„For the record …“
Vortrag beim Studientag der Fachgruppe der Archive der anerkannten Kirche und Religionsgemeinschaften im Verband Österreichischer Archivarinnen und Archivare am 28. Jänner 2019 in Salzburg
Records Management verbindet man mit vielen unterschiedlichen Konzepten und Vorurteilen: es ist etwas Technisches, das sich leicht mit entsprechenden Applikationen abdecken lässt, es ist etwas völlig Unnötiges und kann der Gruppe von Modeausdrücken zugeordnet werden, die sowieso keiner braucht, oder es ist – ganz im Gegenteil zum letztgenannten Vorurteil – wenn als Synonym mit Schriftgutverwaltung verwendet, ein altbackenes Konzept, gemeinhin als Registratur bezeichnet, langweilig und – siehe erstes Argument – sowieso völlig überholt.
Tatsächlich ist Records Management weder ein neues Konzept noch ein altbackenes … und wie wir noch sehen werden, auch kein (rein) technisches. Nähern wir uns daher schrittweise der Thematik:
Schriftgutverwaltung ist heutzutage stark vom englischsprachigen Konzept des Records Managements überlagert. Gleichzeitig bleibt das Records Management in seinen Begrifflichkeiten und Konzepten nicht deckungsgleich mit der Schriftgutverwaltung; dies zeigt sich nicht nur, wenn die Terminologie des Records Managements teilweise nicht einmal eine Übersetzung ins Deutsche erhält (siehe mehrere unübersetzte ISO Standards), sondern auch am Titel dieses Vortrages, der mehrere Konzepte des Records Managements thematisiert, die in der Schriftgutverwaltung nicht existieren. Zur allgemeinen Vereinfachung, allerdings, werden im Rahmen dieses Vortrages nicht die trennenden Aspekte betont, sondern lieber die Gemeinsamkeiten und Vorteile, die man vom Records Management in die Schriftgutverwaltung einfließen lassen kann.
Denn Records Management und/oder Schriftgutverwaltung stehen vor demselben grundsätzlichen Problem: Die Kosten für ihre Implementierung sind hoch, es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess und der Nutzen einer ordentlichen Schriftgutverwaltung wird vor allem dann sichtbar, wenn sie nicht funktioniert hat und Informationen unkontrolliert verteilt oder gelöscht werden, nicht zur Verfügung stehen, wenn sie gebraucht werden oder Geschäftsvorgänge nicht mehr bewiesen werden können, etc.
Was jedoch ist Schriftgutverwaltung? Ausgehend von Records Management Definitionen, die in unterschiedlichen Standards (insbesondere ISO Standard 15489-1:2016, aber auch 30301:2011) benutzt werden, kristallisieren sich die grundlegenden Konzepte heraus:
Erstens: Entgegen jeglicher anderslautenden Meinung (insbesondere von Seiten des Managements) ist Schriftgutverwaltung/Records Management (RM) eine Führungsaufgabe. Wie Aktenablage strukturiert zu sein hat, wie bzw. mit welchen Applikationen sie verwaltet werden soll, ist eine Überlegung, die von grundlegender Bedeutung für ein Unternehmen oder eine Organisation ist. Diese Aufgabe kann (und wird) von Entscheidungsträgern an Spezialisten (Records Managers) ausgelagert; trotzdem – und in Anlehnung an eine sehr gute Analogie, die Beat Siegrist, ein sehr bekannter Schweizer Schriftgutverwalter zu verwenden pflegt – ist es auch nicht die Aufgabe der Kuh, die Melkmaschine zu bestellen.1
Zweitens: Schriftgutverwaltung/RM ist eine systematische Aufgabe: Eine strukturierte Aktenablage wird gegenüber einem Aktenhaufen verschiedene Vorteile bringen, von treffsicheren Suchmöglichkeiten und sinnvollen Suchergebnissen bis zur Anwendung von Fristen und einer Verwaltung der Akten aus der Perspektive der Informationssicherheit (um nur einige zu nennen). Im Englischen wird dies angenehm griffig umschrieben mit „records filing versus records piling system“.
Drittens: Die Schriftgutverwaltung/RM steht in einem engen Bezug zum „Records Life Cycle“, einem Konzept, in dem Informationen und ihre Träger nicht einen linearen sondern – im Idealfall – zyklischen Weg gehen.
Das Konzept unterscheidet zwischen aktuellen Akten im Status der Entstehung, Registrierung und Bereitstellung, halb-aktuellen Akten im Zuge der Aufbewahrung und Aussonderung und den archivischen Akten, die zugänglich gehalten werden, um im Idealfall als Basis für die Entstehung neuer Akten zu dienen.
Der Records Life Cycle betont auch die Wichtigkeit des Skartierungsplanes, sichtbar in der Definition des ISO Standards 30301, der ebenfalls anführt, dass Akten nur so lange bereitgestellt sein sollen, wie sie benötigt werden (wobei die Notwendigkeit durch den Skartierungsplan zwischen der abgebenden Stelle und den SchriftgutverwalterInnen und ArchivarInnen festgelegt wurde).
Viertens: Die Nachweisbarkeit eröffnet die juridische Perspektive der Schriftgutverwaltung und steht in einem engen Zusammenhang mit Risikoabschätzung. Die Notwendigkeit, vertrauenswürdige Geschäftsunterlagen zu verwalten, beginnt beim Evidenzwert der originalen Akten und endet bei e-Discovery. Hier erlangen die Kernbegriffe des Records Managements ihre volle Bedeutung. Zur Nachweisbarkeit von Geschäftsprozessen, um verbindliche und verlässliche Informationen zu haben, ist es von Nöten, folgende Grundkonzepte zu erfüllen:2
-
Die Integrität (integrity) der Akte soll gewährleisten, dass sie vollständig und unversehrt vorliegt.
-
Die Authentizität (authenticity) muss die Echtheit ihrer Herkunft erhalten.
-
Die Zuverlässigkeit (reliability) der Akte dient zur Beweiskraft und um die Genauigkeit des Inhaltes zu gewährleisten.
-
Die Benutzbarkeit (usability) muss gewährleisten, dass die Akte lokalisierbar, lesbar, interpretierbar und verarbeitbar ist.
Natürlich sind dies Kernkonzepte, die in der Archivwissenschaft genauso gelten. Gleichzeitig werden diese Kompetenzen mit den Kernkonzepten, wie sie sich im Referenzmodell für digitale Langzeitarchivierung darstellen, perfekt ergänzt: Nachdem Integrität, Authentizität, Zuverlässigkeit und Benutzbarkeit gewährleistet sind, stellt ISO 14721 diesen
-
die Originalität (fixity)
-
die langfristige Verstehbarkeit unabhängig von Änderungen der Software und Hardware, sowie
-
die Persistenz (persistence), somit die langfristige Verfügbarkeit,
an die Seite.
Fünftens: Die Definitionen rund um die Schriftgutverwaltung machen auch eine wichtige weitere Perspektive klar: Es handelt sich um keine statische Aufgabe und keine Verwaltung von statischen Informationen. Es sollen Akten aus Geschäftsabläufen und Transaktionen verwaltet werden. Wir reden hier nicht nur von strukturierten und nicht strukturierten Daten, sondern auch von der Tatsache, dass im Zuge von dynamischen Prozessen die Informationen mit Evidenzwert korrekt verwaltet werden müssen.
Schriftgutverwaltung hat Methode! Schriftgutverwaltung ist Methode.
Zurückkommend auf die einleitenden Worte und des Missverständnisses, dass Schriftgutverwaltung eine technische Angelegenheit sei oder – anders gesagt – rein mit technischen Applikationen bewältigt werden kann, ist hier und nach unserem langen Weg durch die verschiedenen Aspekte, die wichtigste Erkenntnis erreicht: Schriftgutverwaltung / Records Management ist eine prozedurale Herausforderungen, die durch technische Hilfsmittel bewältigt werden kann. Um sie professionell zu erfüllen, ist es notwendig, die Strategien und Standards festzulegen und – daran anschließend – die Aufbau- und Ablauforganisation anzupassen.
Es geht, für kleine und für große Archive, für kleine und große Unternehmen oder Organisationen immer um prozessorientierte Strukturen, die gesetzt werden müssen. Die Technik kann daran angepasst werden (oder man sich an die Technik). Wenn wir somit von Schriftgutverwaltung für kleine Archive sprechen, dann wird die Antwort primär mit drei Kernkompetenzen des Records Managements in Verbindung stehen:
-
Compliance (Rechtmäßigkeit): Was ist der gesetzliche Rahmen, welche Pflichten und Rechte habe ich?
-
Nachvollziehbarkeit: Wie können die Entscheidungen überprüfbar gehalten werden?
-
Kontinuität: Gerade Kontinuität ist von der archivarischen Perspektive von großer Bedeutung, denn wie verbinde ich unveränderte Aufbewahrung mit Nutzbarmachung bei sich veränderndem elektronischem Umfeld?
Somit ist es zunächst einmal wichtig, den rechtlichen Rahmen auszuloten: gibt es bestimmte Aufbewahrungsfristen für bestimmte Akten? Welche weitere Bereiche (und ihre Gesetze) muss ich beachten (Datenschutzbestimmungen, Informationssicherheit etc.)? Nicht alle Bereiche werden durch Gesetze reguliert sein.
Hier kommt das Konzept der Best Practice zum Zug, der Analyse der sinnvollen und praktischen Lösungen, die in vergleichbaren Institutionen angewandt werden. Diese Verortung der eigenen Möglichkeiten im Vergleich zu ähnlichen Institutionen (thematisch und/oder in ihrer Größe), dieses Benchmarking, ist keine statische Zugangsweise, denn Best Practices ändern sich natürlich, es ist somit wichtig, diesen Vergleich immer wieder anzustellen. Indem man sich mit ähnlichen Archiven vergleicht und (über Zeit) ein Netzwerk bildet, ist man über die neuen Möglichkeiten informiert, kann Wissen teilen und gemeinsam an neuen Best Practices arbeiten.
Hat man dieses Benchmarking durchgeführt und sich praktisch umsetzbare Lösungen erarbeitet (z.B. um die Akten authentisch zu behalten), wird es entscheidend sein, diese auch nachvollziehbar zu machen und – vor allem – kontinuierlich anzuwenden. Die Praktikabilität gibt den Ausschlag, eine tatsächliche Lösung und nicht nur einen Papiertiger zu haben. Die Verbindung zwischen Theorie und Praxis gelingt durch einen Brückenschlag, der im Records Management als Defensible Solution bezeichnet wird: Im Rahmen eines kleinen Archives werden die Lösungen vielleicht nicht ideal oder nach den Best Practices möglich sein, aber solange es eine nachvollziehbare, systematisch angewandte Lösung gab, die nach besten Wissen und Gewissen zusammengestellt und überlegt wurde, nähere ich mich bestmöglich der Schriftgutverwaltung an.
Die Konzepte der Best Practice und der Defensible Solution verdeutlichen die Flexibilität der Schriftgutverwaltung: Bestimmte Konzepte sollen bestmöglich erreicht werden (siehe die Kernkompetenzen der Integrität, Authentizität etc.), es gibt bestimmte Methoden, die sich als sehr hilfreich erwiesen haben, wie jedoch schlussendlich der Weg beschritten wird, bleibt den Möglichkeiten und der Praktikabilität ihrer Umsetzung überlassen.
Die Methoden der Schriftgutverwaltung rangieren von der Analyse der Aktenbestände, über die Erstellung eines Akten- oder Skartierungsplanes, der Entscheidung, welche Akten von entscheidender Bedeutung für die angebrochene Aufrechterhaltung der Geschäftsprozesse sind (vital records management) bis zu der regelmäßigen Inspektion der Aktenablage.
Wir sehen somit eine Schriftgutverwaltung, die nicht unbedingt auf komplexen aber insbesondere transparenten Prozessen basiert, die verfechtbare Lösungen erarbeitet hat (defensible solutions), die ihrerseits mit der angemessenen Sorgfalt (due diligence) ausgeführt wurden. Was bedeutet dies nun für kleine Archive? Zunächst einmal zu dokumentieren, zu dokumentieren und nochmals zu dokumentieren, und zwar von den Geschäftsprozessen selber über alle Prozesse des Records Life Cycles (Entstehung, Bearbeitung, aber auch Zugriffsregeln bis zur Skartierung oder Aufbewahrung). Und danach, die erarbeiteten Prozesse auch mit aller gebotener Sorgfalt und systematisch durchzuführen.
Bei all diesen Prozessen und Dokumentationen derselben dürfen die SchriftgutverwalterInnen nicht vergessen, in ständiger Kommunikation mit den aktenproduzierenden Stellen zu verbleiben. Denn Records Management hat einen Blick auf die Akten, die Geschäftsstellen sind jedoch die Experten ihrer Geschäftsprozesse. Ohne Handreichung wird es weder gelingen, eine praktikable Ablage zu vereinbaren, noch diese benutzerfreundlich zu halten.
Dabei ist es oft entscheidend, auch über das WIE der Unterhaltung nachzudenken. Schriftgutverwaltung (und Archivmanagement) sind sehr übergreifende Wissenschaften, gleichzeitig wird kein Vokabel lieber missverständlich gebraucht als „archivieren“. Es ist daher notwendig, klare und einfache Definitionen zu überlegen, um bei Gesprächen auch ein gemeinsames Vokabular einzusetzen (oder zumindest ein gemeinsames Verständnis zu erlangen, was die Begriffe bedeuten und sie voneinander abzugrenzen, wenn nötig). Auch könnte es notwendig sein, ein Thema, dass (wie eingangs erwähnt, so in seiner Notwendigkeit umstritten ist) für unterschiedliche Akteure (Geschäftsleitung, (Sach-)bearbeiterInnen, IT-Abteilung) unterschiedlich in den Fokus zu rücken und damit besser auf das eingehen zu können, was für das jeweilige Gegenüber als besonders hilfreich oder notwendig empfunden wird. Die Bedeutung der „Verständlichkeit“ ist auch besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass genug Arbeitgeber oder höherrangige Manager Records Management für eine rein technische Aufgabe (es geht ja um digitales) halten (siehe die Argumente, die in der Einleitung zusammengestellt waren) und sich daher per definitionem an die IT-Abteilungen als Experten für Elektronisches wenden werden.
Zusammenfassend wäre daher zu sagen, dass Schriftgutverwaltung und/oder Records Management ein Prozess ist, der fachübergreifend mit einem gut erarbeiteten Vokabular kommuniziert werden muss, an die Gegebenheiten angepasst werden muss und wichtige Vorteile inkludiert: schnellere Auffindbarkeit von Informationen, besserer Schutz vor Informationsverlust oder -lecks sowie einen besseren Schutz personenbezogener Daten etc.
Marta Riess studierte Geschichte in Wien und Madrid und absolvierte einen Master in „digitaler Dokumentation“ (digitaler Langzeitarchivierung) an der Universität Pompeu Fabra (Barcelona). Seit 2010 ist sie im Archiv der International Atomic Energy Agency (IAEA) in Wien tätig.
Kontakt: m.riess@iaea.org
1 Die Analogie stammt aus einem Vortrag, den Beat Siegrist während des 83. Lehrganges des Vereins deutscher Wirtschaftsarchivare in Wien, 06-08.06.2016, zum Thema „Die Registratur ist tot – es lebe das Records Management? Versuch einer strategischen Einordnung des Records Management auf dem Weg zu einem prozessorientierten Informationsmanagement“ hielt.
2 Die hier angeführten vier Kernkompetenzen, insbesondere aber ihre Übersetzung basieren auf den Unterlagen des Intensivkurses für Records Management, angeboten durch die Ikeep AG (Schweiz), siehe: http://ikeep.com.