Verbotene Korrespondenz
Vortrag gehalten am 23. November 2016 in Wien beim Kulturtag der Orden im Rahmen der Herbsttagung der Ordensgemeinschaften.
Der Protestantismus im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch die Deportationswellen nach Siebenbürgen in den 1730er-Jahren unter Karl VI. und seit den 1750er-Jahren unter Maria Theresia. Diese sogenannten Transmigrationen standen in der Folge der großen Salzburger Emigration nach Preußen und sollten sowohl die Monokonfessionalität des Staates sichern, als auch in merkantilistischer Hinsicht die Abwanderung großer Bevölkerungsteile ins Ausland verhindern. Tausende von Protestanten wurden ohne Rücksicht auf Lebens- und Familienverhältnisse nach Siebenbürgen und Ungarn deportiert: Ehen wurden zerstört, Kinder von ihren Eltern getrennt. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich ins benachbarte Ausland, z. B. nach Regensburg, Ortenburg oder nach Pressburg/Bratislava (Slowakei) absetzten, ist ebenso unbekannt wie die der jungen Männer, die man als besondere Strafmaßnahme zwangsweise rekrutierte.
Obwohl die Geschichte dieses Geheim- oder Untergrundprotestantismus inzwischen recht gut erforscht ist, ist auch hier – wie so oft – die schwer zu ergründende Sicht der Betroffenen zu kurz gekommen, zumal es sich um Bauern und Kleingewerbler handelte, die in ihrem überschaubaren Lebensraum in der Regel nur mündlich kommunizierten. Einschlägige Quellen sind rar. Deswegen möchte man es als Historikerin heute fast einen ‚Glücksfall‘ nennen, dass die österreichischen Behörden jegliche Korrespondenz zwischen den Deportierten, Flüchtlingen und Zwangsrekrutierten auf der einen und den daheim zurückgebliebenen Angehörigen, Freunden und Unterstützern auf der anderen Seite durch Strafandrohungen zu unterbinden versuchten.
Wohl nur aufgrund dieser Kriminalisierung der Korrespondenz haben sich zahlreiche Briefe von Transmigranten, Flüchtlingen und Zwangsrekrutierten quasi als ‚corpora delicti‘ in den verschiedensten Archiven erhalten, denn gemeinhin spricht man – so Michael Hochedlinger, Aktenkunde (Wien 2009) – „dem reinen Privat- oder Mitteilungsbrief […] die ‚Registraturfähigkeit‘ ab“, obwohl dessen „hoher Quellenwert [...] außer Zweifel“ stehe (Aktenkunde, S. 45). Das allseits bekannte und bedauerte Fehlen derartiger Quellen, Briefe von sog. ‚kleinen Leuten‘, ist demzufolge wohl nicht nur ein historisches, sondern auch ein archivwissenschaftliches Problem der Moderne.
Vor allem in Pfarr- und Ordensarchiven, z. B. in Kremsmünster, Lambach und Klagenfurt, hatten Prof. Stephan Steiner von der SFU in Wien und ich zunächst unabhängig voneinander schon vor Jahren zahlreiche solcher Briefe entdeckt. Sie waren meist abgefangen worden, andere wurden von eingeschüchterten Empfängern aus Angst vor Repressalien den Behörden ausgehändigt. Wir beschlossen daraufhin weiter zu suchen, um gemeinsam eine kommentierte Edition dieser Egodokumente zu publizieren (voraussichtlich 2017/18). Im Laufe der Jahre konnten wir eine Sammlung von knapp 150 Briefen zusammentragen, die es erstmals ermöglicht, das Phänomen der Verfolgung und Deportation unerwünschter Untertanen über einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren ‚von unten‘, aus der Sicht der Betroffenen, zu beleuchten und es aus dem vorwiegend konfessionell geprägten Forschungsfeld heraus auf die umfassendere Ebene der Alltags- und Migrationsgeschichte zu heben. Im Gegensatz zu anderen Editionen von Briefen ,kleiner Leute‘ (z. B. Thomas Sokoll (Ed.), Essex Pauper Letters 1731–1837, Oxford University Press 2001) bieten die hier vorliegenden Dokumente aufgrund der besonderen Entstehungssituation den einzigartigen Vorteil, dass sie in konkrete Lebenszusammenhänge eingebettet werden können. Denn von Seiten des zur Überwachung berufenen Verwaltungsapparats finden sich oft unmittelbare Reaktionen in Untersuchungsprotokollen, Weiterleitungsschreiben und Aktennotizen. Für etliche Briefschreiber können biographische Eckdaten und Familienkonstellationen sowie markante Stationen ihrer Verfolgung und ihrer gelungenen oder gescheiterten Integration in neue Gemeinschaften ermittelt bzw. rekonstruiert werden. Welche Fundgrube diese Briefsammlung sein kann, möchte ich für zwei Bereiche exemplarisch aufzeigen: 1. Historische Familien- und Emotionsforschung; 2. Frömmigkeitsgeschichte.
1. Familie und Emotionen
Ich möchte Ihnen zunächst einen kleinen Brief vorstellen, der mich besonders berührt hat. Hans Zierler, 41 Jahre alt, Holzarbeiter in den kaiserlichen Waldungen bei Ischl, war Angehöriger einer neunköpfigen Großfamilie, die wie Pech und Schwefel zusammenhielt und wegen verbotenen Bücherbesitzes von dem zuständigen Pfleger vorgeladen worden war. Da er die Strafgelder, aus denen dieser Pfleger ein einträgliches Geschäft gemacht hatte, nicht zahlen konnte oder wollte, folgte die Haft im Konversionshaus in Kremsmünster. Von dort schrieb Hans Zierler 1766 seiner Frau folgenden Brief:
Gelobt ßey Jesus Christus
Insonders villgeliebtes beyb, ich mache dir zu wissen, dass ich nimer nach hauß derfe […]; derowegen mein liebes beib, ich bitte sich, komme du mihr nach mit unseren kleinen kinderen; wanst du mihr nachkomst mein lieber schaz, so will ich dich und unsere kleine kinder in ehren halten [...] und einen gutten mahn [Mann] erzeigen, dass du dich nicht ßorgen derfest; und die herrschaft sagt mihr, wanst du wilst, so kanst du zu mihr kommen, sonst sehen mihr unser löbtag anein ander nimmer, weill ich nicht nach hauß derfe; und so du mihr nicht folgest, mein liebes weib, so kanst du das nicht verantworten; […] mein liebes beib, ich hab schon vill zehre [=Tränen] vor dich vergossen und wegen die kinder; ich bin betriebt wegen deiner, unserer kleinen kinderen; so du mihr nachkomest, so wirt es mit Gottes und Mariae hillf schon besser werden; mein libes weib, thue das ding recht betrachten. Jezt hast du noch die gelegene zeit, es kan noch einmahl ein zeit geben, dass du gehrn bei mihr werest, kan aber nimmer sein; ich bit dich, due du mein leben nicht abkirzen; Mitthin seit von mihr hundert tausend mahl schen gegrist und ich bin unkatholisch und du bist katholisch und warum solst du mihr nicht nachkommen.
Hans Zierler, der lesen und schreiben konnte, wie wir aus den Verhören wissen, hat diesen Brief, wie sich aus dem Sprachduktus ergibt, mit großer Wahrscheinlichkeit selbst aufgesetzt. Der hohe Grad an Emotionalität, der sich hier offenbart, ist beeindruckend, zumal in der Literatur für den Stand der Bauern und Tagelöhner bisher immer nur die ökonomische Absicherung und Lebensgrundlage der Eheleute und Familien betont wird. Auch andere Briefe zwischen Ehepartnern gehen weit über die immer wieder bemühte Ebene als Arbeitspaar hinaus. Anders als in bürgerlichen Briefen, die meist auf der Grundlage der Briefsteller-Literatur verfasst wurden, werden Emotionen in der Regel – anders als in dem vorgestellten Beispiel – zwar wenig empathisch ausgedrückt, sind aber deutlich spürbar. Ob es sich um Liebe, Sorge, Vertrauen oder Verantwortlichkeit gegenüber dem Anderen handelt, will ich nicht entscheiden. Es fällt auf, dass Ehemänner ihren Frauen Achtung und Respekt entgegenbringen.
Johannes Dimbler, ein wohlhabender und angesehener Bauer unter der Herrschaft Lambach, der jahrelang Geheimprotestanten unterstützt und versteckt hatte, floh 1743 zunächst nach Pressburg, dann nach Breslau, nachdem der Missionar auf ihn aufmerksam geworden war und ihn massiv verfolgt hatte. In einem ersten Brief an seine Frau bedauert Dimbler, dass er nicht früher auf ihren Rat gehört hatte; er schreibt:
Mit Gott
Liebes weib, daß ich dir so lang nit geschrieben, ist die ursach, dass ich nit re[c]ht schreiben kan; ansonst hete ich dir van Breschburg [= Pressburg] geschriben; und ist mir schwer genug gefallen, daß ich habe der königin ihre leute missen verlassen; ich hete nit gemeint, daß so gar schwer würte; außgerechnet, was ich gert [= geredet] habe, dan ich habe al[l]e zeith gekhlaubt, wer auf Gott glaubt, duet re[c]ht, und hoffe noch, er wert uns nit verlassen; aniezo sieh ich erst, daß were guet gebest [es gut gewesen wäre], wan ich dir hete nach dein Rath gefolgt; […].
Seine Hoffnung auf dauernde Heimkehr blieb illusorisch. Doch er kehrte in den folgenden Jahren mehrmals kurzfristig zurück und betrieb später u. a. einen Pferdehandel zwischen Breslau und Lambach.
Die enge Bindung der Eheleute, die sich in diesen Briefen auftut, ist immer wieder bemerkenswert. Der katholische Hans Fischer aus Goisern verlangte 1766 sogar, mit seiner Frau transmigriert zu werden, und erklärte unter verzweifelte[n] gebärden: wo mein weib, will ich auch seyn, und könnte ohne weib nicht mehr leben.
Wenn der Vater von Mathias Parzer auf dem Sterbebett seine vor vielen Jahren in Ebenzweier bei Altmünster zurückgelassene Frau für alles Leid um Entschuldigung bitten lässt, mag dies der Vorbereitung auf den Tod zuzurechnen sein. Anders stellt sich vielleicht der Fall Augstaller dar. Der katholische Wolf Augstaller aus Fischlham hatte selbst das Verfahren gegen seine Frau Katharina auf den Weg gebracht und gegen sie ausgesagt. Im Juni 1754 wurde sie daraufhin mit den fünf erwachsenen Kindern transmigriert, die drei jüngsten mussten zurückbleiben. Doch der Kontakt zwischen den Eheleuten riss nicht ab, im Gegenteil: 14 Jahre später, als das Generalpardon erlassen wurde und man – allerdings irrtümlich –auch für die Transmigranten eine Amnestie erwartete, hatte Augstaller bei Entgegennahme eines Briefes seiner Frau die Ankündigung ihrer Rückkehr erhofft. Stattdessen kommt die Mitteilung von ihrer tödlichen Erkrankung, die alle Hoffnung auf Wiedergutmachung zunichtemacht. Augstaller schreibt seiner sterbenskranken Frau nach Hermannstadt:
Wir beweinen [..] alles, so wir dir etwas zu leydt gethan, wir danken für alle mütterliche treue, liebe und sorgfalt und küssen dafür mit dankbarstem gemüth deine mütterlichen hände und benetzen sie mit unseren thränen. Verzeihe was wir in unsrer jugendt vielleicht aus ohnbedacht wider deinen willen gethan haben, beurlauben können wir uns nicht vor schmerzen, wünschen auf daß es nicht geschehen dörfte und hoffen hier im jammerthal und dort dereinst im himmlischen vaterlandt, uns alle nach der kurzen zeitlichkeit mit freuden einander zu sehen.
In dieser Weise sind viele der abgefangenen Briefe emotional aufgeladen. Vielleicht hat erst die erzwungene Trennung Raum geboten, sich solcher Emotionen bewusst zu werden. Ob sie im alltäglichen Umgang ihren Platz fanden, wissen wir nicht. Doch wenn Wut, Zorn und Ärger gegenüber den verhassten Missionaren ausgelebt wurden, warum dann nicht auch die positiven Gefühle gegenüber dem Ehepartner?
Ein zweiter Aspekt, der in den Transmigrantenbriefen sofort ins Auge springt, ist der der Beziehungen der Eltern zu ihren Kindern. Die zurückgehaltenen Kinder sind Thema in allen Briefgattungen. In den offiziellen Schreiben ans Corpus Evangelicorum und an die österreichischen Behörden mag dies auch ökonomisch begründet sein, waren doch Kinder die wichtigsten Garanten für einen einigermaßen gesicherten Lebensabend. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass das evtl. auszuzahlende Vermögen anteilig für die Versorgung der zurückgehaltenen Kinder einbehalten wurde, was wiederum das Interesse an ihnen aus ökonomischen Belangen erklären würde. Anders lesen sich aber Privatbriefe: Christian Tschrieter bittet 1736 den Pfleger in Paternion, sie wollen mein verbröchen mein weib und kinder keineswögß entgelten lassen, sondern iber sie auch ein getreier vatter sein und bleiben. Hans Baurgängl macht sich Sorgen um sein zurückgelassenes Kind, von dem er gehört habe, dass es mit ihm gar übel zugegangen sei, weil es nicht mehr unter der bank (am warmen Ofen?) gelitten werde, sondern unter das tach (= Dach) abgeschoben worden sei. Er schreibt: das macht uns viell herzenleidt und bekummernuß. Andreas Zedler sorgt sich um die Zukunft seines zurückgelassenen Sohnes und bittet den Bruder, jenem dabei behilflich zu sein, dass er den Beruf des Vaters erlernen könne. Die Beispiele belegen eine starke emotionale Beziehung von Eltern bzw. Vätern zu ihren Kindern unabhängig von deren Arbeitskraft, die in der Sozialgeschichte dieses Standes bisher immer als Basis des Zusammenlebens beschrieben wurde.
Ähnliche Beispiele finden sich auch umgekehrt, also von Kindern zu ihren Eltern: Mathias Parzer, in Hermannstadt inzwischen Wirt und Gastgeb, will seiner in der Herrschaft Ebenzwey zurückgebliebenen Mutter das hinterlassene Erbe ihres transmigrierten Gatten übersenden, da sie die Erste sei, der es zustehe. Nicht wenige bedauern, aus der Ferne ihren Eltern nicht helfen zu können. Andererseits: Der kranke Baumgarthueber in Pressburg fleht den Pfleger in Achleithen inständig an, auf seinen Sohn einzuwirken, dass dieser ihm Geld schicken möge. Auch andere Briefe belegen, dass es oft schwierig war, das rückständige Geld von Verwandten, die den Besitz in der Heimat übernommen hatten, einzutreiben.
Diese letzten Beispiele stützen die herkömmliche Sichtweise (z. B. Edward Shorter, Die Geburt der Familie, 1977), dass die ökonomische Grundlage wichtigste Determinante des bäuerlichen Familienlebens war, in dem Emotionen keinen Platz fanden. Doch dem widersprechen die anderen Briefe in eklatanter Weise. Sie belegen die engen emotionalen Bindungen zwischen Eheleuten und Kindern und strafen die These von der „Lieblosigkeit unter der Landbevölkerung“ (S. 74) von einer unüberbrückbaren Gefühlsdistanz beim Ehepaar (S. 98) Lügen.
II. Frömmigkeit
Fragen nach der Frömmigkeit von Geheimprotestanten und Transmigranten sind seit langem umstritten zwischen Historikern und Theologen und bleiben, wenn sie überhaupt jemals beantwortet werden können, auch in der nahen Zukunft ein Forschungsproblem. Differenziertere Zugangsmöglichkeiten bieten hier – bei allen methodischen Schwierigkeiten – die vorliegenden Briefe.
Es fällt auf, dass die erzwungene katholische Erziehung der zurückgehaltenen noch nicht erwachsenen Kinder niemals angesprochen wird. Es mag sein, dass man dem keinen allzu großen Wert beimaß, da die katholische Zwangserziehung wenig fruchtete. Denn nicht wenige dieser Kinder flüchteten später ins protestantische Ausland oder folgten den Eltern nach Siebenbürgen. Wohl aber sorgte man sich um die Glaubenshaltung der zurückgebliebenen erwachsenen Kinder. Balthasar Gruber und Frau, die nach Neppendorf transmigriert wurden, ermahnen 1754 ihre Kinder eindringlich: mir haben [..] wegen euer vill heißer thrennen vergoßen, als mir von den nachkommen leidten gehört, daß ihr euch zur catholischen religion bekannt und dabey doch kein ruhiges gewißen habt. Sie fordern sie auf – allerdings vergeblich – auch nach Siebenbürgen zu kommen. Auch Hans Platzer und seine Frau beschwören ihre lieben kinder, die wir gezeuget, die wir mit saurer mühe erzogen haben, keine falschen Lehren anzunehmen.
Wenn Dietmar Weikl in seiner Dissertation über „Das religiöse Leben der Geheimprotestanten“ (2012) den Transmigranten u. a. aufgrund einzelner Briefe eine eschatologische Gesinnung (S. 148, 192) zuschreiben will, erscheint dies ziemlich überhöht. Für Einzelne mag eine solche Einstellung zutreffen; neben Kaspar Sonnleitner, den Weikl zitiert, scheinen auch Josef Deibler und Johann Dimbler, von denen jeweils drei bzw. zwei Briefe vorliegen, solche Vertreter gewesen zu sein.
Doch selbst glaubensstarke Transmigranten gerieten in Zweifel: Urban Gänslmayer, Bauer und Weber auf dem Weberhäusl im Saurüssel in der Gemeinde Gschwandt, Pfarre Laakirchen, war dort in den 50-er Jahren einer der Rädelsführer; zehn Jahre später schreibt er aus Hermannstadt an Paul Mittermayer, den Mittelsmann der oberösterreichischen Protestanten in Regensburg, dass er sich nicht wundern würde, wann auch der herr des erbarmens müde würde. Weiter heißt es: denn uns kommt diese züchtigung lang vor, und meynet unser fleisch und blut oft, der herr hat uns verlaßen, der herr hat uns vergeßen, daß wir oft sprechen: Liebster herr Jesu, wo bleibst du so lange, komm doch, mir wird auf der erden sehr bange; wann ich in nöthen oft winsele und zitter, horchst du von weiten und sihest durchs gitter. Gänslmayer zitiert hier die 5. Strophe des Liedes „Lieber Herr Jesu, wo bleibst du so lang“, das später von Johann Sebastian Bach vertont wurde. Seine Hoffnungen, zu denen er am Ende des Briefes zurück kehrt, sind nicht auf das Jenseits gerichtet, sondern darauf, dass Gott alle hohe obrigkeiten mit seinem heiligen geist regieren wolle, und gedancken des friedens in ihre herzen pflanzen und in ihnen barmhertzigkeit und mitleyden erwecken werde.
In den meisten Privatbriefen steht der Austausch über das Befinden derer im Exil und der daheim Zurückgebliebenen im Vordergrund. Religiöse Aussagen sind vielfach auf Anrede- und Grußfloskeln beschränkt. Wenn in den Briefen längere Passagen mit Bibelzitaten vorkommen – solche finden sich vor allem in den mittleren 1730er- und 1750er-Jahren – scheinen diese unter Mithilfe der vor Ort in Siebenbürgen tätigen Theologiestudenten aus Halle, die in verschiedenen Briefen erwähnt werden, abgefasst worden zu sein.
Insbesondere Briefe von Zwangsrekruten und Flüchtlingen, denen die Halt und Zuspruch spendende Gemeinschaft der Glaubensgenossen fehlte, zeigen, dass diese relativ schnell zur Konversion bereit waren. So legte Mathias Nidermayr aus Schwanenstadt 1753 bereits acht Tage nach seinem Abtransport in die Kaserne in Ybbs das Versprechen ab, sich fürohin alß standthaftes mitglied zue der röm. cathol. Kirche zu bekennen. Vor seiner Verhaftung war er von seiner katholischen Ehefrau immer wieder vergebens ermahnt worden, sich im Wirtshaus zurückzuhalten. Durch die Konversion hoffte er, wiederumb zu meinem verlassenen weib und kinder zurug zu kommen, welches bishero jederzeit mein will und gedancken gewesen ware. Doch diese Hoffnung trog. Nidermayr machte sich schließlich auf eigene Faust auf den Weg, meldete sich sogar bei dem Pfarrer in Schwanenstadt zurück, der ijber seine reumüthige bekherung seine freyd bezeiget. Doch der Religionsconsess erkannte die verheerenden landtschädlichen Folgen einer solchen Rückkehr, die das ganze heyl. Missionsgebäu ruiniren werde, denn dann werde kein Katholik mehr bereit sein, ein von Transmigranten verlassenes Gut zu kaufen. Zwei Monate später wurde Nidermayer ein zweites Mal transmigriert; Begründung: seine Flucht aus der Kaserne in Ofen. Nidermayer war weniger wegen seines Glaubens als wegen seines losen Mundwerks in die Räder der Verfolgungsmaschinerie geraten; die Konversion fiel ihm nicht schwer, denn die Familie war ihm wichtiger.
Andere, denen der protestantische Glaube tatsächlich am Herzen lag, hatten wohl größere Schwierigkeiten. Doch sie konnten sich auf eine Empfehlung des Ortenburger Pfarrers berufen, der erklärt hatte, dass die Ablegung des katholischen Glaubensbekenntnisses zur Vermeidung der Transmigration keine Sünde sei, wenn man nur im Herzen am lutherischen Bekenntnis festhalte (Weikl, S. 278). Dies scheint bei Johann Feichtenberger der Fall gewesen zu sein, der zwar wie Nidermayer in der Kaserne konvertierte, aber später als Transmigrant in Hermannstadt lebt. Gezeichnet von schwerer Krankheit schreibt er aus der Kaserne in Komorn an den Pfleger in Kirchham, er möchte doch noch ein einziges Mal sein armes weib und kinder […] zu sehen bekommen. Feichtenberger hatte auch seiner zurückgebliebenen Frau die Konversion nahegelegt. Doch sie blieb standhaft: Mag sich der mann bekehrt haben oder nicht, ich bleibe wie ich bin und ändere mich nicht. Ein jedes muss seine eigene haut zu markte tragen. Dies ist, neben anderen Hinweisen im Kontext der Briefe, einmal mehr ein Beleg für die richtige Forderung von Christine Tropper (2013), „die Bedeutung von Frauen für den Geheimprotestantismus“ genauer zu untersuchen. Zudem finden sich gerade in der Spätphase der Transmigrationen gehäuft Forderungen alleinstehender, sehr selbstbewusster Frauen, bei denen man geneigt ist, an die Trümmerfrauen nach dem Zweiten Weltkrieg zu denken.
Zwei anonyme Briefe von Bauern aus dem oberösterreichischen Kematen und aus Gmünd in Kärnten an das Corpus Evangelicorum belegen allzu deutlich, dass es nicht nur um die Anerkennung bzw. Unterdrückung der lutherischen Konfession ging. Mindestens ebenso wichtig waren die sozio-ökonomischen Verhältnisse, deren Missstände die Bauern durch Bilder des Alten Testaments problematisieren. Die Gmünder Bauern bitten um Erlösung aus der eggiptischen Tienstbarigkeit, sie wehren sich gegen ständig steigende Abgaben und Frondienste, gegen Beleidigungen und Schmähungen, Verfluchungen und Verdammungen von der Kanzel herab. Die Kemater Bauern suchen Hilfe beim Corpus Evangelicorum, um weiterhin Luthers haußpostill , aber auch die päpstische pibel und das pamperger bettbuch – zwei Werke, die ich nicht einzuordnen vermag – lesen zu dürfen. Sie hoffen, dass die anderchristische pfaffen gestäupt werden.
Die Beispiele zeigen, dass die Frömmigkeit der Geheimprotestanten bzw. Transmigranten, der Zwangsrekruten und Flüchtlinge sich differenzierter gestaltete, als es bisher gesehen wurde. Analytisch lassen sich vier Gruppen voneinander trennen:
Die erste Gruppe bildeten Transmigranten, die eine feste Glaubensüberzeugung hatten, zu keinerlei Kompromissen bereit waren und auch die Trennung von der Familie in Kauf nahmen. Sie hatten meist sehr gute Bibelkenntnisse; unter ihnen waren wohl diejenigen, die eschatologisch dachten.
Auch die zweite Gruppe war von ihrem Glauben überzeugt, vertrat aber eine nikodemitische Haltung. Nikodemiten nannte man im 16. Jahrhundert die Gläubigen, die es für erlaubt hielten, den Glauben unter Druck zu verleugnen, um etwa sein Leben zu retten. Der Name leitet sich von dem Pharisäer Nikodemus ab, der Jesus nur in der Nacht, also heimlich, besuchte. Zum Zwecke der Familienzusammenführung und um die Transmigration, Flucht oder Rekrutierung rückgängig zu machen, war man zur äußerlichen Konversion bereit, um dann aber bei erster Gelegenheit zum Protestantismus zurückzukehren.
Eine dritte Gruppe scheint eine eher opportunistische Haltung vertreten zu haben. Ihnen war die Familie wichtiger als die Konfession. Manche gehörten wohl in erster Linie nur deswegen zum protestantischen Lager, weil man Teil der betreffenden Gruppe war. Sie versuchten wie z. B. Nidermayer, sich durch aggressives gruppenkonformes Verhalten hervorzutun und hatten, wenn es ernst wurde, mit der Konversion keine oder kaum Probleme.
Viertens: Angesichts der nicht enden wollenden Not und ausweglosen Situation sind sogar manche glaubensstarke Protestanten wie Urban Gänslmayer in echte Glaubenszweifel geraten.
In der österreichischen Protestantismusforschung wird meist die erste Gruppe in den Vordergrund gestellt, doch dies wird der Vielfalt der Motive, der Verquickung religiöser und sozialer Faktoren, sicher nicht gerecht.
Ich will es bei diesen Beispielen bewenden lassen. Ich hoffe, es ist mir gelungen aufzuzeigen, welchen Wert die Briefe sowohl für den relativ jungen Bereich der Emotionsforschung als auch für die Frömmigkeitsforschung haben; letztere bedarf sicher noch weiterer detaillierter Analysen. Denn erstaunt nimmt man die oft vertraut klingenden Briefe an Pfleger und Pfarrer in der Heimat zur Kenntnis. Mit Staunen registriert man auch die relativ zahlreichen Mischehen, in denen die Ehepartner bei aller konfessionellen Differenz im Alltag offensichtlich recht gut miteinander zurechtkamen. Während in Verhören immer wieder angegeben wird, man könne sich nicht zur Konversion entschließen, um nicht die eigene Seligkeit zu riskieren, hoffen die konversionsverschiedenen, Briefe schreibenden Eheleute in gegenseitigem Vertrauen auf ein freudiges Wiedersehen im Jenseits. Was tatsächlich geglaubt wurde und was man nach außen preisgab, machte offensichtlich einen Unterschied. Zu Hoch-Zeiten der Transmigrationen und Zwangsrekrutierungen handelte es sich wohl zum großen Teil um Machtkämpfe zwischen fanatischen Missionaren, die von auswärts kamen, auf der einen Seite, und Bauern und Kleingewerblern mit ausgeprägtem Rechtsempfinden, die ihre althergebrachten Traditionen, z. B. das Lesen von Büchern und die Ehre der geheimprotestantischen Vorfahren, standhaft zu verteidigen suchten, auf der anderen.
Benutzte Archive
Österreich:
Graz, Steiermärkisches Landesarchiv
Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv
Kremsmünster, Stiftsarchiv
Lambach, Stiftsarchiv
Linz, Oberösterreichisches Landesarchiv
Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Haus-, Hof- und
Staatsarchiv
Deutschland:
Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv
Gundelsheim/Neckar, Siebenbürgen-Institut, Archiv und Bibliothek
Hamburg, Stadt- und Universitätsbibliothek
Rumänien:
Sibiu, Arhiva centrala a Bisericil Evanghelice C. A. din Romania / Zentralarchiv der Evangel. Kirche A.B. in Rumänien