150 Jahre Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe
Festvortrag bei der Jubiläumsfeier „Gottes Liebe sichtbar und erlebbar machen“ am 8. Juni 2018 im Stephansdom in Wien.
Zu den ältesten Textstellen in den Evangelien gehören die Himmelreich-Gleichnisse als Kernstücke der Frohen Botschaft. Das Reich Gottes gleicht einem Senfkorn, dem kleinsten aller Samenkörner. „Ist es aber gesät, dann geht es auf und wird größer als alle anderen Gewächse und treibt große Zweige, sodass in seinem Schatten die Vögel des Himmels nisten können.“ (Mk 4,30–32). Der Himmel auf Erden ist von kaum sichtbarer Größe, aber die Wirkmacht des Guten entfaltet sich unaufhaltbar.
Das Senfkorn, aus dem die Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe wuchs, war in der Tat ein kleiner und bescheidener Anfang. Es begann mit einem Brief, der am 19. November 1868 beim k. und k. cisleithanischen Innenminister Carl Giskra eintraf.1 Er enthält die Bitte, in Wien und in den größeren Städten des Reiches Spendensammlungen durchzuführen. Mit dem Geld sollte eine Anstalt gegründet werden, deren Entzweck dahin gerichtet ist, den so zahlreich vorhandenen weiblichen Dienstpersonale für die Zeit, wo das selbe außer Dienst sich befindet, [...] Beschäftigung und Unterricht zu ertheilen. Unterzeichnet ist das Schreiben mit Franziska Lechner, Oberin der Gesellschaft der göttlichen Liebe.
Der Innenminister sah sich damals außerstande, der doch recht kühnen Bitte einer reichsweiten Sammelaktion für einen, wie er es nannte, lokalen Zweck zu entsprechen und leitete das Ansuchen an den Statthalter Philipp Weber von Ebenhof weiter. Wenig später erfolgte dessen Bewilligung, und diese schuf die Grundlage für die spätere Kongregationsgründung.
Weder Bittbrief noch Genehmigung konnten in den vergangenen Jahren trotz Recherchen in den Archiven in Wien aufgefunden werden.2 Dies gelang erst kurz vor dieser Jubiläumsfeier3 – und das hat einen guten Grund. Mutter Franziska, damals noch eine Fremde in der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien, eine alleinstehende, fromme Bürgersfrau aus Bayern in ihrem 36. Lebensjahr, hatte nämlich in ihrem unbeirrbaren Entschluss und mit ihrer erstaunlichen Tatkraft nicht den Amtsweg eingeschlagen und die Statuten ihres wohltätigen Vereins ordnungsgemäß bei den zuständigen Behörden eingereicht, sondern sich gleich direkt an den Spitzenbeamten des Ministeriums gewandt. Vielleicht ist es ein typisch österreichischer Weg, lieber einen Gnadenerweis von ganz oben zu erbitten, als den Gang durch die Institutionen von unten aus anzutreten. Mutter Franziska scheint auch nicht eine Frau gewesen zu sein, die sich von niederen Beamten und Sekretären aufhalten ließ. Selbstbewusst hatte sie sich als „Oberin“ betitelt, obwohl sie da noch ganz alleine stand. Immerhin brachte ihr das den Respekt der Beamtenschaft ein, die sie schon 1868 wie eine Äbtissin mit Euer Ehrwürden4 adressierte.
Mutter Franziska Lechner, Gründerin der Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe
Während aber die jahrhundertealten österreichischen Stifte kostbare Gründungsurkunden besitzen, mit denen die Stifter dem jungen Konvent Land und Leute anvertrauten, hatte Mutter Franziska bloß eine Aktennotiz und die Erlaubnis, Spenden zu erbitten. Aber sie hatte einen Plan und ein Ziel.
Sie hegte ihr Senfkorn und hatte den Baum schon vor Augen. Dass sie ausgerechnet im November ihre Gesellschaft gründete, war vielleicht mehr als ein glücklicher Zufall. Sie erhob sich am Mittwoch, den 17. November, vom Krankenbett, um ihr Ansuchen zu schreiben und einzureichen,5 eine Bewilligung bis zum Wochenende zu erwarten war durchaus realistisch – die österreichischen Behörden arbeiteten damals wesentlich schneller als heute. Der 21. November aber ist das Fest Mariä Tempelgang, der traditionelle Aufnahmetag für viele geistliche Frauengemeinschaften. Auch wenn Mutter Franziska ihre Bestätigung erst eine Woche später bekam, so beging sie doch den Gründungstag von Anfang an am 21. November. Rituale sind eben bedeutungsvoll.
Mutter Franziska begann ihr Werk ganz klein, nicht mit einem gut dotierten prächtigen Stift, sondern in einer Wiener Mietwohnung. Die Gründung einer geistlichen Gemeinschaft vor Augen, war ihr das tätige Apostolat der Nächstenliebe das erste und dringlichste Anliegen. Der Weg über die Errichtung eines Vereins, in dem sich Gleichgesinnte einem gemeinsamen Ziel verschrieben, war in der damaligen Zeit populär und daher naheliegend. Als Franziska Lechner in Wien eintraf, bestanden im westlichen Reichsteil der Habsburgermonarchie über 4000 Vereine, fünf Jahre später waren es schon vier Mal so viele.6
Den Vereinsnamen, den Mutter Franziska wählte, hatte sie aus der Schweiz mitgenommen. 1865 gründete sie in Graubünden gemeinsam mit dem Priester und Ex-Jesuiten Johann De Pozzo eine Gesellschaft der göttlichen Liebe und war deren erste Vorsteherin. Selbst eine ehemalige Ordensfrau bei den Armen Schulschwestern unserer lieben Frau und eine Lehrerin, leitete sie das von der Gesellschaft geführte Erziehungs- und Bildungsinstitut für Mädchen in Illanz. Unterschiedliche Ansichten über die Vorgehensweise bei weiteren Schulgründungen veranlassten Mutter Franziska schließlich, sich von der Zusammenarbeit mit De Pozzo zu lösen und einen neuen Anfang zu wagen.7
Im Wiener Behördenapparat führte der Name der Gesellschaft zu einiger Verwirrung, als De Pozzo seine Aktivitäten auf die Habsburgermonarchie auszuweiten trachtete und um Anerkennung seiner Gesellschaft der göttlichen Liebe ersuchte. In ihren schriftlich niedergelegten Erinnerungen beklagt Mutter Franziska, dass ihr Feind De Pozzo, ihr keine Ruhe lassen wolle und veranlasst habe, dass ein bösartiger Artikel über sie in der Wiener Kirchenzeitung erschienen war. Der zuständige Beamte im Innenministerium teilte diese Einschätzung und vermerkte, dass der Schweizer Priester nur deshalb um Genehmigung seines gleichnamigen Vereins in Österreich ersuche, um Franziska Lechner auf jede mögliche Weise zu hindern und Concurrenz zu machen8.
Das Pflänzchen, das aus dem Senfkorn wuchs, war also von Anfang an widrigen Bedingungen ausgesetzt und gedieh langsam, aber stetig. Mutter Franziska war keine schwärmerische Gärtnerin, die nur auf gutes Wetter hoffte. Sie baute ihr Werk mit großer Entscheidungsfreude, viel Energie und einem pragmatischen Sinn für das Notwendige auf. Um die Gesellschaft auf eine solide finanzielle Basis zu stellen, beschäftigte sie Sammlerinnen, die mühevolle Bettelgänge unternahmen. Sie selbst wurde bei großbürgerlichen Fabrikbesitzern und adeligen Wohltäterinnen in höchsten Kreisen vorstellig, bis sie schließlich genug Kapital hatte, um die Anzahlung für ein Wiener Zinshaus zu leisten. Dort zog sie mit zwei Mitschwestern sowie einer Statue der Muttergottes und einer des Heiligen Josef ein. In frei gewordenen Wohnungen wurden gegen ein Stiftungsentgelt Pensionärinnen untergebracht. Bald war ihre „Marienanstalt“ soweit gediehen, dass sie dem Gründungszweck ihrer Gesellschaft entsprechen und Dienstmädchen aufnehmen konnte. Diese erhielten kostenlos Logis, indem sie aber die Wäsche für gutbürgerliche Wiener Haushalte machten, trugen sie zu ihrem Unterhalt bei. Weitere Einnahmen erhielt die Gesellschaft durch die Provision bei der Vermittlung der Dienstbotinnen an potentielle Arbeitgeber.9
Weil ihr Werk aber ein geistliches sein sollte, suchte Mutter Franziska von Anfang an eine Heimat in der Kirche. Sie stellte ihr Unternehmen dem Erzbischof von Wien, Kardinal Joseph Othmar von Rauscher, vor, der sie ermutigte und 100 Gulden spendete. Sie besuchte die Wiener Männerklöster und bat die Beichtväter, ihr Mädchen, die zum Ordensleben geneigt seien, zu schicken. Einen Priester an der Augustinerkirche, der Hofpfarre, gewann sie als geistlichen Superior für ihr Haus.10
Dem religiösen Charakter ihrer Gründung widmete Mutter Franziska von Beginn an besondere Aufmerksamkeit. Sie wollte nicht Vereinsmitglieder, sondern Mitschwestern. Die ersten Frauen, die sich ihrem Wirken anschlossen und mit ihr die Marienanstalt führten, banden sich mit einem Versprechen an die Gesellschaft. Bald schon wurden sie von Mutter Franziska „Töchter der göttlichen Liebe“ genannt und schließlich 1871 vom Erzbischof von Wien als geistliche Genossenschaft anerkannt.
Der Name der jungen Kongregation ist ein altehrwürdiger und eine wörtliche Übersetzung der Filles de la Charité, der Gründung des Heiligen Vinzenz von Paul im Jahr 1633. In einer Zeit, in der man Frauen nur ein kontemplatives, klausuriertes Klosterleben zugestand, war seine Gemeinschaft mit einem tätigen karitativen Apostolat in der Welt etwas erfrischend Neues gewesen. Kirchenrechtlich kein Orden im engeren Sinn war dieses weibliche Semireligiosentum ungemein erfolgreich und erfuhr im 19. Jahrhundert eine enorme Verbreitung. Das karitative Wirken der Frauenkongregationen gab der Kirche ein ganz neues Gesicht.
Als Mutter Franziska in Wien eintraf, waren bereits viele solcher Kongregationen hier ansässig: die Töchter der christlichen Liebe vom Heiligen Vinzenz von Paul, besser bekannt als Barmherzige Schwestern, waren die ersten gewesen. Ihnen waren die zahlreichen Gründungen franziskanischer Tertiarschwestern sowie weitere Kongregationen aus Frankreich und Deutschland gefolgt. Sie führten Spitäler, Schulen, Kinderheime und Armenhäuser. Das Alleinstellungsmerkmal der neuen Gemeinschaft von Mutter Franziska war die besondere Sorge um die oft schwierige Lage der Wiener Dienstmädchen – die Armut, die sie in die Großstadt getrieben hatte, ihre prekären Beschäftigungsverhältnisse und der Mangel an familiärem Rückhalt bei den Arbeitsmigrantinnen. Die Töchter der göttlichen Liebe waren die erste Wiener Frauenkongregation mit diesem Apostolat, einem, das unmittelbar auf eine besondere Not dieser Zeit reagierte.
Die industrielle Revolution hatte Wohlstand, technischen Fortschritt und Mobilität für die einen, aber auch Elend und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse für viele andere gebracht. Das katholische Lager war gespalten: während der feudale Adel und die hohe Geistlichkeit sich entschieden dem regierenden, oft antiklerikalen Liberalismus entgegenstellten, sah sich das katholische Kleinbürgertum vor den Herausforderungen tiefgehender Veränderungen, und der niedere Klerus an seiner Seite erkannte, welch große Aufgaben hier bevorstanden.
Franziska Lechner war eine Grenzgängerin zwischen zwei Welten: Mit dem Selbstbewusstsein einer Ehrwürdigen Mutter profitierte sie von den Wohltätigkeitsveranstaltungen hochgestellter Persönlichkeiten. So etwa wendete ihr 1870 der Außenminister und Reichskanzler Friedrich Ferdinand Graf von Beust das Erträgnis seines „Charityevents“ in der Höhe von 6.100 Gulden zu. Andererseits kooperierte sie mit Gründern der christlich-sozialen Bewegung wie dem Priester und Wiener Gemeinderat Adam Latschka, der den ersten christlichen Arbeiterverein ins Leben gerufen hatte.
Ihr Leitungsamt, das sie nach eigenem Willen auf Lebenszeit innehatte, war für Mutter Franziska eine Herausforderung, der sie sich entschieden immer wieder aufs Neue stellte. Ihre Entschlossenheit und ihr Arbeitseifer waren mit Erfolg gesegnet. Sie gründete insgesamt 32 Häuser und nahm fast 500 Schwestern in die Kongregation auf.11
Sie erlebte alle Höhen und Tiefen einer Oberin. Das Zusammenleben „wie ein Herz und eine Seele“, von der die Augustinusregel spricht, nach der die Töchter der göttlichen Liebe ihr Leben ausrichten, war nicht immer einfach zu verwirklichen. Manche Schwester schied in Unfrieden oder musste gar entlassen werden. Das Einüben in das Ordensleben ermangelte besonders am Anfang der theologischen Grundlage und Bildung: Der alte Kinderglaube, die jährlichen Exerzitienvorträge und die Gebetspraxis allein trugen nicht immer durch alle Schwierigkeiten gelebter Ordensdisziplin. Manche Schwester plagte bis zur Todesstunde die Furcht vor dem Fegefeuer.12
Aber auch viel Freude, Tatkraft und Elan standen am Beginn der neuen Schwesternschaft. Caritas, göttliche Liebe, lässt uns nicht nur ein gutes Ende erhoffen, sondern selbst daran mitwirken. Caritas ist eine zutiefst persönliche Angelegenheit und nicht bloß abstrakte Agenda. Sie beginnt mit Betroffenheit und dem unbändigen Wunsch, das Himmelreich auf Erden von Senfkorngröße auf Sichtbarkeit und Erlebbarkeit zu vergrößern. Mutter Franziska Lechner und die Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe haben in den letzten 150 Jahren kraftvoll daran mitgewirkt.
Ein Fest zu einem großen Jubiläum wie dem heutigen ist ein Innehalten zwischen Erinnern und Erwarten, ein Verknüpfen von Rückblick und Vorschau. Im Schatten unserer Senfbäume sitzend – und deren gibt es in der österreichischen Ordenslandschaft so viele – darf mit Dankbarkeit all jener gedacht werden, die zum Wachsen und Gedeihen beigetragen haben. Auch wenn da und dort viele Äste zurückgeschnitten oder gar Bäume gefällt werden, so macht uns das nicht bekümmert. Denn die Wirkmacht des Himmels ist unaufhaltbar, und es gibt noch viele Senfkörner für eine neue Aussaat.
1 Niederösterreichisches Landesarchiv, NÖ Statthalterei, Präsidialakten, Z. 6507.
2 Kunegunda Zofia RUSZTYN FDC, Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe 1868–1919 (Wissenschaftliche Gesellschaft der Katholischen Universität Lublin „Johannes Paul II.“, Quellen und Monographien 337, Lublin 2009) 58.
3 Ich danke Elisabeth Loinig vom Niederösterreichischen Landesarchiv für die Unterstützung bei der Recherche.
4 Niederösterreichisches Landesarchiv, NÖ Statthalterei, Präsidialakten, Z. 6507.
5 Generalarchiv der Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe in Wien, Chronik 1868–1876.
6 Ernst BRUCKMÜLLER, Sozialgeschichte Österreichs (Wien 1985) 399.
7 RUSZTYN, Kongregation (wie Anm. 2) 34–38.
8 Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Neuer Kultus, Kath Akten 1044.2, Sign. 92, Z. 8870.
9 Generalarchiv der Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe in Wien, Chronik 1868–1876, Einträge zu den Jahren 1868 und 1869.
10 Ebd.
11 RUSZTYN, Kongregation (wie Anm. 2) 128–192.
12 Generalarchiv der Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe in Wien, Zirkulare von Mutter Franziska Lechner, 1875–1893.