Ethische Aspekte bei der Archivierung privater Unterlagen
Vortrag gehalten am 10. Juni 2018 bei der 4. gemeinsamen Jahrestagung der deutschen und österreichischen Ordensarchive in München, Exerzitienhaus Schloss Fürstenried.
0. Vorverständigungen über „ethisch“
Die Vermutung, der Ethiker könnte etwas Hilfreiches zur Klärung der Fragen und Entscheidungen beitragen, die sich Archivaren im täglichen Umgang mit persönlichen Unterlagen – sei es bei der Aufnahme oder Aussonderung, sei es bei der Zurverfügungstellung für die Forschung – stellen, ehrt diesen, verpflichtet ihn aber auch, von vornherein sein „Handwerkszeug“ vorzuzeigen und darüber Auskunft zu geben, was von ihm erwartet werden kann und was nicht.
Unter „Ethik“ versteht man seit Aristoteles das systematische Bemühen um die Fragen nach der richtigen Lebensführung und nach dem richtigen Handeln. Das hört sich sehr elementar und auch sehr bestimmt an, ist aber bezogen auf die unterschiedlichen kulturellen, gesellschaftlichen und biographischen Lebensbedingungen und ihre Erkennbarkeit bzw. Durchschaubarkeit ziemlich komplex. Es gibt jüngere Analysen aus Philosophie und Sozialwissenschaften, die gerade im Fehlen der Übersichtlichkeit und in der Unmöglichkeit von Eindeutigkeit ein typisches Merkmal unseres heutigen Bemühens um die großen und vor allem die neuartigen moralischen Probleme sehen.
Was in der ethischen Reflexion als richtig in der Lebensführung und als angemessenes Handeln in der oder jener Situation erkannt wird, gilt eigentlich für jeden Menschen, egal ob reich oder arm, jung oder alt, Frau oder Mann. Darüber Gewissheit zu bekommen, ob das angesichts bestimmter Herausforderungen des Handelns auch tatsächlich der Fall ist, ist ja das Ziel der berühmten Goldenen Regel und in anspruchsvollerer Form des Kategorischen Imperativs von Immanuel Kant. Dennoch hat es sich im Lauf der Moderne und noch einmal beschleunigt seit den letzten Jahrzehnten als notwendig und sinnvoll erwiesen, den Gegenstand, auf den sich ethische Reflexion bezieht, zu differenzieren. Der meistens in den Blick genommene Gegenstand ist das Handeln der einzelnen Individuen.
Ein ähnlich einschlägiger Gegenstand ethischer Reflexion sind die Strukturen und rechtlichen Rahmenbedingungen. In der Theologie sind hierfür die Begriffe Individualethik und Sozialethik geläufig, im außertheologischen Bereich werden manchmal auch die Begriffe Mikro- und Makro-Ethik gebraucht.
Zwischen diesen beiden Schwerpunkten gibt es noch zwei andere Bereiche ethischer Reflexion, die in den letzten Jahren an Eigenständigkeit und Bedeutung gewonnen haben, nämlich das Rollenverständnis bestimmter Berufe und Berufsgruppen und die interne governance von Organisationen bzw. Institutionen.1
Beim Rollenethos geht es um die spezifische Verantwortung, die jemand als Träger einer bestimmten Rolle – etwa der eines Vaters oder einer Mutter oder als Beamter, als kirchlicher Angestellter, als Experte oder eben als Historiker oder Angehöriger einer bestimmten Profession wie z.B. Arzt, Rechtsanwalt, Pfleger, Banker, Archivar usw. – an Aufgaben und Pflichten übernommen hat – durch Unterschrift unter den Arbeitsvertrag, durch Gewohnheit oder durch das Berufsbild, kraft Mitgliedschaft in einem Berufsverband. Beim Organisations- oder Institutionsethos geht es um die Regeln und Standards, die für alle Mitarbeiter, die in der betreffenden Organisation zusammenarbeiten, gelten und mit deren Beachtung sie rechnen dürfen. Organisationen und ihre internen Regeln fanden lange Zeit kaum Interesse in der Ethik, ausgenommen es ging um Belange wie Arbeitszeit, Anspruch auf Urlaub, Sicherheit am Arbeitsplatz und Mitbestimmung. Erst in jüngerer Zeit ist ihre Notwendigkeit evident geworden durch Skandale um Korruption als Mittel von Unternehmenspolitik, durch die Praxis systematischer Übergriffigkeit zwischen den Geschlechtern, durch den sexuellen Missbrauch Anvertrauter, durch die systematische Manipulation von Schadstoff-Grenzwerten usw. Derlei Entdeckungen haben in den vergangenen Jahren zur Entwicklung von Leitbildern, Verhaltens-Kodizes für Mitarbeiter und von compliance-Regelwerken geführt, die alle zur Beachtung bestimmter ethischer Standards verpflichten. Sie umfassen sowohl das Verhalten der Einzelnen als Rollenträger und als Inhaber von Führungsaufgaben wie auch Prozesse der Problemlösung und Entscheidungsfindung, aber eben auch die Etablierung von Maßnahmen zur frühzeitigen Verhinderung von Fehlverhalten sowie Meldewege, wenn es trotz allem zu Fehlverhalten gekommen ist.
Was bei Versuchen einer Umschreibung des Rollenethos speziell für Archivare und eines Ethos der Institution Archiv herauskommen kann, hat von vornherein prinzipiellen Charakter und ist – wie wir auch in der ethischen Diskussion sagen – „weich“. Das will sagen, dass es sich nicht um ein Normengefüge handelt, in dem jeder typische Fall enthalten und geregelt ist; und die einzelnen Normen beschränken sich darauf, in der Praxis eine Richtung des Handelns vorzugeben, sie eignen sich aber nicht als Handhabe zu strikter Durchsetzung, weil es eben im Kern nur Appelle an das Verantwortungsbewusstsein der in der betreffenden Organisation Tätigen sind und nicht eine Verlängerung der geltenden rechtlichen Regelwerke.
Auf einige gemeinsame Essentials, die verbindlicher Bestandteil jeder Archivethik sein sollten, hat man sich im Lauf der letzten Jahrzehnte und angeregt durch Vorkommnisse, die übereinstimmend als bedrohlich erkannt wurden, international verständigen können. Sie sind zu finden in drei internationalen Regelwerken, nämlich: der „Haager Konvention über den Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten“2 1954, dem „Übereinkommen über Maßnahmen zum Verbot und zur Verhütung der unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung von Kulturgut“ der UNESCO3 aus dem Jahr 1970, die 2007 vom Deutschen Bundestag als in Deutschland gültiges Gesetz anerkannt wurde, und den „Ethischen Richtlinien für Museen“ des Internationalen Museumsrates (sog. ICOM-Code)4, die 1986 zum ersten Mal beschlossen wurden, aber im Unterschied zur UNESCO-Konvention immer wieder fortgeschrieben, also ergänzt werden, was zum letzten Mal im Jahr 2004 geschehen ist. Diese Dokumente haben, wie schon aus ihren Bezeichnungen hervorgeht, nicht speziell und ausschließlich die Archive im Blick, aber sie betreffen die Archive als eine Untergruppe der Museen ausdrücklich mit.
Speziell auf Archive und die Tätigkeiten von Archivaren ausgerichtet sind folgende zwei Regelwerke: der „Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare“5, der von der Generalversammlung des Internationalen Archivkongresses, also einer Standesorganisation, 1996 beschlossen wurde, und die durch die UNESCO angenommene „Allgemeine Erklärung über Archive“ des Internationalen Rats der Archive6 von 2011. Beide Dokumente sind im strengen Sinn nicht rechtsverbindlich, formulieren aber das Berufsethos des ganzen Berufsstands bzw. machen feierlich das eigene Selbstverständnis öffentlich und haben insofern eben doch eine hohe, wenn auch nur moralische Verbindlichkeit.
Neben diesen Dokumenten sind ein weiterer Ort, wo lebhaft um zentrale Elemente von Museums- und Archivethik gerungen wird und entsprechende Standards gefunden bzw. fortgeschrieben werden, öffentliche Debatten. Aus der jüngeren Zeit darf ich nur an zwei solcher Debatten erinnern, nämlich an die Debatte um die Ausstellung „Körperwelten“ des Heidelberger Anatomen Gunther von Hagens und der aktuelle Streit um das Projekt Humboldtforum im rekonstruierten Berliner Schloss. Ging es in der ersten zentral um den angemessenen Umgang und insbesondere die Zurschaustellung von Überresten von Menschen mit individueller Biographie, so stehen in der zweiten die Bedingungen im Fokus, unter denen künstlerisch wertvolle Objekte und hervorragende Zeugnisse aus anderen Kulturen einmal in den Besitz deutscher Museen und Institutionen gekommen waren.
Anders als diese meinungsfreudigen Debatten, in der sich auch viele Nichtfachleute mit Leserbriefen und ähnlichen Äußerungen engagiert einschalten, ist ethische Fachliteratur zum Problemkreis Archivethik geradezu nicht existent;7 am ehesten kann man noch von einer fachlich verwandten Museumsethik sprechen. Doch auch diesbezüglich ist der vorhandene Bestand an Literatur mengenmäßig sehr überschaubar und inhaltlich dünn. Über Postulate, appellative Empfehlungen und Versuche einer Systematisierung8 geht das kaum hinaus. Diesen Befund kann ich durch ein Referat bei Ihnen natürlich nicht grundlegend verbessern. Deshalb möchte ich Sie bitten, das Wort „Aspekte“ in der Themenformulierung nicht als Beschwichtigung Ihrer Erwartungen an mich als Ethiker zu verstehen, sondern durchaus als Indikator für einen Problemstand und als Ausdruck einer heuristischen Einstellung meinerseits ernst zu nehmen.
Konkret werde ich also keine Systematik oder wenigstens einen Kodex der Archivethik präsentieren können. Vielmehr werde ich in einem ersten Teil die archivischen Grundfunktionen unter ethischen Blickwinkeln betrachten. Anschließend will ich dann in einem zweiten Teil versuchen zu beschreiben, was mit Privatheit bzw. persönlichen Unterlagen gemeint sein könnte. In einem dritten Teil will ich der Frage nachgehen, welche ethische Figur dem archivierten Gut angemessen sein könnte. Im vierten und letzten Teil möchte ich schließlich in Form eines Resümees ein paar der gewonnenen Einsichten als Bausteine zu einer Ethik des Archivs zusammentragen.
1. Ethische Implikationen der archivischen Tätigkeit
Ein Archiv ist eine systematische Ablage von authentischen Zeugnissen, die zum kulturellen Erbe gehören. Aber ein Archiv ist zugleich – um mit Foucault zu sprechen – ein Aussagesystem, das man zum Sprechen bringen kann bzw. dem sich Geschichten vom Leben einzelner Personen, Aussagen über ihre Lebenszusammenhänge und detaillierte Erkenntnisse über die von Menschen erlebte Geschichte entlocken lassen. Der Begriff „entlocken“ ist hier mit Bedacht gewählt; denn das Material erschießt sich nicht von selbst in seinem Erkenntnispotential. Akten sind zunächst etwas Fremdes, ein Medium, das man erst lesen lernen, kontextualisieren und mit anderem Wissen kombinieren können muss.
Güte und Attraktivität eines Archivs beruhen auf dem, was in ihm gesammelt wurde und als Ganzes verfügbar ist. Sammeln ist weder eine spontan-momentane noch eine bloß gelegentliche Tätigkeit, sondern etwas Fortlaufendes, ja eine Langzeit-Tätigkeit, die über den Wechsel von Generationen hinweg ausgeübt wird und sich im Idealfall über Jahrhunderte erstreckt. Ihre Ergiebigkeit hängt davon ab, dass sie möglichst ohne zeitliche Unterbrechungen und Lücken stattgefunden hat.
So wenig das Sammeln eine bloß momentane Tätigkeit ist, so wenig ist es auch eine bloß mechanisch vonstattengehende, gleichsam selbstläufige Angelegenheit. Sicherlich gibt es die regelmäßige Aktenabgabe und -übernahme von Behörden nach festgelegten Verwaltungsvorschriften. Aber oft ist trotzdem und zusätzlich auch eigene Aktivität verlangt. Etwa bei der Auflösung bestehender Verwaltungseinheiten oder auch bei der Auflösung von Haushalten, wo dann auch unter Zeitdruck und manchmal auch kombiniert mit Platz- und Kostenproblemen zugegriffen werden muss und schnell Lösungen gefunden werden müssen.
In der jüngeren Diskussion des Komplexes Sammeln ist zweifellos die Frage der Provenienz und auch der Gewilltheit, diese überhaupt zu erforschen, das dominierende Thema gewesen. Das ist durch die Art, wie die nationalsozialistische Politik mit Kulturgut umgegangen ist, aber auch durch die kriegsbedingten Transfers und Lücken und nun auch durch die Neubewertung des kolonialen Imperialismus nur allzu verständlich. Die Dominanz der Provenienzfrage hält außerdem im Bewusstsein, dass die Zeugnisse, die aufbewahrt werden, nicht einfach nur singuläre Asservate sind, sondern immer auch Teile eines größeren Zusammenhangs, der sich erzählen oder rekonstruieren lässt, und bei dessen Zurückverfolgung u.U. auch Brüche in der Überlieferung sichtbar gemacht werden können und müssen.
Zum Kontext des Erwerbs bzw. der Übernahme gehört selbstverständlich auch die Prüfung, ob sie in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen stattfinden können. Objekte, die aus Diebstahl oder Schmuggel stammen, die im Krieg entwendet wurden oder aber auch aus der Zerstörung größerer Einheiten anderswo gewonnen wurden, dürfen nicht erworben und den eigenen Beständen inkorporiert werden. Daraus ergibt sich folgerichtig auch die Pflicht, Archivgut, das sich bei einer Prüfung als unter solchen Bedingungen geraubt erweist, den rechtmäßigen Eigentümern zu restituieren oder mit diesen eine Entschädigung zu vereinbaren.
Zur aktiven Seite des Sammelns gehören aber nicht nur die Akquisition und eine Dokumentation, die deren Transparenz auch noch nach mehreren Generationen garantiert, sondern auch das Auswählen und Aussondern von Archivmaterial. Nicht alles kann aufbewahrt werden, was dem Archiv angeboten oder geschenkt wird, und auch nicht alles verdient aufbewahrt zu werden. Umgekehrt werden Experten manchmal Akten- und Artefakt-Bestände für aufbewahrungswürdig einschätzen, die nach dem Geschmack von Laien unter den Verantwortlichen der Träger als evident entbehrlich eingeschätzt werden. (Die Antiquariate in München sind voll von solchen persönlichen Dokumenten, die in diesem Fall von den Hinterbliebenen und Erben für bedeutungslos oder für emotional negativ besetzt eingeschätzt werden und deshalb der Entrümpelung oder dem Billigverkauf überlassen wurden, wie handgeschriebene Kochbücher, Fotoalben, religiöse Kleinschriften, Poesiealben und einiges mehr.) Wichtig beim Sammeln ist auch Beschränkung. Durch inhaltliche Absprachen mit anderen Archiven am Ort oder in der Region lassen sich zudem Doppelungen und unnötige Konkurrenzen vermeiden, v.a. dort, wo es um die Aufbewahrung von Periodika geht.
Eine weitere Form fragwürdigen Aussonderns ist die Zerstückelung eines zusammengehörigen und vollständigen Bestandes, um etwa das Gut auf mehrere Archive verteilen zu können oder besonders wertvolle Einzelteile auf den Kunstmarkt zu bringen und gegen gutes Geld zu verkaufen.
Damit sind wir bei einer zweiten Grundaufgabe der Archive neben dem Sammeln: Das Gut muss eben nicht nur gesammelt, sondern es muss auch bewahrt („konserviert“) werden. Das heißt zunächst ganz elementar, dass das Überkommene nicht einfach verschenkt oder verkauft werden soll. Aber es heißt eben auch, dass es gegen Diebstahl und auch gegen den schleichenden Zerfall geschützt und erhalten werden muss. Das ist sicher in erster Linie die Aufgabe der Archivmitarbeiter. Aber sie verpflichtet auch Politik und Träger, Räume für eine angemessene Unterbringung und die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, damit die Zeugnisse aus der Vergangenheit nicht langsam zugrunde gehen, sondern für die Zukunft erhalten werden. „Zukunft“ ist hierbei eine offene Größe und kann nicht begrenzt werden; sie reicht aber in jedem Fall über die Amtszeit der jeweils gegenwärtig Verantwortlichen hinaus. Die Pflicht, die Bestände zu konservieren, resultiert nicht zuerst aus ihrem Gebrauchswert, sondern daraus, dass keine Berechtigung zu sehen ist, diese ererbten Zeugnisse kaputt gehen zu lassen oder sie willentlicher Zerstörung auszuliefern. Die schleichende Zerstörung selbst hat viele Gesichter: Schimmelbefall gehört ebenso dazu wie Wasserschäden, Feuchtigkeit, Staub, fehlender Lichtschutz, häufiger Gebrauch, Transportschäden und unsachgemäße Restaurierung.
Voraussetzung und Grundlage für das Bewahrenkönnen ist eine professionelle Inventarisierung. Das Inventarisieren dient nicht nur der Ordnung, sondern auch der Überschaubarkeit der übernommenen Bestände sowie auch der Kontrolle ihres Verbleibs. Was inventarisiert ist, ist eindeutig und offiziell der Verantwortung des Archivs und dessen Mitarbeitern unterstellt. Jedes Dokument, das inventarisiert ist, lässt sich jederzeit auffinden und sichten. Umgekehrt erweist sich die genaue Erfassung mit einer Inventarisierungsnummer als unentbehrliche Hilfe bei der Identifizierung, sollten Dokumente einmal verschwunden sein oder plötzlich auf einem Hehler-Markt auftauchen. Spätestens der Einsturz des Kölner Stadtarchivs 2009 hat dramatisch das Ausmaß der Gefährdung deutlich werden lassen, dem Archivalien auch abgesehen von Kriegsereignissen, Feuer und Hochwasser ausgesetzt sind. Insofern gehören auch Sicherheitsmaßen und Pläne für den Notfall zum Spektrum der Pflicht zum Bewahren. Dem präventiven Bemühen kommt zusätzlich eine wichtige Rolle zu, weil die Vermeidung von Schäden auch zeitraubende und kostenintensive Restaurierungsarbeiten ersparen.
Das Bewahren ist aber – so wichtig es ist – kein Selbstzweck, sondern gewinnt seinen Sinn erst im Blick auf den Gewinn von Erkenntnissen, die aus dem aufbewahrten und inventarisierten Archivgut gewonnen werden können und der wissenschaftlichen community oder auch „bloß“ dem interessierten Publikum zur Verfügung gestellt wird. Ein Archiv, in dem Dokumente bestens gelagert und erhalten werden, das aber nie benutzt würde, wäre a la longue ein sinnloses Unternehmen. Insofern bilden das Auswerten, das Erforschen der Kontexte und das Ausstellen eine dritte Grundfunktion des Archivs. Es handelt sich dabei um Aktivitäten, die sowohl von den Mitarbeitern selbst getätigt werden können, als auch um solche, die von diesen bloß ermöglicht und unterstützt werden, indem sie die Bestände zugänglich machen und erschließen, manchmal auch nur in Gestalt einer Auskunft auf gezielte Fragen Antworten geben. Die Zugänglichkeit für Benutzer und die Präsentation von Dokumenten ist der Schlüssel zur Chance neuer Erkenntnisse. Aber beide finden in einem doppelten Spannungsverhältnis statt, nämlich in der Spannung zwischen Schutz der Persönlichkeit auf der einen Seite und wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse auf der anderen Seite, und zum anderen in der Spannung zwischen optischer Wahrnehmbarkeit auf der einen Seite und konservatorischem Schutzbedürfnis auf der anderen Seite. Der ersten Spannung versucht man bekanntlich durch Sperrfristen gerecht zu werden, der anderen durch die Vorschriften, Handschuhe zu benutzen und Notizen nur mit Bleistift zu schreiben. Für die faktische Zugänglichkeit der Bestände spielen natürlich auch scheinbar banale Dinge eine Rolle wie Öffnungszeiten, Plätze zum Arbeiten, die Lesbarkeit der Dokumente, die Beleuchtung, die Ausstattung mit Ablagen und Toiletten, Signale des Willkommen- bzw. Lästigseins usw. In den geltenden erwähnten ICOM-Richtlinien heißt es in diesem Sinne ausdrücklich, dass ein Museum (dieser Begriff steht dort so, dass er die Institution Archiv inkludiert) sammelt, bewahrt, erforscht, vermittelt und ausgestellt „zum Zweck der Bildung, des Studiums und des Genusses materieller Zeugnisse des Menschen und seiner Umwelt“ (Art. 3.1). Auch von daher erscheint es zwingend, dass ein Archiv nicht nur der Sammlung und Aufbewahrung von Unterlagen dient, sondern auch der Forschung, in dem es selbst Forschung betreibt, aber eben auch Forschungen von Externen ermöglicht und unterstützt.
Schließlich möchte ich hier gerne noch eine vierte Grundfunktion wenigstens nennen, die eng mit dem Forschen und Vermitteln zusammenhängt, aber doch eigens erwähnt zu werden verdient, nämlich: Archive sind auch und in Zukunft noch mehr als bisher Orte und Medien des Lernens. Man kann hier nämlich in der Begegnung mit Dokumenten etwas lernen über die Eingebundenheit der Menschen in Herkunft, in Generationszusammenhänge und in Geschichte, man kann auch etwas lernen über die Gesellschaft und ihre Organisation und schließlich kann man etwas lernen über die Menschen, ihre Fragilitäten und Verletzbarkeiten sowie über ihren Umgang mit den vielfältigen Hinterlassenschaften anderer Menschen. Natürlich kann man das auch an vielen anderen Orten der sozialen Wirklichkeit lernen, aber wahrscheinlich nirgendwo so systematisch und zumindest in exemplarischen Bereichen so vollständig wie in Archiven.
2. Archivierte Privatheit und ihre Respektierung
Privatheit kann Orte, Handlungssphären, Verhaltensweisen, Lebenslagen und Kenntnisse meinen, in denen wir dem Zugriff anderer nicht ausgesetzt sind, jedenfalls nicht ohne oder gar gegen unseren Willen ausgesetzt sind und von ihrer Beeinflussung unabhängig. Denn selbstverständlich suchen wir auch nach Anerkennung, ja benötigen sie für unser Selbstbewusstsein, aber auch um zu wissen, wer und wie wir eigentlich sind. Unsere Identität oder unser Selbstsein ist keine fixe, dem körperlichen Vorhandensein inhärierende Größe, sondern etwas, was sich erst in der Interaktion mit Anderen herausbildet und gewonnen wird. Damit das gelingen kann, braucht es aber auch die Spannung zur Privatheit als einer Voraussetzung zu selbstbestimmter Lebensgestaltung. Selbstverständlich können wir ein Stück unserer Privatheit freiwillig preisgeben, etwa damit der Arzt uns besser untersuchen kann oder damit der Partner uns intensiver wahrnehmen und spüren kann oder damit alle Familienmitglieder den gleichen Informationsstand über eine private Mitteilung haben. Aber das ist eben etwas grundsätzlich Anderes, als wenn uns im Bus oder im Aufzug irgendwelche Unbekannten körperlich zu nahe kommen, wenn mein Privatleben aus der gegenüber liegenden Wohnung mit Teleobjektiv und Kamera ausgespäht wird, oder wenn meine Handynachrichten und Dateien von Unbefugten gehackt werden.
Das Private ist etwas, das wir wertschätzen. Der Grund für diese Wertschätzung liegt darin, dass die Privatheit Grundlage dafür ist, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Angegriffen wird sie nicht so sehr dadurch, dass man ohne schützende und inszenierende Kleidung eben so aussieht wie andere Menschen auch und Ähnliches tut, wie viele von diesen, sondern vor allem dadurch, dass man seiner Besonderheit und der Vollmacht, seinem Handelns eine bestimmte Bedeutung zu geben, beraubt wird und sich ein Anderer die Interpretationshoheit über einen anmaßt. Der unbefugte Einblick in persönliche Krankendaten etwa missachtet ebenso wie der geraubte Blick auf die nur für den Partner reservierte Selbstvergessenheit in sexuellen Gesten oder das neugierige Eindringen in den Mailaustausch mit Freunden die Sphäre, die zu unserer individuellen Persönlichkeit gehört und die wir normalerweise nicht preisgeben, weil wir uns dadurch verletzbar machen.
Deshalb ist der Anspruch auf Achtung der Privatsphäre ein zentraler Bestandteil der neuzeitlichen Menschen- und Grundrechte. In Art. 12 der Allgemeinen Menschenrechtsdeklaration von 1948 heißt es denn auch ausdrücklich: „Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Briefwechsel noch Angriffen auf seine Ehre und seinen Ruf ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen derartige Eingriffe oder Beeinträchtigungen.“ Dieses Recht beinhaltet das Recht des Einzelnen, über die Erhebung und Weitergabe von Informationen, die seine Person und seine Privatsphäre betreffen, selbst verfügen zu dürfen. Der Wissensdurst aller anderen Akteure, seien es Privatpersonen oder staatliche Organe, aber eben auch Firmen, unterliegt einem Rechtfertigungszwang und ist auf das Notwendigste zu begrenzen. Zunächst war dieses Recht vor allem gegen den Staat und die Zugriffsmacht seiner Organe gerichtet. Heute kommt angesichts der ungeheuren Datenmengen, die existieren, ihrer digitalen Kombinierbarkeit und der Geschwindigkeit des Austauschs wie auch der Durchsuchung, aber auch veränderter Nutzungsgewohnheiten sowie der Spuren, die die digitalisierte Kommunikation hinterlässt, auch dem Schutz der privaten Information und Kommunikation gegen missbräuchliche Nutzung, gegen Verfälschung, gegen das Angebot von diskriminierenden Materialien wie kinderpornographischen Bildern und politischer Hetze durch große und weltweit agierende Datensammel- und Datenverarbeitungsfirmen allergrößte Bedeutung zu.9 Dabei geht es längst nicht mehr nur um den Schutz der Einzelnen vor der Preisgabe intimer Details durch das Eindringen in die Sphäre des Wohnens, des privaten Kommunizierens und des Wissens, sondern viel umfassender um die Selbstbestimmung und die gesamte Gestaltung unserer sozialen Freiheit in Ehe, Familie, Freundschaft, im Markt und beim Konsumieren, in der Öffentlichkeit und im Verhalten als Bürger in der Politik. Die Philosophin Beate Rössler hat in ihrem Buch über Privatheit10 dargelegt, dass es heute bei Privatheit umfassend um das Recht geht, seine eigene Umgebungen selbst gestalten zu könne; sie unterscheidet hierbei drei Dimensionen, nämlich die lokale, die dezisionale und die informationelle. Das heißt anders gesagt, es geht eben nicht nur wie herkömmlich um den Schutz von Wohnung und Briefverkehr, sondern viel umfassender auch um den Schutz, Entscheidungen zu treffen und selbstbestimmt handeln zu können, und um das Wissen, was die Anderen über einen wissen und wieweit sie dieses Wissen auch verwenden können. Es geht also im Kern um den Schutz der Persönlichkeit vor ständiger Übermacht, vor Kontrolle, vor Übergriffigkeit und auch vor falschen Bildern von einem selbst und nicht nur um den Schutz des familiären Privatraumes. Diesem Wandel zu einem umfassenderen Begriff von Privatheit ist in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union von 2007 Rechnung getragen worden. Dort wird in Art. 7 das Recht auf „Achtung des Privat- und Familienlebens, der Wohnung sowie der Kommunikation“ angesprochen wird, bevor dann im folgenden Art. 8 ausdrücklich das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten erklärt und festgelegt wird, dass solche Daten „nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person verarbeitet werden dürfen. Außerdem hat jede Person das Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.“
Der Schutz der so verstandenen Privatheit ist nicht nur eine Privatangelegenheit. Vielmehr geht es dabei immer auch um die Art und Weise, wie wir unser soziales und öffentliches Zusammenleben gestalten wollen. Solche Privatheit und ihr Schutz sind ein zentraler Bestandteil der bürgerlichen Freiheit und Voraussetzung dafür, dass Liberalität und Demokratie überhaupt funktionieren können. An der Höhe und Verlässlichkeit dieses Schutzes entscheidet sich für den Bürger nämlich auch, ob und für wie vertrauenswürdig und freiheitsgarantierend er das politische und rechtliche System einschätzt, in dem er lebt. Das Gefühl, überall kontrolliert und überwacht zu werden, beschädigt dieses Vertrauen nachhaltig.
In staatlichen, kirchlichen und erst recht in privaten Archiven sind nicht nur Verwaltungsabläufe und Geschäftsbeziehungen sowie besondere Ereignisse niedergelegt, sondern sie fassen immer auch Daten über individuelle Personen, die mit dem Träger des Archivs in enger Verbindung standen oder gar in seinem Auftrag tätig waren. Auf diese Daten hätten die betreffenden Personen nach heutigen Maßstäben einen Verfügungsanspruch, wenn sie noch leben würden. Nach dem Tod gibt es zum Schutz der unmittelbar Hinterbliebenen und der Überlebenden, die in Akten genannt werden, Sperrfristen. Sperrfristen sind nichts anderes als eine Verlängerung des grundlegenden Schutzes der Privatheit einer Person über deren Tod hinaus, aber sie gelten nur für eine bestimmte Zeitstrecke.
Auf einen speziellen Umstand sei in diesem Zusammenhang hingewiesen: Während in der modernen liberalen Gesellschaft der normative Maßstab für den Schutz der Privatheit das Individuum und sein Selbstbestimmungsrecht ist, gibt es für Ordensleute und Religiose, die in einem klösterlichen Verband leben, vielfach noch einmal zusätzlich eine durch Klausurregelungen und Binnenautoritäten zur Geltung gebrachte, aber eben doch häufig in erheblichem Maße konfessorische Sondersphäre, die von dort Lebenden durch Selbstverpflichtung wie z.B. ein Gelübde akzeptiert und spirituell angeeignet bzw. ausgestaltet wird. Sicherlich bringt dies andere, komplexere Grenzziehungen zur Privatheit einerseits und zur Öffentlichkeit andererseits mit sich. Mir scheint, dass dieser Umstand, dass sich die Zeugnisse auf einen durch Ort, Zeit und spezifische Spiritualität begrenzten Erfahrungsraum beziehen, bei der Übernahme von Klosterarchiven und Ordensakten durch öffentliche Archive besonderer Aufmerksamkeit bedarf und eigens geregelt werden muss, damit nicht aus den Akten, die bislang ausschließlich zu internen Zwecken geführt werden, plakative Vorurteile oder gar Gegenbilder des Erlebten, Gesehenen aber auch Beobachteten und Erlittenen von Religiosen, deren Akten hier geführt wurden und die zu ihrer Lebenszeit nie die Chance bekamen, ihre Daten zu kontrollieren, bedient werden können. Dieser Vorbehalt gilt allerdings nicht, wo in den Akten strafrechtlich relevantes Verhalten wie sexueller Missbrauch, mafiöse Machenschaften, Beihilfe zu Finanzdelikten und Ähnliches mehr dokumentiert ist.
3. Wem gehören die archivierten Daten?
Persönliche Unterlagen wie Tagebücher, Briefe, autobiographische Texte und Notizhefte sind Hinterlassenschaften von Personen, die auf verschiedenen Wegen in den Besitz eines zuständigen oder an den Inhalten interessierten Archivs gekommen sind. Als materielle Gegenstände sind sie ohne jeden Zweifel Eigentum des Archivs bzw. von dessen Träger. Komplizierter ist die Frage, wem die darin gespeicherten Informationen, also der immaterielle Gehalt oder die Daten gehören. Sie sind – gleich ob sie auf Papier, in Büchern oder auf Asservaten festgehalten sind und unabhängig davon, ob ihr Autor sie mit Blick auf eine spätere Archivierung schon selbst systematisch angelegt hat oder ob sie mehr oder weniger zufällig hinterlassen wurden – Überbleibsel und Spuren einer individuellen Person, die ihre Gedanken verschriftlicht hat und die das Notierte aufbewahrt hat. Insofern sind sie Zeugnisse und Ausdruck, ja sogar Repräsentationen einer von einer bestimmten Person gestalteten bzw. geplanten Lebensführung. Schon dieser Umstand allein verlangt eine respekt- oder sogar pietätvolle Behandlung. Zu diesem persönlichen Zeugniswert hinzu kommt ein dokumentarischer Wert: Persönliche Unterlagen und Asservate können auch wertvoll sein, weil sie den Geschichts- und Zeitverlauf im kleinen Maßstab des biographisch Erlebten, Wahrgenommenen und Festgehaltenen dokumentieren. Das kann, besonders wenn es sich nicht um ein singuläres Zeugnis handelt, sondern um größere Mengen an zusammenhängendem persönlichem Material, von wissenschaftlichem Erkenntniswert sein. Niemand ist berechtigt, das im Lauf vieler Jahre Entstandene einfach zu zerstören, es sei denn, es stellte sich nach einer Prüfung eindeutig heraus, dass es ohne jeden Erkenntniswert sei.
Es gibt unterschiedliche Argumentationsfiguren, um die Bedeutsamkeit und Werthaftigkeit der archivierten Unterlagen zu begründen bzw. zu fassen. Die häufigste und naheliegendste ist die Figur des Eigentums. Diese Figur hat den Vorteil, dass sie die Verantwortung für die professionelle Sorge für Konservierung und Erschließung der Unterlagen eindeutig dem Archiv zuweist. Außerdem sichert sie den Anspruch der im Archiv Forschenden, dass die gewonnenen Erkenntnisse ihr geistiges Eigentum bleiben, auch wenn sie durch die anschließende Veröffentlichung später von jedem benutzt werden können. Ein Nachteil der Eigentumsfigur könnte darin bestehen, dass Eigentum weithin mit unbeschränktem Verfügungsrecht assoziiert wird. Tatsächlich ist solch eine unbegrenzte Verfügungsgewalt gegenüber Aktenbeständen, die dem Archiv ja nur zur Aufbewahrung übergeben oder anvertraut, überlassen oder auch geschenkt wurden, hoch problematisch und grundsätzlich abzulehnen. Eigentum dieser Art ist wie anderes Eigentum auch sozialpflichtig. Das heißt, dass der Staat und staatliche Organe, aber auch die Kirche in ihrem Zuständigkeitsbereich, dafür sorgen müssen, dass die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit einmaliger Akten und Aktenbestände erhalten bleibt und dass diese allenfalls befristet Anderen vorenthalten werden dürfen, um die in eigener Regie erfolgende Auswertung rasch vorantreiben zu können.
Was die Archive an Akten, Daten, persönliche Unterlagen eingeschlossen, beherbergen, ist also nicht dingliche Ware, die vernichtet, getauscht oder verkauft werden dürfte, sondern Erbe der Vorfahren. Manche sprechen sogar von einem menschheitlichen Erbe, das dem Archiv nicht auf Gedeih und Verderb übereignet, sondern immer nur zu treuen Händen anvertraut ist. Der Eigentumsanspruch besteht zwar nicht rechtlich, aber moralisch, nur kommissarisch und solange, wie das Archivgut professionell betreut, gepflegt und die Nutzung durch Dritte nicht ausgeschlossen sowie dafür Sorge getragen wird, dass das aus wissenschaftlicher Erforschung der Bestände gewonnene Wissen der Öffentlichkeit auch zur Verfügung gestellt wird.
Seit einigen Jahren gibt es in der ökonomischen Theorie eine breitere Debatte über sog. Gemeingüter (commons). Gemeint sind etwa Wiesen, Wälder, Parks aber auch immaterielle Dinge wie Wissen oder die Vielfalt von Saatgut, die gepflegt und geschützt werden müssen, weil sie knapp sind und weil alle auf sie angewiesen sind, und die in der Zukunft vielleicht noch mehr sein werden, und die deshalb niemand nur privat gehören dürfen. Die Konzeption des Gemeinguts grenzt sich ab vom Konzept des Privatguts. Während es für das letztere charakteristisch ist, dass alle anderen Personen vom Verfügungsrecht darüber ausgeschlossen sind, ist es für Gemeingüter typisch, dass sie zum Wohl aller genutzt werden dürfen, aber dagegen geschützt sind, von irgendjemanden oder einem gesellschaftlichen Akteur allein für sich vereinnahmt zu werden. Mir scheint, dass vielleicht weniger das Archiv als Institution und die Archivalien, aber sehr wohl der darin enthaltende Informationsgehalt und das Erkenntnispotential, das darin steckt, trefflich mit dieser Figur des Gemeingutes gefasst werden können. Auch kirchliche Archive beherbergen ein menschliches Erbe, das ihnen aus der Vergangenheit zugewachsen und das sie für die Zukunft bewahren und erschließen können und sollen, mit allen Chancen übrigens, dies in vorbildlicher Qualität und zugleich mit kritischer Offenheit für neue Erkenntnisse zu tun, auch wenn diese sperrig sind und zur Revision liebgewordener Interpretationen nötigen.
4. Resümee: Bausteine zu einer Ethik des Archivs
Archive sind so etwas wie institutionalisierte kollektive Gedächtnisse einer Gesellschaft, einer Gemeinde, einer Familiendynastie, einer Schule, einer religiösen Gemeinschaft, einer Generation oder anderer Arten von Erinnerungsgemeinschaft, in denen Menschen eine gemeinsame Vergangenheit teilen. Sich um das kulturelle Erbe der Vorfahren (im weiteren Sinn) zu kümmern, ist offenkundig interessant und macht vielen Freude. Es ist aber nicht nur ein Vergnügen, sondern auch eine moralische Verpflichtung.11 Warum? Archivierte persönliche Unterlagen sind Spuren gelebter Leben und verraten etwas darüber, wie unsere Vorfahren die Welt gesehen, erlebt und erlitten haben. Sicher ist das alles oft nur ausschnitthaft festgehalten, stark subjektiv gefärbt und individuell perspektiviert. Aber gerade insofern bilden diese Spuren einen Gegenpol zu der gewussten allgemeinen Erzählung und der Beschreibung der großen Entwicklungen in den Geschichtsbüchern und Chroniken. Sie vermögen so, das gemeinsame Wissen um die geschichtliche Vergangenheit mit biographischer Konkretheit, mit farbigen Details aus den kleinen Erlebniswelten und aus dem Alltag, oft genug auch mit dem Einblick in die erlebte Fragilität und Verletztheit persönlicher Schicksale, die ja, weil sie unangenehm sind, aus der kollektiven Erinnerung gern ausgefiltert oder verdrängt werden bzw. der Logik der Abstraktion und der Verallgemeinerung zum Opfer fallen, bebildern. Deshalb enthalten Archivbestände immer auch das Potential, dass die derzeit tonangebende Geschichtserzählung in einzelnen Facetten korrigiert werden muss. Die Archive sind hierbei die beste Voraussetzung dafür, dass die historische Erkenntnis voranschreiten kann.
Durch persönliche Unterlagen und die Spuren von konkreten Akteuren rückt die Geschichte uns näher und wird vorstellbarer. Darüber hinaus machen sie deutlich und geradezu handgreiflich wahrnehmbar, dass das Leben und das Miteinander und eben auch die Deutungsmuster, die religiösen eingeschlossen, sowie auch grundlegende Erfahrungen von Glück, Bedrohung und Verlust über die Lebenszeit des einzelnen Menschen und einer Generation hinausreichen, weil sie eben auch schon bei denen, die früher gelebt haben, zu finden sind. Das heißt im Umkehrschluss auch, dass wir uns nicht total selbst erfinden, sondern uns immer auch hineingestellt vorfinden in größere Zusammenhänge, in eine Geschichte und in eine Vielzahl von Zufällen und Geschicken. Und die Geschichte, in die wir uns hineingestellt entdecken, ist ihrerseits etwas, was steter Veränderung unterworfen ist. Diese Veränderungen betreffen Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten und Gewissheiten, Erwartungen und Befürchtungen, aber ebenso auch Ideale, Werte, Gesinnungen. Der Reiz des aus der Vergangenheit Überkommenen besteht zum großen Teil darin, dass so vieles damals anders war als das, was gegenwärtig gilt. Und umgekehrt verliert das gegenwärtig Geltende im Kontrast zur Vergangenheit seine Selbstverständlichkeit und gewinnt seinen Wert.12 Dieser Effekt ist ja wohl auch ein wichtiger Grund, warum die jeweilige Gemeinschaft bzw. der Träger, der ein Archiv eingerichtet hat und unterhält, damit – mal deutlicher, mal nur faktisch – die Absicht verknüpft, dass durch das Archiv und seine Arbeit die Identität der betreffenden Gemeinschaft gestärkt werde.
Die mit solcher Verpflichtung zur Erinnerung verbundene moralische Verantwortung möchte ich nun abschließend auf die vier Arten ethischer Geltungsräume anwenden, die ich zu Anfang meines Referats unterschieden habe, also den rechtlichen Gesamtrahmen, das Ethos der einzelnen Personen, das für alle gilt, das Ethos der Organisation und das berufsspezifische Ethos.
1. Beginnen wir mit dem Ethos des rechtlichen Gesamtrahmens. Es ist ausformuliert zu finden und in Geltung gesetzt einerseits in nationalen und trägerspezifischen Rechtsnormen und andererseits in den eingangs genannten internationalen Konventionen und Kodizes. Dass es sich um Ethos handelt, ist schon daran zu erkennen, dass dort keine Sanktionen vorgesehen sind. Neben der Verpflichtung der Archive auf das Gemeinwesen und die Öffentlichkeit und dem Erfordernis der Professionalität der Mitarbeiter erscheinen darin als besonders wichtige Anliegen die Beachtung der Provenienz, die Transparenz sämtlicher archivischen Aktivitäten, die Sicherstellung von Authentizität und Integrität der Unterlagen sowie die Wahrung der geltenden Datenschutzvorschriften. Mit der Bezeichnung „Rahmenethos“ ist einerseits gesagt, dass es um die fundamentalen gemeinsamen Ziele geht, aber andererseits auch zugestanden, dass es sich bei den aufgezählten Orientierungen nur um Mindeststandards handelt.
2. Was zweitens vom Ethos aller Personen, die mit dem Archiv zu tun haben, sei es, dass sie darin beruflich arbeiten, sei es, dass sie es nutzen, sei es, dass sie ihm Unterlagen übereignen wollen, sei es, dass sie „von außen“ in verantwortlicher Funktion für den Träger tätig sind, erwartet werden darf, ist: Respekt und größtmögliche Sorgfalt gegenüber den Asservaten, der Verzicht auf jede Behauptung falscher oder entstellender Tatsachen, die transparente Darlegung der eigenen Interessenslage am Archivgut, die Einhaltung der jeweiligen Benutzungs- und Sammlungsregeln, Taktgefühl und Zurückhaltung, wenn es um Intimes oder Ehrenrühriges von Personen geht, die sich nicht mehr wehren können. Ein derartiger Appell mag manchen an die schon bei den Kirchenvätern geäußerte Kritik an der sensationellen Schaulust erinnern. Andererseits eignen sich Archive schon aufgrund des Kontextes, den sie bieten, und der restriktiven Zugangsregeln sowie der Materialbeschaffenheit der Akten denkbar wenig für Voyeurismus.
3. Die Kernstücke einer Archiv-Ethik betreffen aber zweifellos das Organisationsethos und das Berufsethos. In dem zu Anfang erwähnten Ethik-Kodex des Internationalen Rats für Archive (ICA), der dank einer Initiative des Verbands Schweizerischer Archivarinnen und Archivare (VSA) ins Deutsche übersetzt und verbreitet wurde,13 sind die organisationsethischen Anforderungen in vorbildlicher Weise ausführlich entfaltet. Genannt werden dort insbesondere: die Erhaltung der Unversehrtheit der verwahrten Unterlagen, die Erhaltung und Dokumentierung der Provenienz und der ursprünglichen Zusammenhänge der Schriftstücke und Asservate, die Sicherung der Authentizität der Schriftstücke durch sämtliche Stadien der archivischen Bearbeitung hindurch, die Garantie der Benutzbarkeit und der Verständlichkeit, Dokumentation und Nachvollziehbarkeit der Bearbeitung von Archivgut, die Herstellung von Findmitteln für alle verwahrten Unterlagen sowie die Bereitschaft, unparteilich Auskünfte und Ratschläge zu erteilen. Dazu kommen noch die benutzerfreundliche Regelung der Zugänglichkeit, Sicherheitsmaßnahmen und auch Anstrengungen, die die Weiterbildung, die Förderung und das Klima der Zusammenarbeit unter den Mitarbeitern betreffen. Eine besondere Verantwortung für die jeweilige Organisation kommt dem Archivleiter zu. Er bzw. sie ist letztverantwortlich für alles, was im Archiv geschieht. Schon aus Gründen der Kenntnis und des Wissens um den gesamten Bestand kann er bzw. sie die Verantwortung weder „nach oben“ auf den Träger noch „nach unten“ auf untergeordnete Mitarbeiter oder Hilfskräfte delegieren. Besonders sensible Bereiche der Leitungsverantwortung sind naheliegenderweise Ankäufe und Aussonderung von angebotenen Akten, Konservierung und Ausstellung von Archivalien, das Anlegen von Verzeichnissen und der Leihverkehr.
4. Genauso wichtig wie diese institutionellen Binnenbedingungen der Organisation ist aber das Berufsethos des Archivars. Der Archivar darf sich nicht als ein Chef verstehen, der nach eigenem Gutdünken und eigenen Vorlieben Unterlagen zusammenstellt oder unterdrückt, sondern als Hüter und Verwalter von etwas Vorgegebenem und Bestehendem, selbst wenn ihm manches fremd oder zumindest sperrig vorkommen mag. Er ist derjenige, der über die Aufnahme authentischen Materials entscheidet. Er ist derjenige, der die Provenienz zu dokumentieren hat, der über die Notwendigkeit von Konservierungsmaßnahmen entscheidet, derjenige auch, der Ordnung und Zusammenhänge schafft. Das verlangt ihm bisweilen eine gewisse Distanz gegenüber dem Archivgut ab. Man könnte diese professionelle Distanz auch mit der Figur eines Treuhänders beschreiben, der stets im Auftrag und im Namen von anderen, hier konkret: der gegenwärtigen und auch der späteren Nutzer das Archivgut erhält, zu mehren versucht und auch fruchtbar (in diesem Fall: fruchtbar für Erkenntnisgewinn) macht. Insofern ist er auch ein Guide und ein Unterstützer für alle, die im Archiv forschen oder Antworten auf bestimmte Fragen suchen.
Der Archivar ist in einer Person aber auch der Anwalt der Menschen, die im Archivgut persönliche Spuren von sich hinterlassen haben. Er muss deshalb im Zweifelsfall die Entscheidung darüber treffen, ob die Einsichtnahme im Interesse differenzierter und neuer Erkenntnisse höher wiegt als der Schutz der Privatsphäre eines bestimmten Akteurs. Dabei gilt es zu beachten, dass der Schutz der Privatsphäre nicht dasselbe ist wie der Schutz des Ansehens einer Institution oder gar das Ausbreiten eines Mantels des Nicht-wissen-Dürfens über Straftatbestände und Fehlhaltungen. Das erfordert im konkreten Fall persönlicher Unterlagen in aller Regel Fingerspitzengefühl, Unterscheidungsvermögen und manchmal auch Mut. Aber das gehört nun einmal zum Historiker und es gehört zur Funktion eines Archivs, auch ein Lernort zu sein. Welches Interesse im Zweifelsfall den Vorrang genießen soll, der Schutz der Persönlichkeit oder das Interesse der Öffentlichkeit und der Forschung, kann nur das Ergebnis eines vom Archivar getätigten Abwägungsprozesses sein, der den einzelnen Fall berücksichtigt. Kriterien für eine Entscheidung könnten sein: die Seriosität des Forschungsunternehmens, die Relevanz privater Gepflogenheiten für das öffentliche Bild einer Persönlichkeit, die Gewissheit, dass sich der Nutzer strikt an die Fakten hält und die Verpflichtung, das Ansehen des betreffenden Einzelnen schonungsvoll zu behandeln.
1 Die theoretischen Grundlagen dieser Ausdifferenzierung habe ich in: Konrad HILPERT, Was ist ein moralisches Problem aus Sicht der Theologischen Ethik, in: Michael ZICHY–Jochen OSTHEIMER–Herwig GRIMM (Hg.), Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegenstandes angewandter Ethik (Freiburg i. Br. 2012) 86–109, hier: 96–101, dargestellt.
2 Text in deutscher Übersetzung unter https://www.unesco.at/kultur/kulturgueterschutz/die-haager-konvention-1 [Zugriff: 19.06.2018].
3 Text in deutscher Übersetzung unter https://www.unesco.de/mediathek/dokumente/unesco-uebereinkommen [Zugriff: 19.06.2018].
4 Text in deutscher Übersetzung unter https://icom-deutschland.de/de/component/content/article/103-ethische-richtlinien.html?catid=21&Itemid=114 [Zugriff: 19.06.2018].
5 Text in deutscher Übersetzung unter https://www.ica.org/resource/ica-code-of-ethics/ [Zugriff: 19.06.2018].
6 Text in deutscher Übersetzung unter https://www.ica.org/?s=UDA_Sept+2013_press [Zugriff am 19.06.2018].
7 Ein beachtlicher Versuch stellt immerhin die auf einer Magisterarbeit basierende informationswissenschaftliche Internetpublikation von Elfriede SCHALIT, Auf dem Weg zu einer Archivethik für das Informationszeitalter. Der Kodex ethischer Grundsätze für Archivarinnen und Archivare im Kontext aktueller informationsethischer Entwicklungen (2016), https://bop.unibe.ch/iw/article/view/2684/3991 [Zugriff: 19.06.2018].
8 Ein verdienstvolles Beispiel ist das Buch von Werner HILGERS, Einführung in die Museumsethik (Berlin 2010). Historisch interessant ist auch der Beitrag von Wolfgang KLAUSEWITZ, Museumsethik in Deutschland, in: Museumskunde 50 (1985) 2–13.
9 Informationelle Privatheit und Selbstbestimmung sowie die Spannung zwischen dem Anspruch auf Privatheit und auf Sicherheit in elektronischen Räumen sind Themen der Informationsethik. Siehe dazu etwa: Rainer KUHLEN, Informationsethik. Umgang mit Wissen und Information in elektronischen Räumen (Konstanz 2004).
10 Beate RÖSSLER, Der Wert der Privatheit (Frankfurt a.M. 2001).
11 Zur Ethik des kollektiven Erinnerns s. u.a. Ahishai MARGALIT, Ethik der Erinnerung. Max Horkheimer Vorlesungen (Frankfurt a.M. 2000).
12 Vgl. Dietmar SCHENK, Kleine Theorie des Archivs (Stuttgart 2008) 32.
13 Siehe unter https://archiv.vsa-aas.ch/wp-content/uploads/2015/03/Dokument-Kodex-ethischer-Grundsaetze-VSA-Publikation-d2cf2ci2ce.pdf [Zugriff: 09.04.2018].