Reformation global?
Was heute mediengerecht personalisiert als Lutherdekade oder als Luthereffekt vermarktet wird, hieß vor einem halben Jahrhundert noch steif und sachlich Weltwirkung der Reformation. Freilich bestand diese Welt damals aus Deutschland oder höchstens aus Europa, während heute das evangelische Halbmillenium ganz selbstverständlich zur globalen Angelegenheit geworden ist. Allerdings muss es gerade deswegen mehr denn je von der Person Luthers abgelöst werden – bezeichnenderweise ganz ähnlich wie die Geschichte des Christentums von der Person Jesu Christi! Denn der Luthereffekt war viel eher ein Lutherimpuls. Bereits die von ihm in Deutschland ausgelöste evangelische Bewegung entglitt zu großen Teilen der Kontrolle des Reformators und an der anschließend von den Obrigkeiten durchgeführten Reformation durfte er gerade noch mitwirken. Die Befreiung von der römischen Kirchenherrschaft brachte je länger desto mehr eine evangelische Vielfalt voller Widersprüche hervor, in der Lutheraner längst nur noch eine Minderheit darstellen. Weltweit wichtiger sind die Reformierten, die sich aus dem Genf Johannes Calvins herleiten. Aber auch sie haben keineswegs die Mehrheit, denn daneben existiert eine bunte Welt so genannter Freikirchen.
Expansion des Protestantismus
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts waren von den 7 Milliarden Menschen 2,2 Milliarden Christen, gefolgt von 1,4 Milliarden Muslimen, 900 Millionen Hindus, 800 Millionen Nichtreligiösen, vor allem in China, und 400 Millionen Buddhisten. Die Christen sollen jeweils zur Hälfte Evangelische und Katholiken gewesen sein. Doch von diesen Evangelischen gehören nur 426 Millionen zu den „klassischen Gemeinschaften der Reformation“, wie die Evangelische Allianz Deutschland die älteren protestantischen Kirchen bezeichnet, davon nur 70 Millionen zum Lutherischen Weltbund mit 145 Kirchen in 79 Ländern. Der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen gehören 80 Millionen Christen von 230 Kirchen aus 108 Ländern an. Dem stehen zunächst die älteren freikirchlichen Gemeinschaften gegenüber. Zur Baptist World Alliance gehören allerdings nicht alle ca. 100 Millionen Baptisten in 160 Ländern. In den USA, wo die meisten Baptisten leben, sind die Southern Baptist 2004 aus dem Verband ausgetreten. Entsprechendes gilt für den World Methodist Council, der 102 Kirchen in verschiedenen Ländern mit zusammen 39 Millionen Mitgliedern umfasst. Neben den USA sind hier vor allem afrikanische Länder wichtig.
Während die Baptisten auf die von den Reformatoren bekämpften Täufergemeinden der frühen evangelischen Bewegung zurückgehen, gehören die Methodisten zu den Erweckungsbewegungen des 18. Jahrhunderts, die für die weltweite Ausbreitung des Protestantismus von ausschlaggebender Bedeutung waren. Denn die religiöse Globalisierung ist älter als die aktuelle ökonomische und politische. Mehr noch als der Islam und der Buddhismus war das Christentum von Anfang an eine missionarische Religion, die sich in immer neuen Wellen über die jeweils bekannte Welt verbreitete.
Die Neuzeit begann allerdings mit einem Triumph der römischen Kirche, die den größten Teil der Bewohner der neuentdeckten Welt im Westen für sich gewinnen konnte und in Ost- und Südasien vorübergehend religiöse Kulturkontakte riskierte, die heute noch Respekt abnötigen. Aus theologischen, vor allem aber aus praktischen politischen Gründen blieben die Missionsanstrengungen und Erfolge der Kirchen der Reformation im Vergleich zunächst marginal. Denn die soft power des Evangeliums setzte sich deswegen erfolgreicher denn je durch, weil sie mit der hard power des Kolonialismus, der europäischen Expansion, einherging. Das war aber zuerst diejenige der iberischen Monarchien. Die frühe niederländische und britische Expansion wurde demgegenüber von privaten Profitinteressen getragen, die wenig Interesse an Mission zeigten.
Abb. 1: Bartolomé de Las Casas (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bartolomedelascasas.jpg, 20.12.2016)
Es war aber auch das private Engagement von erweckten evangelischen Christen, das im 18. und 19. Jahrhundert einen Wandel herbeiführte. Es handelte sich um einen gewaltigen religiösen Impuls, dessen Vertreter sich durchaus als Vollender der Reformation oder wie einst die Calvinisten als „zweite Reformation“ verstehen konnten. Während die katholischen Missionen mit der Aufhebung des Jesuitenordens 1759–1773 und dem Zusammenbruch des Ancien Régime seit 1789 in eine schwere Krise gerieten, blühten die evangelischen in der Hand zahlreicher (halb-)privater Missionsgesellschaften immer weiter auf. Vor allem in Afrika, Asien und Australasien erlebt der Protestantismus jetzt sein missionarisches Zeitalter weltweiter Expansion. Am Zusammenspiel mit dem europäischen Kolonialismus änderte sich dabei aber nur, dass es sich jetzt um dessen zweite Welle unter britischer Führung handelte. Im 19. Jahrhundert sollte dann auch das Deutsche Reich mit seinen Missionsgesellschaften hinzukommen, die unter anderem in Namibia und Tansania evangelische Kirchen hinterlassen haben. Allein in Afrika bestanden vor dem Ersten Weltkrieg ein halbes Tausend evangelische Missionsstationen mit dem Ergebnis, dass 1984 weit mehr als die Hälfte der afrikanischen Christen evangelisch gewesen sind, bezeichnenderweise mit Schwerpunkten in den ehemaligen britischen und deutschen Kolonien.
Von Anfang bis Ende der Missionsgeschichte bedeutet diese Symbiose freilich nicht, dass Missionare sich pauschal als Agenten des Imperialismus abqualifizieren ließen, wie es im Gefolge des Marxismus üblich war. Auch wenn es vor allem in China bisweilen sehr danach aussah, konnte durchaus das Gegenteil richtig sein. Wie bereits zu Beginn mit Bartolomé de Las Casas (1484–1566) ein unerbittlicher katholischer Kritiker des spanischen Kolonialismus auftrat, so war zum Beispiel auch Franz Michael Zahn (1833–1900), der Inspektor der in Westafrika tätigen evangelischen Norddeutschen Mission, ein Gegner von Kolonien, erklärte kolonialpolitisches Engagement von Missionaren 1888 schlicht zum „Verbrechen“ und 1891 den „Neger“ zum „Bruder in Christo“, dem mit gleicher „Ehrerbietung“ zu begegnen sei.
Der Zusammenhang zwischen Protestantismus und Kolonialismus, der bis heute nachwirkt, war komplizierter. Er lässt sich am weitgehenden Schul- und Bildungsmonopol verdeutlichen, das Missionen aller Konfession infolge der Sparsamkeit der Kolonialmächte innehatten. Bekehrung, auch wenn sie durchaus religiös motiviert war, bedeutete daher bereits sprachlich Zugang zur überlegenen Lebensweise des Westens und den von ihr eröffneten neuen Lebenschancen. Sie mochten wollen oder nicht – die Glaubensboten aller Richtungen verbreiteten unausweichlich mit ihrer Religion auch die westliche Kultur mit allen ihren Errungenschaften. Der Missionar David Livingstone (1813–1873) wurde nicht nur zum Entdecker Afrikas, sondern auch zur Vorhut seiner Eingliederung in die westliche Weltwirtschaft.
Reformation als Vorbild zur Bewältigung des Kolonialismus
Vor allem für Angehörige der traditionellen Hochkulturen Asiens brachte der Zusammenstoß mit der westlichen Kultur im Zeichen des Kolonialismus häufig die traumatische Erfahrung politischer und kultureller Unterlegenheit mit sich. Was lag näher, als diesen Zustand durch Reformen nach westlichem Vorbild zu überwinden? Je länger desto mehr spielte dabei auch die Reform des religiösen oder weltanschaulichen Kerns der eigenen Kultur eine Rolle. Einerseits hatte man nämlich erkannt, dass sich kulturelle Errungenschaften, sogar militärische, nicht ohne ihren kulturellen Kontext, oder wie man früher zu sagen pflegte, ihre geistigen Grundlagen, übernehmen ließen bzw. dass letztere ohnehin zusammen mit den ersteren unausweichlich einsickern würden. Andererseits bestand die differentia specifica traditioneller Kulturen in der Religion bzw. ihrer weltanschaulichen Entsprechung wie z. B. dem chinesischen Konfuzianismus. Gezielter wie unbeabsichtigter Kulturwandel konnte also diesen Bereich gar nicht unberührt lassen. Dabei berief man sich bisweilen ausdrücklich auf die Reformation, denn die zweite Welle des Kolonialismus unter britischer Führung war eine protestantische und der Protestantismus galt als Prinzip des Fortschritts.
Sogar das deutsche Reformjudentum schlug den Weg einer „Protestantisierung“ ein, als es nicht mehr das überlieferte Gesetz, sondern Glaubensinhalte und Ethik in den Mittelpunkt stellte und sich zu diesem Zweck sogar der lutherischen Erfindung des Katechismus bediente.
Der Islam hatte schon immer Erneuerungs- und Reinigungsbewegungen gekannt, nicht selten solche von messianischem Charakter. Schon vor der genannten kritischen Entwicklung hatte unter anderen Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703/4–1792) auf der arabischen Halbinsel den Islam zur ursprünglichen Strenge zurückgeführt und von abergläubischen Praktiken wie der Heiligenverehrung gereinigt – mit Folgen für Saudi-Arabien und den islamischen Radikalismus bis heute. Aber Männer wie Jamal ad-Din al-Afghani (1838/39–1897), Muhammad Abduh (1849–1905) und Muhammad Rashid Rida (1865–1935) betrachteten die Reinigung des Islam vor allem als die angemessene Reaktion auf die Herausforderung des Westens. Im Gegensatz zu Traditionalisten plädierten sie nicht nur für die Übernahme westlicher Errungenschaften, sondern vertraten sogar die Auffassung, ein gereinigter Islam enthalte bereits die westlichen Werte einschließlich der viel berufenen Rationalität. Bezeichnenderweise waren sie vor allem in Ägypten tätig, das in besonderem Maße unter Modernisierungsdruck stand.
Die Leitkategorie islah (wörtlich: heil machen) spielte zwar von Anfang an im muslimischen Denken eine Rolle, erhielt aber jetzt in der Bedeutung von „Selbstverbesserung“ (englisch “self-improvement“) besonderes Gewicht. Dabei wurde idjtihad (wörtlich: Anstrengung) als persönliches Verstehen von Koran und Sunna – von Heiliger Schrift und Tradition – zum Recht, ja zur Pflicht jedes Gläubigen. Auch wenn al-Afghani nicht ausdrücklich die Rolle Luthers für sich in Anspruch genommen hätte – die Analogie zur Reformation ist nicht zu übersehen.
Abb. 2: Anagarika Dharmapala (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Anagarika_Dharmapala.jpg, 20.12.2016)
Anagarika Dharmapala (1864–1933), eine maßgebende Figur des von Ceylon / Sri Lanka aus erneuerten Buddhismus, stilisierte sogar den Buddha selbst zum Luther des Buddhismus als einer „protestantisch“ begriffenen Religion. Hatte der Buddha sich nicht wie Luther gegen die religiöse Autorität der Veden und der Brahmanen aufgelehnt? Auch in Britisch-Indien war die Reformdiskussion unter Modernisierungsdruck besonders lebhaft. Damals bürgerte sich die neue Übersetzung von (religiöser) Reform als (dharmik) sudhaar ins Hindi ein. Bereits Rammohun Roy (1772–1833) hatte ausgehend von der Vedanta-Philosophie durch die Reinigung der vielfältigen indischen Religiosität von abergläubischem Götzendienst und die Befreiung von der Priesterherrschaft eine streng monotheistische Religion schaffen bzw. – angeblich – wiederherstellen wollen. Auch durch Übersetzung indischer religiöser Begriffe hat er den Anfang damit gemacht, dass zumindest im westlichen Verständnis so etwas wie eine einheitliche Religion Hinduismus wahrgenommen werden konnte. International galt er als “the Luther of India“, lehnte diesen Ehrentitel selbst aber ab, denn er hielt sich lieber an die Unitarier. Swami Vivekananda (1863–1902) ging später ebenfalls von einer Variante des Vedanta aus und begann nach seinem viel beachteten Auftritt auf dem Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago mit der nach seinem Lehrer, dem Mystiker Ramakrishna (1836–1886), genannten Ramakrishna-Mission für die weltweite Verbreitung indischer Spiritualität zu werben. Ein Mitglied der swedenborgianischen Freikirche hatte diese Nebenveranstaltung zur damaligen Weltausstellung von Chicago angeregt. So konnte im Zeichen des westlichen Universalismus protestantischer Herkunft das Angebot eines alternativen Universalismus des Ostens an den Westen seinen Anfang nehmen.
Abb. 3: Kang Youwei (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Portrait_of_Kang_Youwei.jpg, 20.12.2016)
Auch wenn die traditionelle konfuzianische Weltanschauung Chinas sich nicht ohne weiteres als Religion wie andere behandeln lässt, spielten die Begriffe gaige (wörtlich: etwas ändern) oder gar zongjiao gaige (religiöse Reform, Reformation) um dieselbe Zeit ebenfalls ihre Rolle. Kang Youwei (1858–1927), der intellektuell führende unter den gescheiterten Reformern von 1898, wurde von seinen Schülern sogar als der Martin Luther des Konfuzianismus bezeichnet, obwohl er diesen in seiner stark westlich inspirierten universalistischen Utopie Datong Shu (Buch von der großen Gemeinschaft, soll heißen: von der Menschheit) umgeformt wenn nicht überwunden hatte. Nichtsdestoweniger schlug er vor, das Geburtsjahr das Konfuzius statt Christi Geburt zur Ära eines neuen Weltkalenders zu machen!
Seine Unterscheidung von shendao (Götterweg) für christliche und andere Religionen und rendao (Menschenweg) für den Konfuzianismus und seinen eigenen Entwurf lässt aber besonders deutlich erkennen, dass bei den Reformern des 19. Jahrhunderts nicht nur religiöse Impulse des Protestantismus, sondern auch säkulare der europäischen Aufklärung wirksam waren. Freilich sind beide nicht reinlich zu trennen, weil nicht nur erweckte Christen, sondern auch Aufklärer mit dem Anspruch auftraten, die Vollender der Reformation im Geiste Luthers zu sein. Das lief auf eine Vernunftreligion mit individueller Gewissensfreiheit hinaus und sollte den Protestantismus für die laufende Modernisierung der westlichen Welt anschlussfähig machen oder sogar zu deren Ursache erheben. Der Katholizismus hatte sich nämlich unterdessen im Pianischen Zeitalter (1791–1958) für anderthalb Jahrhunderte aus der Moderne verabschiedet.
Kulturprotestantische Meistererzählungen
Die große Erzählung dieses modernitätsstolzen Kulturprotestantismus ist Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus des Universalgelehrten Max Weber (1864–1920) von 1904/05. Sie beansprucht heute noch kanonische Geltung, denn es geht darin um den entscheidenden Beitrag des Protestantismus zur modernen Welt. Mit beträchtlicher Gelehrsamkeit wollte Weber nachweisen, dass die protestantische Berufsethik asketischer Calvinisten in säkulares Unternehmerverhalten transformiert worden sei und dadurch zur Entstehung des Kapitalismus beigetragen habe. Angesichts der erschreckenden Prädestinationslehre Calvins hätten diese Leute aus asketischer Lebensführung und dem daraus erwachsenden wirtschaftlichen Erfolg die Gewissheit ihrer Erwählung abgeleitet und so ihre Höllenangst überwunden. Inzwischen sei aber aus dieser religiösen Motivation der Zwang zum Geldverdienen ein Selbstzweck geworden. Der daraus erwachsene Kapitalismus war für Weber aber nur ein Bestandteil der umfassenden rationalen Weltordnung des modernen Abendlandes, die es vom Rest der Welt unterschied und ihm überlegen machte. Sie wollte er erklären.
Abb. 4: Max Weber (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Max_Weber, 20.12.2016)
Deshalb führte er als Gegenprobe anschließend vergleichende Untersuchungen über Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen durch, die 1920/21 zusammen mit der Protestantischen Ethik als Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie erschienen sind. Er bearbeitete Konfuzianismus und Taoismus, Hinduismus und Buddhismus sowie das antike Judentum, das für ihn zwar keine Weltreligion, aber durch seine Propheten prägend für die abendländische Kultur gewesen ist. Seine Einstellung zum Islam lässt sich aus anderen Texten erschließen. Über sein Vorgehen bei der protestantischen Ethik hinaus verknüpfte er jetzt die religionsgeschichtliche Fragestellung mit gründlichen Untersuchungen zum Gesellschafts- und Herrschaftssystem der betreffenden Kulturen.
Bei seiner eurozentrischen Fragestellung stand das Ergebnis freilich von vorneherein fest. Mit großer Gelehrsamkeit führte er auf der Grundlage des damaligen Forschungsstandes nur noch den Nachweis, warum die betreffenden Kulturen mit ihren jeweiligen Religionen und Weltanschauungen keine moderne Wirtschaft und weltgestaltende Rationalität hervorbringen konnten. In China und der islamischen Welt habe das Fehlen autonomer Stadtgemeinden ein strategisches Defizit bedeutet, während Indien durch das religiös legitimierte Kastensystem blockiert gewesen sei. Die in jenen Kulturen ebenfalls vorhandene Rationalität sei im Gegensatz zum abendländischen Weltgestaltungswillen in China auf Einfügung in die kosmische Ordnung gerichtet gewesen, in Indien auf Techniken der Weltverneinung. Die weltgeschichtliche Führung der abendländischen Rationalität protestantischer Herkunft war damit wissenschaftlich legitimiert.
Max Weber bezeichnete sich zwar als „religiös unmusikalisch“, war aber mit der evangelischen Theologie vertraut und ein für alle Mal von der historischen Inferiorität des Katholizismus überzeugt. Die protestantische Ethik kann durchaus als „eine Kampfschrift des Kulturprotestantismus im Gewand einer wissenschaftlichen Untersuchung“ bezeichnet werden.1 Nichtsdestoweniger verabscheute er das Luthertum seiner Mutter und auch das Verhältnis zu den Puritanern, seinen Helden, und zur Modernisierung war nicht ungebrochen. Berühmt ist seine Feststellung: „der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein“, gefolgt von der Rede vom „stahlharten Gehäuse“, das daraus entstanden ist und in dem die Menschen wohnen müssen.2 Dennoch, auch in säkularisierter und vielleicht sogar tragischer Gestalt war der reformierte Protestantismus für ihn zur globalisierten Religion der Modernität geworden. Das konvergierte durchaus mit dem Selbstverständnis der zeitgenössischen Reformer aus anderen Kulturen.
Aber dieses protestantische Selbst- und Weltverständnis ist inzwischen aus zwei Gründen hinfällig geworden. Erstens sind Webers Thesen fehlerhaft und widerlegt. Die protestantische Ethik hat sich durch Webers mangelnde wissenschaftliche Sorgfalt und seinen willkürlichen Umgang mit den Schlüsselquellen von selbst erledigt. Der Einfluss von Religion auf das Wirtschaftsverhalten war auch nie so direkt und auf eine Konfession beschränkt. Die Untersuchung der Auslegung des biblischen Talente-Gleichnisses Mat 25, 14–30 und Luk 19, 11–27 durch Katholiken, Lutheraner und Reformierte hat anders, als nach Weber zu erwarten wäre, kaum Unterschiede ergeben. Auch die Calvinisten lassen die weltliche Wirtschaft dabei beiseite. Und im Gegensatz zu Max Webers Spiritualismus hat Kapitalismus überhaupt keinen Geist, sondern ist von aggressiver Faktizität, die sich durchsetzt und ihre Legitimation selbst erzeugt. Webers These überlebt nur, weil sie immer noch bestimmte Bedürfnisse bedient. Durch Talcott Parsons‘ Übersetzung ist sie in Amerika geradezu ein sacred text geworden, der amerikanische Träume formuliert: einerseits die kapitalistischen Lohnarbeits- und Kleinunternehmermoral des wirtschaftlichen Erfolgs, anderseits die chiliastische Vorstellung von der Ausbreitung der eigenen einzigartigen, aus dem Puritanismus und der Erweckungsbewegung erwachsenen Lebensform über die ganze Erde.
Die breiter angelegte Wirtschaftsethik der Weltreligionen enthält zwar solidere Ergebnisse, leidet aber unter der eurozentrischen Fragestellung und Begrifflichkeit. Asiatische Befunde wurden zu Unrecht an europäischen wie dem angelsächsischen Kapitalismus oder der italienischen Stadtrepublik des Mittelalters als Normalfällen gemessen. Weber hielt vergebens Ausschau nach abendländischen Phänomenen wie Dogma, Glaube, Gnade, Gebot und sogar nach der Religion selbst im europäischen Sinn, denn wenn es anderswo solche Dinge gab, wurden sie mit anderen Kategorien sortiert. In Indien hatten die Engländer die spezifisch brahmanische Gesellschaftstheorie des Kastensystems übernommen, sie implementiert und anschließend empirisch verifiziert. Max Weber fiel prompt auf dieses zirkuläre Verfahren herein. In China kam sein allzu eindeutiges Bild des Konfuzianismus durch Unkenntnis der Blütezeit der Song-Kultur mit ihrem Neo-Konfuzianismus zustande. Seine Konstruktionen statischer Nicht-Europa machen Weber also geradezu zum Klassiker des Othering und des Orientalismus im Sinne Edward Saids.
Abb. 5: Karl Jaspers (Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karl_Jaspers_1946.jpg, 20.12.2016)
Vor allem aber musste seine eurozentrische Meistererzählung infolge gewandelter Machtverhältnisse nach dem Zweiten Weltkrieg und der Dekolonisation dringend durch eine polyzentrische ersetzt werden. Das sollte die universalhistorische These von der Achsenzeit leisten, die der Philosoph und Weber-Verehrer Karl Jaspers (1883–1969) schon 1949 vorlegte, auch er mit kulturprotestantischem Hintergrund. Denn er geht von der „Glaubensthese aus, dass die Menschheit einen einzigen Ursprung und ein Ziel habe“, die wir aber nicht kennen. Für die historisch fassbare Zeit dazwischen sammelte er Sachverhalte im Sinne dieser philosophischen Einheitsidee. Dabei entdeckte er zwischen 800 und 200 vor Christus eine „Achse der Weltgeschichte, die für alle Menschen auf Grund empirischer Einsicht überzeugend und für alle Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses sein könnte“.
„In dieser Zeit drängt sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere – in Indien entstanden die Upanishaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse – in Palästina traten die Propheten auf (die schon Weber so wichtig waren) von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes […] ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten. Das Neue […] ist […], daß der Mensch sich des Seins im Ganzen, seiner selbst und seiner Grenzen bewusst wird. […] Er drängt […] auf Befreiung und Erlösung. […] Er erfährt die Unbedingtheit in der Tiefe des Selbstseins und in der Klarheit der Transzendenz. Das geschah in Reflexion. Bewußtheit macht noch einmal das Bewußtsein bewußt, Denken richtet sich auf das Denken“.3
Freilich gerät die sorgfältig hergestellte historische Gleichrangigkeit gleich wieder ins Wanken, denn in China und in Griechenland war es mit Transzendenz im Sinne von übernatürlich nicht weit her und objektiv ließ sich „der Vorrang des Abendlandes an weltgestaltender Wirkung“ auch nicht bestreiten. Doch dieser sollte komplementär durch Errungenschaften der indischen und chinesischen Philosophie wettgemacht werden, die dem Westen abgingen.
Jahrzehnte später wurde die fast vergessene Achsenzeittheorie von Shmuel N. Eisenstadt (1923–2010) wieder aufgegriffen und erweitert. Einerseits stellte er die Spannung zwischen transzendenten Visionen und der gesellschaftlichen Wirklichkeit in den Mittelpunkt. Andererseits dezentrierte er die Theorie durch Einbeziehung neuer historischer Befunde. Weltgeschichtlich wichtige Länder wie Japan kamen nämlich in der Achsenzeit nicht vor. Denn Eisenstadt ist auch der „Erfinder“ der multiple modernities, die historisch an die Stelle der einen, westlich generierten Modernität treten sollten. Die Achsenzeit wurde für ihn zur Voraussetzung für erfolgreiche Modernisierungen, multiple axialities entsprechen multiple modernities.
Faktisch hat sich die Achsenzeittheorie allerdings angesichts dieser historischen Wirklichkeit als empirisch unhaltbar in Nichts aufgelöst. Sie erweist sich bereits unter Zeitperspektive als willkürliches Konstrukt. Warum diese 600 Jahre und nicht mehr? Warum darf Echnaton nicht dazugehören, warum nicht Jesus Christus und Mohammed, deren Botschaften mindestens so achsial waren wie die des Buddha oder des Sokrates? Auch zu Luthers Zeiten lassen sich parallele Reformer identifizieren, die wie er die „Werke“ einer ritualisierten Tradition durch Spiritualisierung und eine persönliche Gottesbeziehung überwinden wollten: der Vishnuverehrer Vallabha (1481–1531) und der Gründer der Sikhreligion Gurū Nānak (1469–1539) in Indien, der Philosoph Wang Yangming (1472–1529) und seine Anhänger in China, der Rabbi Josef Karo (1488–1575) in Safed und andere. Es scheint also immer neue Achsen gegeben zu haben. Aus räumlicher Sicht verhält es sich kaum anders. Warum keine mesopotamischen Kulturen, warum nicht Japan?
Beide Schwierigkeiten wollte man durch Aufgeben des Epochencharakters und die Annahme eines zeitlosen achsialen Kulturtyps oder gar von Achsialität als Eigenschaft überwinden. Aber der Inhalt dieser Achsialität ist ebenfalls kaum auf einen Nenner zu bringen. Die einzige eindeutige Gemeinsamkeit ist ein Fortschreiten zu einer Art von theoretischer Weltanschauung und zur Reflexivität oder zur Zeit Luthers zu mehr Spiritualität. Dergleichen dürfte aber zu unterschiedlichen Zeiten und nicht als linearer Prozess stattgefunden haben. Im Westen fällt das Frühmittelalter deutlich hinter den Stand der Antike zurück.
Bei allen anderen Phänomenen handelt es sich nur um eine scheinbare Gemeinsamkeit, die oft durch Verwechslung des formalen mit dem materialen Aspekt zustande kommt. Denn formal standen alle Kulturen weitgehend vor denselben anthropologischen Problemen, material aber lösten sie diese Probleme auf unterschiedliche Weise. Ren bei Konfuzius und to agathon bei Plato sind selbstverständlich Verwandte, aber im Detail grundverschieden. Mönchtum in Japan, Thailand und im Abendland kennt ebenso viele Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Und die Transzendenz tritt ebenfalls in verwirrend vielen Gestalten auf.
Nichtsdestoweniger wird das Konzept der Achsenzeit immer noch als Stütze angeblich globaler Religiosität protestantischer Herkunft eingesetzt. Robert N. Bellah (1927–2013), wie Eisenstadt ein Angehöriger der dritten Generation nach Weber und Jaspers, hat eine evolutionäre Religionsgeschichte bis einschließlich der Achsenzeit geschrieben, die aber auf die religiöse Globalität der Gegenwart zielt. Er behauptet, wir hätten von der Achsenzeit gelernt, den Exklusivitätsanspruch der Hochreligionen einschließlich des Christentums zu überwinden und religiösen Pluralismus von Gleichrangigen, die sich respektieren, als unsere Bestimmung zu akzeptieren. Das ist nichts als eine notgedrungene globale Fortschreibung der protestantischen Vielfalt oder religiöser Universalismus im Sinne der Aufklärung, wie er in Lessings Nathan der Weise propagiert wurde. Die Ähnlichkeit von Vorstellungen religiöser Gleichheit in Indien und China – alle Religionen sind eins – täuscht; diese erweisen sich genauer besehen als inklusivistisch und haben keine gleichgewichtige Kommunikation mit Respekt für die Identität des Anderen im Sinn. Auch die katholische Kirche hat inzwischen ihren traditionellen Exklusivismus, der alle Andersgläubigen in die Hölle verdammte, durch globalen Inklusivismus ersetzt, der alle Menschen guten Willens zu ihren Mitgliedern macht, sie mögen wollen oder nicht. Und wenn die Achsenzeit laut Bellah der Menschheit nicht nur utopische Visionen beschert habe, sondern auch das Werkzeug der kritischen Analyse, dann ist abermals die Stimme des aufgeklärten Europa protestantischer Provenienz zu hören.
Alte und neue globale Religiosität
Die globale religiöse Szenerie besteht aber keineswegs nur aus den inneren Problemen der großen Weltreligionen und ihrer friedlichen oder gewalttätigen interreligiösen Kommunikation, die im Westen durch die Mission und die Einwanderung zahlreicher Anhänger asiatischer Religionen zusätzlich kompliziert wird. Zwei weitere Phänomene des religiösen Feldes sind mindestens ebenso bedeutsam. Das eine ist die weltweite, kulturübergreifende Verbreitung populärer Vorstellungen und Praktiken, die abfällig als Aberglauben, neutraler als Esoterik bezeichnet werden. Buchhandlungen und das Internet halten ein reiches einschlägiges Angebot bereit. Genannt seien nur die Astrologie oder der Glaube an Hexen, der im Westen nach wie vor lebendig ist und im nachkolonialen Afrika wieder zu blutigen Verfolgungen geführt hat.
Zweitens konkurrieren zahllose neue Religionen mehr oder weniger hybriden Charakters mit den etablierten Weltreligionen. Nicht nur in den USA, sondern auch in Nigeria scheint Kirchengründung ein gutes Geschäft zu sein. Man sollte aber auch die afro-amerikanischen Religionen, die Gemeinden indischer Gurus und den überaus kreativen Religionsmarkt in Japan nicht übersehen. Das Phänomen ist freilich nicht neu und im Einzugsbereich des Christentums auch nicht auf das Umfeld des Protestantismus beschränkt. Die Anhänger der Beatriz Kimpa Vita im katholischen Kongo des späten 17. Jahrhunderts gehören ebenso dazu wie die Mormonen in den protestantischen USA hundertfünfzig Jahre später.
Eine besonders eindrucksvolle Geschichte hat die Église de Jésus-Christ sur la Terre par le Prophète Simon Kimbangu mit Sitz am unteren Kongo, die 1969 in den Weltkirchenrat aufgenommen wurde. Kimbangu war ein protestantischer Katechet und erfolgreicher Krankenheiler, der sich 1921 zum Propheten für Afrika proklamierte. Die katholische Mission fühlte sich bedroht und der Kolonialstaat witterte Aufruhr. Der Prophet lieferte sich wie Jesus selbst aus, wurde zum Tode verurteilt, dann aber begnadigt und bis zu seinem Tode 1951 im Gefängnis gehalten. Seine Anhänger wurden verfolgt, was der Verbreitung seiner Lehre eher nützte. 1958–1974 musste die von seiner Familie geleitete Kirche schließlich von den Kolonialmächten Frankreich, Belgien und Portugal anerkannt werden. Nach eigenen Angaben gehören ihr zehn Prozent der Kongolesen an, insgesamt 17 Millionen Gläubige weltweit. Sie hat Kimbangus Geburtsort Nkamba aufwändig zu einem neuen Jerusalem ausgebaut, betreibt eine Universität, einen eigenen Fernsehsender und vieles andere. Ihre Theologie verbindet ein streng puritanisches Christentum mit afrikanischen Elementen. Zum Beispiel wird für das Abendmahl wegen des Alkoholverbots statt Wein flüssiger Honig verwendet, statt Brot aber ein Gebäck aus Kartoffeln, Mais, Eiern und Bananen. Vor allem wird Kimbangu seit den 1970er Jahren nach Johannes 14, 16–26 als Inkarnation des Heiligen Geistes betrachtet, seine drei Söhne gelten seit 2002 sogar als Inkarnationen der Personen der Dreifaltigkeit.
Mit so viel Heterodoxie hatte der Weltkirchenrat allerdings ein Problem. Doch wer befindet unter Evangelischen verbindlich darüber, was rechtgläubig ist? Die europäischen oder amerikanischen Erben Luthers und Calvins? Eigentlich müsste eine derartig produktive und aus der Sicht der Beteiligten völlig legitime Indigenisierung und Transformation des evangelischen Christentums doch gleichberechtigt in die von Robert Bellah proklamierte, gut kulturprotestantische interreligiöse Kommunikation einbezogen werden. Denn auch sie gehört zur Globalisierung der reformatorischen Botschaft!
Literaturverzeichnis
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1 Heinz STEINERT, Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Frankfurt 2010) 25.
2 Max WEBER, Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911, bearb. v. Wolfgang SCHLUCHTER–Ursula BUBE (Max Weber Gesamtausgabe Bd. I/9, Tübingen 2014) 423f.
3 Karl JASPERS, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München 31952) 17, 19f.