertem Kampf wurden die ersten protestantischen Gemeinden Tirols 1876 in Innsbruck und Meran gegründet, was für den damaligen Brixener Bischof Vinzenz Gasser ein dermaßen schwerer Schlag war, dass er Papst Pius IX. seinen Rücktritt angeboten haben soll.
Als Jude wird man die heile Welt auch nicht gesehen haben, spätestens dann nicht, wenn jährlich Mitte Juli Heerscharen von braven Katholiken nach Judenstein bei Rinn pilgerten, um, mitgetragen von einer „latenten Portion Antijudaismus“, am Festtag des seligen Anderle dessen mutmaßlicher Ermordung durch Juden zu gedenken. Ein Kult, den erst Bischof Reinhold Stecher entgegen den Widerstand auch mancher frommer Kreise und massiven persönlichen Beleidigungen und Anfeindungen beendet hat.
Machtfaktor Kirche
Noch im 20. Jahrhundert blieb die Katholische Kirche ein bestimmender Faktor im Lande. Dieser Faktor wurde so stark gesehen, dass es in Tirol eine massive Verfolgung der Kirche während des NS-Regimes gegeben hat. Gauleiter Franz Hofer wollte dem Führer einen klosterfreien Gau übergeben. Provikar Carl Lampert war der ranghöchste Geistliche, der im Dritten Reich hingerichtet wurde. Weitere Tiroler Priester wurden hingerichtet, so die inzwischen seligen Otto Neururer und Pater Jakob Gapp sowie Pater Franz Reinisch und Pater Edmund Pontiller. 110 Priester wurden verhaftet, einige verbrachten Jahre im KZ, wie beispielsweise Siegfried Würl oder Dr. Josef Steinkelderer.
Und was blieb vom „Heiligen“ außer touristisch vermarktbares Kokettieren?
Die Tagung der Ordens- und Diözesanarchivare 2017 findet im Tiroler Bildungsinstitut Grillhof, einem Bildungshaus des Landes Tirol statt. Trotz der nicht kirchlichen Trägerschaft ist im Haus eine Kapelle untergebracht und der Rektor des Hauses ist der Pfarrer von Igls-Vill.
Oder denken wir an die Prozessionen, wie jene am Fronleichnamsfest. Stadt und Land bieten ein recht barock festliches Bild. Die Kirchen sind meist sehr voll, in manchen Orten gibt es, sofern es die Witterung zulässt, eine Feldmesse. Dann zieht die Bevölkerung mit dem Allerheiligsten durch den Ort, begleitet von der Gemeindeführung jeglichen Couleurs, dann der Musikkapelle, allen möglichen Vereinen und Verbänden, die Fahnen, gestickte Pölster und vor allem „Ferggelen“ mittragen. Ferggelen (Tiroler Kirchenlatein, von lateinisch ferre, „tragen“) sind geschnitzte Umtragefiguren, die von vier Männern, Frauen oder Kindern getragen werden. Nicht zu vergessen die Schützen, die bei jedem der vier Evangelienaltäre lautstark krachend eine Ehrensalve „in die Luft jagen“, nachdem sie wahrscheinlich ohnehin schon am 5 oder 6 Uhr morgens mit Böllerschüssen den Ort vor dem Hahn geweckt haben.
Am Herz-Jesu-Sonntag wiederholt sich dieses „spectaculum“, nachdem bereits am Vorabend oder dann am Abend desselben Tages auf den Bergen Herz-Jesu-Feuer mit kirchlichen Motiven entzündet wurden bzw. werden. Je nachdem sind dann noch der „Unser-Frauen-Tag“ (Maria Himmelfahrt 15. August) und der Rosenkranzsonntag (1. Sonntag im Oktober) fixe Tage solcher Prozessionen.
Abb. 2: Fronleichnamsprozession Absam 2017 (c) Martin Kapferer
Oder denken wir an den Fasching, die „Fasnacht“. Während anderswo der Fasching erst seinem Höhepunkt zugeht, gibt es einige Orte, in denen stattdessen in der Kirche das ausgesetzte Allerheiligste beim 40-stündigen Gebet verehrt wird, da mit dem Unsinnigen Donnerstag dem närrischen Treiben bereits ein Ende bereitet wurde.
Oder eine aktuelle Episode: „Florianisonntag“ Anfang Mai in der Nähe von Innsbruck. Die Angelobung der neuen Feuerwehrmänner erfolgte am Fest des hl. Florian während der Sonntagsmesse in der Kirche, denn laut Feuerwehrkommandanten sei das der logische Ort und Zeitpunkt für dieses wichtige Ereignis im Leben eines Feuerwehrmannes.
Persönliche Erinnerungen seien genannt: Ich ging in Hall bei den Franziskanern acht Jahre zur Schule – eine wichtige, schöne Zeit! So gibt es bis heute einige konfessionelle Schulen im Land (Franziskaner, Bischöfliches Gymnasium Paulinum, Zisterzienser Stams, Serviten Volders, Ursulinen Innsbruck, Barmherzige Schwestern in Innsbruck und Zams, Dominikanerinnen Lienz). Schulen mit sehr gutem Ruf, aber trotzdem nicht abgehoben elitär, um nur einem kleinen gesellschaftlichen wie finanziell ausgestatteten Kreis zugänglich zu sein. Ganz im Gegenteil, gerade die kirchlichen Schulen boten und bieten breiten, auch ländlichen Kreisen die Möglichkeit einer Bildung und eines gesellschaftlichen Aufstiegs.
Orden betreiben auch Krankenhäuser, vom Privatsanatorium bis zu einem öffentlichen Bezirkskrankenhaus, wie in Zams die Barmherzigen Schwestern.
Also doch alles gut?
Nein! Von den Wunden der NS-Zeit hat sich die Kirche gut erholt, nach dem Zweiten Weltkrieg war es gerade unter der Jugend sogar modern, kirchlich engagiert zu sein, doch die folgenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen machten auch vor dem Heiligen Land keinen Halt. In Tirol war der Bruch vielleicht sogar noch brutaler – von einer Bauerngesellschaft in eine vielfach touristische Dienstleistungsgesellschaft. Bischof Paulus Rusch schrieb dazu: „Zuerst hörte das Tischgebet auf, um die Fremden nicht zu stören; dann fiel der sonntägliche Gottesdienst aus; man mußte den Fremden das Frühstück servieren. Schließlich kam an die Stelle des Herrgottswinkels der Fernsehapparat.“1
Was man beim sonntäglichen Gottesdienst ohnehin sieht und schmerzhaft vermutet legen die nackten Zahlen der Statistik schonungslos offen. In der Diözese Innsbruck sind nur noch 68 % der Bevölkerung katholisch, und auch diese finden meist nur zu Weihnachten und Ostern, oder bei einer Taufe, Hochzeit bzw. einem Begräbnis in eine Kirche. Wurde ein allfälliger Kirchenaustritt früher geheim gehalten – was könnte die Familie oder der Nachbar denken – wird heute immer mehr damit geprahlt, ja in urbanen, vermeintlich intellektuellen Kreisen auch in Tirol immer häufiger geradezu als Voraussetzung eines Dazugehörens zu dieser intellektuellen oder künstlerischen Elite angesehen. Wer betet muss doch dumm sein!
Kann man denn das Heilige Land gar nicht mehr finden?
Finden schon, aber man muss schon genauer schauen. Es gibt immer noch zahllose begeisterte Ministranten, Jugendliche, die sich aus dem Glauben heraus sozial-karitativ einsetzen, tausende Erwachsene, die in ihrer Freizeit in freiwilliger unentgeltlicher Arbeit als Mesner, Pfarrgemeinderat, Pfarrkirchenrat, Firmbegleiter, Tischmutter für Erstkommunionkinder etc. Kirche mit Leben erfüllen.
Und dann kommt diese katholische Sinnenfreude, der man sich in Tirol sehr schwer entziehen kann und die sich sehr schön in Weihnachtskrippen und Heiligen Gräbern manifestiert. Ein durchschnittlicher Tiroler Haushalt hat mindestens eine historische oder neue Weihnachtskrippe, die man mit Stolz dem Interessierten Besucher beim sogenannten „Krippele schaug’n“ herzeigt. Und dies ist undenkbar ohne – hochprozentiges – „Gloriawasser“, mit dem man beim Spruch Gloria anstößt und einem viel Gutes wünscht.
So seien, gleichsam als versöhnlicher Abschluss, ein paar Impressionen des sinnlichen katholischen Tirol gewährt, wohl wissend, wie schmal gerade in diesem Bereich der Grat zwischen Glaube und Folklore ist.
Abb 3: Absam, Pfarrkirche St. Michael, Weihnachtskrippe von Johann Giner d. Ä. (Ausschnitt) (c) Martin Kapferer
Abb. 4: Galtür, Pfarrkirche U. Lb. Frau Mariä Geburt, Heiliges Grab mit Christus am Ölberg (c) Martin Kapferer
1 Paulus RUSCH, Waage der Zeit – Wege der Zeit. Erfahrungen, Erkenntnisse, Wege (Innsbruck–Wien 1983) 23.