Angelus Novus
Vortrag am 11. Dezember 2018 bei der Tagung „600 Jahre Melker Reform“ in Stift Melk
„Das Religiosentum prägte die europäischen Vorstellungen von der Wechselwirkung zwischen Individuum und Gemeinschaft entscheidend mit, es lehrte Europa die Rationalität der Planung, der Normsetzung, des Einsatzes pragmatischer Schriftlichkeit, der Arbeitsteilung, der Güterzuweisung, der ökonomischen Betriebseffizienz. Es erprobte erfolgreich die rationale Gestaltung gesellschaftlicher Systeme […] und eröffnete damit den Weg zu einer innovativen Konstruktion von Staatlichkeit. Es erfaßte und hinterfragte auf der Suche nach Gott das Wissen der Welt, um sich damit dem Schlüssel der Schöpfungsordnung zu nähern; es tradierte und verfaßte Texte, um dem Vergessen Einhalt zu gebieten und Wissen für die Zukunft zu speichern. Es testete die Grenzen der rationalen Erkenntnis durch die Technik der scholastischen Dialektik aus und sprengte sie auf durch die individuellen Erfahrungen der Mystik.“ Mit diesen Worten eröffnete der Mediävist und Ordenshistoriker Gert Melville im Mai 2006 die „Forschungsstelle für Vergleichende Ordensgeschichte“ an der Universität Eichstätt1. Bei einer derartigen Einschätzung der herausragenden Bedeutung der mittelalterlichen Klöster kommt unweigerlich der Verdacht auf, dass das Ordensleben seine besten Zeiten bereits weit hinter sich hat.
Denn wer wollte den 192 katholischen Ordensgemeinschaften, die heute in Österreich bestehen, noch solche gesellschaftliche Relevanz beimessen? Rund 5.000 Ordensleute, davon 3.300 Frauen und 1.700 Männer, die in etwa 600–700 Ordensniederlassungen leben (nur ein Bruchteil davon sind Klöster) gibt es hierzulande2. Die Handelskette Billa hat in Österreich über 1.000 Filialen und 20.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter3, prägt sie dadurch unseren Alltag nicht wesentlich mehr? Und wäre darum der Wirtschaftsgeschichte nicht der Vorrang vor der Kirchen- und Ordensgeschichte einzuräumen?
Publikationen über Ordensgeschichte
Eine Suche nach dem Schlagwort „Geschichte“ kombiniert mit den Schlagworten „Kloster“, „Kirche“ und „Wirtschaft“ im Katalog des Österreichischen Bibliothekenverbunds seit 1850 bringt ein überraschendes Ergebnis.
Abb. 1: Treffer im Österreichischen Verbundkatalog zum Schlagwort „Geschichte“ kombiniert mit den Schlagwörtern „Kirche“, „Kloster“ und „Wirtschaft“.
Dass die Anzahl kirchenhistorischer Publikationen in den 1960er Jahren, zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils und tiefgreifender Veränderungen in Struktur und Gehalt kirchlicher Institutionen, einen Höhepunkt erreichte und seitdem im Abnehmen begriffen ist, verwundert nicht: Der gesellschaftliche Bedeutungsverlust der Kirchen ist evident und fortschreitend. Dass die wirtschaftshistorische Forschung in den neoliberalen Nachwendejahren einknickte, geht nicht mit einer abnehmenden Relevanz ökonomischer Systeme einher, sondern mit der Skepsis an deren Veränderbarkeit. Auch das geringer werdende kirchenhistorische Forschungsinteresse könnte mit der Rezeption einer starren, reformresistenten Kirche zu tun haben: Ohne Visionen erscheinen Traditionen sinnentleert.
Eine Überraschung ist die Anzahl von Medien, die zum Thema Kloster und Geschichte in Österreichs Bibliotheken zu haben sind.
Abb. 2: Treffer im Österreichischen Verbundkatalog zu den Schlagwörtern „Geschichte“ und „Kloster“.
Dass die Publikationstätigkeit dazu nach dem Ende der Habsburgermonarchie einbricht und zur Zeit des Nationalsozialismus einen Tiefpunkt erreicht, scheint nachvollziehbar zu sein. Auch der Anstieg danach ist plausibel, es überrascht allerdings, dass die Kurve auch weiterhin ansteigt. Sollte meine Einschätzung, dass die Ordensgeschichtsschreibung heute ein Orchideenfach ist, das kaum noch Präsenz in der Forschungslandschaft hat, falsch gewesen sein?
Abb. 3: Treffer im Österreichischen Verbundkatalog zu den Schlagwörtern „Geschichte“ und „Kloster“ 2000 – 2009.
Eine Durchsicht der einzelnen Medien mit den Erscheinungsjahren 2000 bis 2009 bringt eine Erklärung: Die ganz überwiegende Anzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen beschäftigt sich mit dem mittelalterlichen Religiosentum4. Der Mediävistik scheinen die Fragestellungen zur Klostergeschichte nicht auszugehen. Ich wage zu behaupten, dass das nicht immer damit zu tun hat, dass die Forscherinnen und Forscher von der Wichtigkeit der Klöster überzeugt sind, sondern mit der Quellenlage: Die Überlieferung für klösterliches Schriftgut des Mittelalters ist gerade in Österreich, wo sich so viel davon in situ erhalten hat, besonders günstig.
Die neuzeitliche Forschung konzentrierte sich auf epochenübergreifende Darstellungen – im untersuchten Zeitraum erschienenen die „Austria Benedictina“ und das „Österreichische Chorherrenbuch“ –, weiters auf die Säkularisation, deren 200jähriges Gedenken 2003 begangen wurde, auf den Nationalsozialismus und auf die Frühe Neuzeit, Stichwort Konfessionalisierungsparadigma. Aber diese Klosterforschungen sind weit abgeschlagen und liegen nur knapp vor den belletristischen Publikationen, die in wissenschaftlichen Bibliotheken zu haben sind (in Wahrheit dürfte es also wesentlich mehr davon geben) und die Titel wie „Das Geheimnis spanischer Nonnen“ oder „Tod im Skriptorium“ tragen.
Viel bedeutsamer und umfangreicher sind die historischen Untersuchungen und Darstellungen ostkirchlicher Klöster. Hier scheint ein Zusammenhang mit dem Anwachsen der orthodoxen Glaubensgemeinschaften in Österreich im Zuge von Migrationsbewegungen gegeben zu sein. Interessanterweise erfreut sich der populäre Klosterführer großer Beliebtheit, als Vademecum für den Kulturreisenden, der auf der Suche nach „Österreichs schönsten Klöstern“ ist.
Mit der Marginalisierung zeitgenössischen Religiosentums hat auch die Mystifizierung des Klosterlebens zugenommen: Man interessiert sich für „Das geheime Heilwissen der Klosterfrauen“, „Schlemmen hinter Klostermauern“ oder das „Universum der Stille“, als welches sich Klöster auch gerne selbst darstellen.
Mönche, Nonnen, Ordensleute
Die Sehnsucht nach dem „Andersort“ Kloster richtet sich heute allerdings mehr auf das fernöstliche Ordensleben und den buddhistischen Mönch, dem aus der Distanz betrachtet oft eine tiefere Spiritualität zugeschrieben wird als den Ordensleuten hierzulande. Im heutigen katholischen Religiosentum ist der klassische Mönch eine Randerscheinung, in der österreichischen Klosterlandschaft noch dazu eine josephinisch überformte, geprägt von Priestertum und Pfarrseelsorge.
Die innerkirchlich geübte Eindeutschung für den Begriff Religiosen – Ordensmänner und Ordensfrauen – hat es nicht wirklich in den Sprachgebrauch geschafft, unter „Orden“ werden zumeist Ehrenzeichen verstanden, nicht religiöse Gemeinschaften. Die gängige Vorstellung von Ordensleben ist immer noch die von einem Dasein wie im mittelalterlichen Kloster: in Weltabkehr, Klausur und dem gemeinsamen Gebet verpflichtet. Das korreliert nicht nur mit den aktuellen Forschungsinteressen, sondern auch mit den aktuellen Eintrittszahlen: Die Ordensgemeinschaften mit den größten jungen Konventen in Österreich sind bei den Frauenorden eine dem Kartäuserleben nachempfundene Gemeinschaft in Salzburg5 und bei den Männerorden das Zisterzienserstift Heiligenkreuz; Internationalität spielt dabei bei beiden Instituten eine große Rolle6.
Die traditionalistische Auffassung vom ordo religiosus haben historisch betrachtet immer schon die Frauen besonders zu spüren bekommen. Das Konzil von Trient schrieb den Schwestern strenge Klausur vor, ein soziales Apostolat hatten sie hinter Klostermauern zu verrichten. Dem weiblichen Semireligiosentum der Frühen Neuzeit begegnete die kirchliche Obrigkeit mit Misstrauen und schrieb Ordenskonstitutionen vor, die dem klassischen Bild der Nonne entsprachen.
Die „Vernonnisierung“ funktionierte auch bei den Frauenkongregationen, die im 19. Jahrhundert einen so großen Zulauf hatten, dass zum ersten Mal in der Kirchengeschichte die Anzahl der Ordensfrauen jene des Regularklerus überstieg. Eigentlich aus Laienbewegungen entstanden, oft aus franziskanischen Dritten Orden und nur mit einer temporären Bindung an die Gemeinschaften, wurden die Ordensfrauen auch optisch zu Klosterschwestern transformiert. Erst die Beschlüsse über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens beim Zweiten Vatikanischen Konzil brachte eine äußere und innere Veränderung. Und obwohl die österreichischen Frauenorden heute die größten privaten Schul- und Spitalserhalter sind, mit enormen Managementqualitäten, sind die Vorstellungen vom weltfremden Klosterleben bei Frauen in Habit geblieben. Aus dieser Gegenwart heraus nach der Geschichte der Orden zu fragen, stellt darum eine besondere Herausforderung dar.
Angelus Novus
Abb. 4: Angelus Novus. Aquarellierte Zeichnung von Paul Klee (1920). Jerusalem, Israel-Museum.
Den Standort des Rückblicks reflektierte Walter Benjamin in seinem letzten Lebensjahr 1940 in dem Text „Über den Begriff der Geschichte“7. Mit der Machtübernahme des nationalsozialistischen Regimes war die fortschrittsorientierte Geschichtsphilosophie der Aufklärung in die Krise gekommen. Der Frage, wie es in der Moderne „noch“ zu einer solchen politischen Katastrophe kommen konnte, erteilt Benjamin eine Absage: Sein „Engel der Geschichte“, illustriert anhand der Zeichnung „Angelus Novus“ von Paul Klee, kehrt der Zukunft den Rücken.
„Auf den Begriff einer Gegenwart, die nicht Übergang ist, sondern in der die Zeit einsteht“, kann der historische Dialektiker nicht verzichten, so Benjamin8. Der Bedeutungswandel des Religiösen in der Moderne hat unweigerlich auch zu einer Änderung im Erkenntnisinteresse der Geschichtsforschung geführt. Kirchengeschichtsschreibung im Allgemeinen und Ordenshistoriographie im Besonderen unterliegen seit jeher einer komplexen Epistemologie mit einem besonders scharfen Kontrast von Innen- und Außensicht.
Warum jemand vor 600 Jahren in ein Kloster eintrat, kann der Mediävist nachvollziehen oder bei Melville und vielen anderen nachlesen. Aber schon die Jesuiten des 16. Jahrhunderts hielten das herkömmliche Mönchtum für überholt und anachronistisch9. Und dass man heute „noch“ ins Kloster gehen will, produziert Erklärungsbedarf. In der Ordensgeschichte hat auch der Historismus dem Fortschrittsbegriff, der von einem universalen und unaufhaltsamen Prozess eines zunehmenden Bedeutungsverlusts des Religiösen ausgeht, nichts anhaben können. Es ist sehr bemerkenswert, dass dies auch zu drastischen Veränderungen in der Geschichtsschreibung der Orden selbst geführt hat.
Geschichte der Ordensgeschichtsschreibung
Hohes Alter und lange Tradition stellten in den Stiften der sogenannten alten Orden Kontinuität her und waren in diesem Sinn eine Legitimation. Sich in die Geschichte des Klosters, in das man eintritt, einzuschreiben, bringt Sicherheit und Selbstvergewisserung. Historia bedeutete in der Frühen Neuzeit allerdings mehr Geschichtsdeutung, die Geschichtsschreibung in den Orden legte jedoch Wert auf den Quellenbezug: Simon Rettenbacher betonte in seiner gedruckten Geschichte des Stiftes Kremsmünster von 1677: Annales scribo, non historiam10.
In der Rückschau zusammengestellt wurden die notitia universalis des Abtes Klemens Schäffer des Zisterzienserstiftes Heiligenkreuz aus dem Jahr 167111. Der Äbtekatalog endet selbstbewusst usque ad me. Der Aufbau dieser Hauschronik richtet sich ganz nach der Archivordnung: Die Kapitelüberschriften entsprechen den Ladenbezeichnungen, die einzelnen Abschnitte enthalten Urkundenabschriften betreffend den Ursprung stiftlicher Rechte. Äbtekataloge, Jahrbücher, Diarien und Schreibkalender sind in diesem Sinne als Geschäftsschriftgut aufzufassen, das Handeln dokumentiert. So wie in den Rechnungsregistern laufend die Ausgaben eingetragen wurden, protokollierten auch ein Kirchenkustos, ein Küchen- oder Kellermeister, ein Pfarrer, Prior oder Abt die Erledigung ihrer Aufgaben und besondere Vorkommnisse. Es waren Schriftproduktionen an der Schnittstelle von Geschichtsschreibung und Geschäft.
Aus dem Seriencharakter der Quellen und der Gleichförmigkeit der Akten gewannen klösterliche Archivare, die in Personalunion auch die Historiker ihrer Gemeinschaften waren, ein Geschichtsbild von Stabilität und Kontinuität und eine Gelassenheit gegenüber der Wirkmächtigkeit historischer Umbruchzeiten. Reform im Kloster war Wiederherstellung des Ursprünglichen, immer schon Gültigen, Geschichte immer gleichzeitig auch Heilsgeschichte, ein sicheres, stetes Entgegenschreiten zur Vollendung.
Obwohl Österreich eine unvergleichlich traditionsreiche Klosterlandschaft hat, sind die meisten Gemeinschaften doch Gründungen oder Niederlassungen der letzten 200 Jahre12, mit anderen Gepflogenheiten in der Ordensgeschichtsschreibung. Im 19. Jahrhundert wurde allen Pfarren das Führen von Pfarr- und von Schulchroniken angeordnet. Auch in den Kongregationen sind Ordenschroniken bis heute üblich. Sie dienen der Selbstreflexion und der Erinnerung, der Jahresrückblick formt das kollektive Gedächtnis der Gemeinschaft und eine Sprachregelung für die Kommunikation nach außen. Bereits die Jesuiten haben seit ihrer Gründung die Litterae Annuae für den Austausch zwischen den einzelnen Kollegien und Residenzen und für die Darstellung ihrer Erfolgsgeschichte in der öffentlichen Meinungsbildung gebraucht.
In der wissenschaftlichen Forschung argumentierten Ordenshistoriker, die selbst Ordensleute waren, dass die wesentlichen Dimensionen dem Weltmenschen fremd bleiben und bleiben müssen, nur aus der Innensicht sei ein vollständiges auch historisches Verständnis von Ordensleben möglich13. Geschichtsschreibende Ordensmänner sind heute rar geworden, geschichtsschreibende Ordensfrauen waren es schon immer. Forschungsfragen über Ordensgemeinschaften werden heute meist nicht mehr von den Ordensleuten selbst und oft auch nicht mehr von Historikerinnen und Historikern gestellt.
Klosterstudien und Ordenscharismen
In der groß angelegten deutsch-österreichischen Klosterstudie beschäftigen sich Demographen mit den Ursachen für die Geschlechterunterschiede in der Lebenserwartung – auch Ordensfrauen werden älter als Ordensmänner, und in den Klöstern steht dazu ein statistisch auswertbarer Quellenbestand zur Verfügung14. Theologisch pastorale Interessen verfolgte eine Oral history-Studie über das Change Management in der Schwesterngemeinschaft Caritas socialis und untersuchte die Umstruktierungen in der Gemeinschaft nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil15.
Dass ihre je eigene Geschichte und Tradition ein Alleinstellungsmerkmal für jedes Institut des geweihten Lebens ist, stellte das Konzilsdokument über die zeitgemäße Erneuerung des Ordenslebens dar. Der Verweis in Perfectae caritatis, dass Kleriker und Laien Glieder ihrer Gemeinschaft „in gleicher Weise [sind], mit den gleichen Rechten und Pflichten, abgesehen von denen, die sich aus den heiligen Weihen ergeben“ (PC 15), hat die Frage offen gelassen, worin nunmehr das aussagbare Spezifikum des Ordenslebens besteht und sich Ordensleute, die nicht Priester sind, vom Laienstand unterscheiden. Die Suche nach einem neuen Profil führte zu einem intensiven Quellenstudium der Gründungsdokumente, die Gründungsintention sollte in die Gegenwart übersetzt, das Ordenscharisma neu formuliert werden. Der Orden der allerheiligsten Dreifaltigkeit zum Loskauf der Gefangenen etwa wurde in der Zeit der Kreuzzüge für den Freikauf und Austausch christlicher Gefangener gegründet, heute kümmern sich die österreichischen Trinitarier um Stigmatisierte unserer Zeit, um Gefängnisinsassen, Drogenabhängige und Flüchtlinge.
Die Zeichen der Zeit zu deuten und danach zu handeln, geht, so scheint mir, in vielen Orden heute einher mit einem Zögern, sich mit historischen Zeiten zu beschäftigen, vor allem mit solchen, in denen es nicht gelang, das Ordenscharisma zu leben. In der Sorge, rückwärtsgewandt, ja veraltet zu erscheinen und damit dem gängigen Klischee vom Klosterleben zu entsprechen, ist Geschichtslosigkeit in den Orden bisweilen zum Ideal geworden. Bedauerlicherweise führt das zu einer Musealisierung des Ordenslebens, weil das Fachverständis für Geschichte und kulturelles Erbe der Orden meist nicht mehr im Orden selbst liegt: Die Orden sind vom Subjekt zum Objekt ihrer Kultur und Geschichte geworden.
Abb. 5: Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern Linz 1915 (Bildquelle: Linz, Kongregation der Barmherzige Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul). Abbildung auch in: Verena HAHN-OBERTHALER–Gerhard OBERMÜLLER, Vom Armenhospital zum Ordensklinikum der Zukunft. 175 Jahre Krankenhaus der Barmherzigen Schwestern in Linz (Linz 2016) 38, online unter www.ordensklinikum.at [Zugriff: 1.12.2018].
Da Ordensleben nicht nur in Mittelalter und Früher Neuzeit Auswirkungen auf die Gesellschaft hatte, sondern auch in jüngerer Zeit folgenreiche sozialwirksame Aktivitäten entfaltete, kommen aktuelle Fragestellungen an die Ordensgeschichte heute von jenen Einrichtungen, die ihr Entstehen einer Ordensgemeinschaft verdanken: Ordensspitäler, Ordensschulen und andere vergleichbare Institutionen, die auch nach dem Ausscheiden von Ordensleuten aus dem Dienst, verursacht durch älter und kleiner werdende Kommunitäten, ihre Identität nach wie vor vom Ordenscharisma ableiten und historische Forschungen ermuntern. Weiters hat die Globalgeschichte den Quellenreichtum missionierender Orden entdeckt und betreibt Ordensgeschichte als Missionsgeschichte. Und schließlich hat die sogenannte Wiederkehr des Religiösen zu Forschungsunternehmen geführt, die sich in verschiedenen Fragestellungen mit den gesellschaftlichen Auswirkungen religiöser Praxis beschäftigen.
Geschichtsschreibung ist auf Erkenntnis ausgelegt, die zu einem besseren Verständnis der Gegenwart führt. Sie bringt Sachlichkeit in das so häufig missbrauchte historische Argument eines „Immer-Schon“ oder auch eines „Noch-Nie“. Für die Orden scheint es mir auch ein wichtiges Instrument des Selbst-Verständnisses zu sein. Die Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe beging im heurigen Jahr das Jubiläum ihres 150jährigen Bestehens und lud mich ein, einen geschichtlichen Festvortrag zu halten, obwohl es in der Gemeinschaft durchaus berufenere Ordensfrauen dafür gegeben hätte16. Den Vortrag musste ich in einem ungewohnten Setting im Anschluss an die Festliturgie im Wiener Stephansdom halten, ein nicht ganz einfaches Unterfangen. Zu meiner Erleichterung scheint es den Schwestern gefallen zu haben. Eine von ihnen bedankte sich mit den Worten, dass man sonst bei solchen Gelegenheiten ja stets nur Frommes zu hören bekomme, aber meine Ausführungen nun wirklich interessant gewesen seien.
Der Kontakt zum Ordensleben in unserer Zeit kann auch für die Geschichtsforschenden wertvoll sein und zum Verständnis historischen Lebens nach den evangelischen Räten führen. 600 Jahre Melker Reform sind auch eine Anfrage an die Glaubwürdigkeit einer ecclesia semper reformanda.
Helga Penz studierte Geschichte, Kunstgeschichte, Museumskunde und Archivwissenschaft in Wien. Als Archivarin und Historikerin arbeitete sie in mehreren Ordensarchiven, zuletzt im Stiftsarchiv Herzogenburg. Von 2010 bis 2018 leitete sie das Referat für die Kulturgüter der Orden. Seit 2019 ist sie für das Forschungsprojekt „Geschichte der Barmherzigen Schwestern des Hl. Vinzenz von Paul in Wien-Gumpendorf“ tätig.
Kontakt: helga.penz@yahoo.com
1 Gert MELVILLE–Anne MÜLLER, Vorwort, in: DIES. (Hg.), Mittelalterliche Orden und Klöster im Vergleich. Methodische Ansätze und Perspektiven (Vita regularis. Ordnungen und Deutungen religiosen Lebens im Mittelalter. Abhandlungen 34, Berlin 2007) VIII.
2 www.ordensgemeinschaften.at/presseraum/zahlen [Zugriff: 01.12.2018].
3 www.rewe-group.at [Zugriff: 01.12.2018].
4 Die Suche nach „Orden“ und „Geschichte“ bringt von 376 Treffern 173 zu Ehrenzeichen, zu Ordensgemeinschaften vor allem fremdsprachige Literatur, und auch hier wiederum hauptsächlich zu Mönchs- und Ritterorden.
5 Kloster der Schwestern von Bethlehem, der Aufnahme Mariens in den Himmel und des Heiligen Bruno in St. Veit im Pongau.
6 Statistik erhoben von der Vereinigung der Frauenorden und der Superiorenkonferenz der männlichen Ordensgemeinschaften für das Jahr 2017.
7 Walter BENJAMIN, Über den Begriff der Geschichte, hg. von Gérard RAULET (Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe 19, Berlin 2010) 98.
8 BENJAMIN, Begriff (wie Anm. 7) 103.
9 Vgl. Helga PENZ, Jesuitisieren der alten Orden?
Anmerkungen zum Verhältnis der Gesellschaft Jesu zu den österreichischen Stiften im konfessionellen Zeitalter, in: Anna Ohlidal–Stefan Samerski (Hg.), Jesuitische Frömmigkeitskulturen. Konfessionelle Interaktion in Ostmitteleuropa 1570–1700 (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa 28, Leipzig 2006) 143–161.
10 Simon RETTENBACHER, Annales monasterii Cremifanensis in Austria Superiore (Salzburg 1677) Leservorrede (unpag.). Vgl. Helga Penz, Erinnern als Kulturtechnik: Klosterarchive im Barock, in: Thomas WALLNIG–Thomas STOCKINGER–Ines PEPER–Patrick FISKA (Hg.), Europäische Geschichtskulturen um 1700 zwischen Gelehrsamkeit, Politik und Konfession (Berlin–Boston 2012) 91–106, hier 99.
11 Stiftsarchiv Heiligenkreuz: 7-IV-24, Notitia universalis des Abtes Klemens Schäffer. Vgl. PENZ, Erinnern (wie Anm. 10) 100.
12 Zu den genauen Zahlen siehe die Diagramme in: Helga PENZ, How many Jesuits does it take to change a light bulb? Kooperationsmodelle der Ordensgemeinschaften im Archivwesen. Ein Werkstattbericht, in: Scrinium. Zeitschrift des Verbandes Österreichischer Archivarinnen und Archivare 66 (2012) 34–43, hier 36, online
auf https://www.voea.at/wp-content/uploads/2023/09/Scrinium_66_035-044.pdf [Zugriff: 01.12.2018].
13 Vgl. Giancarlo ROCCA, Art. Storiografia, in: Dizionario degli istituti di perfezione 9 (1997) 325–356.
14 www.klosterstudie.de [Zugriff: 01.12.2018].
15 Carla CVRLJAK–Regina POLAK, Oral history. Ein Projekt zur Erforschung der Geschichte der CS Schwesterngemeinschaft rund um das 2. Vatikanische Konzil und die außerordentliche Generalversammlung 1969, in: CS imPuls 1 (2014) 6f.
16 Helga PENZ, 150 Jahre Kongregation der Töchter der göttlichen Liebe, in: Mitteilungen des Referats für die Kulturgüter der Orden 3 (2018) 70–75, online auf https://www.ordensgemeinschaften.at/kultur/miko/miko3/beitraege/article/145.html [Zugriff: 01.12.2018].