Einfach leben
Vortrag gehalten beim Kulturtag im Rahmen der Herbsttagung der Orden am 27. November 2019 in Wien.
Auf den ersten Blick scheint es, als ob Franziskus von Assisi ein Faible für den Archivarsberuf hatte. Schreibt doch sein Biograph Thomas von Celano: Wenn er [Franziskus] irgendwo, sei es auf der Straße oder in einem Hause oder auf dem Boden etwas Geschriebenes fand, egal ob Gottes- oder Menschenwort, so hob er es mit der größten Ehrfurcht auf und legte es an einem heiligen oder wenigstens sauberen Ort nieder; er tat dies aus Sorge, es könnte der Name des Herrn oder ein anderes auf ihn sich beziehendes Wort darauf geschrieben sein (1 Celano 83).1 Das Aufsammeln von Schriftgut und die Aufbewahrung an einem heiligen oder sauberen Ort ist aus der Sicht eines Archivars ein guter Anfang. Doch Franziskus von Assisi geht es nicht um das Sammeln und Archivieren von Schriftgut, sondern er sorgt sich allein um den Umgang mit dem Namen des Herrn. Nicht frühe Archivwissenschaft ist hier gemeint, sondern die Frage nach der Spiritualität.
Ausgehend von der den franziskanischen Orden eigenen Spiritualität möchte ich einen Blick auf den Umgang des Ordens mit seinem kulturellen Erbe werfen. Als Beispiel dient mir die Deutsche Franziskanerprovinz von der heiligen Elisabeth (Germania) mit Sitz in München. Abschließend möchte ich eine neue Sicht auf den zukünftigen Umgang mit dem kulturellen Erbe wagen, der die franziskanischen Orden ermuntern soll, sich intensiver damit zu beschäftigen und es nicht nur als eine lästige Pflicht zu sehen.
Ordensregel und Franziskanische Spiritualität
Für den Franziskanerorden gilt die am 29. November 1223 von Papst Honorius III. (1216–1227) durch die Bulle Solet annuere bestätigte sogenannte Bullierte Regel (BR). Sie besteht in ihren wesentlichen Teilen aus Elementen der heiligen Schrift. Die Editoren der Regel schreiben dazu: „Die endgültige franziskanische Ordensregel ist nicht nur ein Gesetzeswerk, sondern auch ein geistliches Dokument; seit acht Jahrhunderten gültige Richtschnur für jene, die als Brüder des hl. Franziskus in seinem Sinn und nach seiner Art ,das heilige Evangelium unseres Herr Jesus Christus beobachten wollen, wie sie es in der Profess fest versprechenʻ (BR 12,4)“.2 Die Ordensregel beginnt mit dem Satz: Regel und Leben der Minderen Brüder ist dieses, nämlich unseres Herrn Jesus Christus heiliges Evangelium zu beobachten durch ein Leben in Gehorsam, ohne Eigentum und in Keuschheit (BR 1,1). Im sechsten Kapitel heißt es: Die Brüder sollen sich nichts aneignen, weder Haus noch Ort noch sonst eine Sache (BR 6,1). In den Ohren eines Archivars klingt dies gar nicht gut, braucht doch ein Archiv einen Ort und Beständigkeit und nicht in erster Linie Bewegung. Der Franziskanerorden unterscheidet sich von den alten Orden dadurch, dass er Personenverbände bildet, die innerhalb von Territorien organisiert sind. Es besteht keine Bindung an ein festes Haus. Der Orden ist weltweit verbreitet und in Provinzen aufgeteilt. Alle Leitungsämter im Orden (Generalat, Provinzen, Häuser) sind auf allen Ebenen zeitlich befristet. Hinzu kommt der regelmäßige Ortswechsel der Brüder durch Versetzungen, so dass bewusst wenige Bindungen aufgebaut werden können. All das lässt erahnen, dass es das Zentralarchiv des Franziskanerordens, das bis in seine Gründungszeit zurückreicht, nicht gibt bzw. gar nicht geben kann. Zumal der Orden eine bewegte Geschichte hat, die immer wieder um die Frage der Armut, die zugleich eine Frage nach dem einfachen Leben ist, kreist.
Die konkret gelebte Spiritualität der Franziskanerbrüder lässt sich mit „Einfach leben“ hervorragend zusammenfassen. Einfach leben in einer Beziehung zu Gott, in der Geschwisterlichkeit zu den Menschen und in Ehrfurcht vor der Natur und allen Geschöpfen bzw. zur Bewahrung der Schöpfung. Die tatsächlich gelebte „gemeinschaftstypische Spiritualität“3 bedeutet in der Nachfolge des Franz von Assisi den Verzicht auf Besitz und Eigentum, Solidarität mit den Armen, eine Weltzugewandtheit, um das Reich Gottes zu verkünden und eine allumfassende Geschwisterlichkeit ohne Herrschaft (auszuspielen).4 Alles ist aus dem Evangelium ableitbar. „Einfachheit als Glaubensvollzug leitet sich her aus Anspruchslosigkeit und bescheidenem zurückhaltendem Auftreten“.5 „Doch was konkret als Einfachheit angesehen wird, hängt weithin auch im religiösen Bereich von Mentalität und soziokultureller Situation ab. So ist Einfachheit immer relativ und läßt sich weltweit kaum an objektiven Maßstäben festmachen. Sie ist nicht identisch mit Armut und auch nicht als Mangelerfahrung etwas grundsätzlich zu Überwindendes; eher meint sie Anspruchslosigkeit“,6 so der Kapuziner Stephan Wisse (1929–2012). Einfachheit bzw. Anspruchslosigkeit deutet hin auf einen alternativen Lebensstil. In der Regel und in der Spiritualität des Franziskanerordens hält man also vergeblich Ausschau nach Archiven, Bibliotheken, Sammlungen und Museen.
Hier hilft ein Blick in die zurzeit gültigen Generalkonstitutionen7 und Generalstatuten8 des Minderbrüderordens. In den Generalkonstitutionen – also der aktuellen Regelerklärung – kommt das Archiv schlichtweg nicht vor. Dies verwundert nicht, wenn man die Ordensregel kennt. Fündig werden wir erst in den Generalstatuten (GS) Artikel 26 § 1 und 2: „Nach den Partikularstatuten sind in jedem Haus und jeder Provinz Brüder zu bestimmen, die die Chronik führen, das Archiv betreuen und andere für das Leben der Bruderschaft notwendige Aufgaben wahrnehmen“ (§ 1). „Mit großer Sorgfalt sollen Bibliotheken, besonders die bedeutenderen und wertvolleren, erhalten, gesichert und nach den Erfordernissen unserer Zeit betreut werden. Dasselbe gilt von den Archiven, Museen und Kunstwerken“ (§ 2). Des Weiteren werden die Archive in Zusammenhang mit den Aufgaben des Provinzsekretärs genannt. „Neben anderen ihm übertragenen Arbeiten ist es Aufgabe des Sekretärs, über die vom Definitorium oder Provinzialminister allein erledigten Vorgänge Protokoll zu führen, alle Dokumente und Akten der Provinz, der einzelnen Häuser und Brüder zu sichten und ordnungsgemäß im Archiv zu hinterlegen“ (GS Art. 186). Ebenso ist es seine Aufgabe, die von allen Teilnehmenden unterzeichneten Akten des Definitorialkongresses im Provinzarchiv aufzubewahren (GS Art. 175). Der Provinzsekretär muss nicht gleichzeitig Archivar sein, aber er ist derjenige der dauernd aufzubewahrendes Material für das Archiv liefert.
Das Provinzarchiv wird in den Generalstatuten noch mit einer praktischen Funktion benannt. Dort sollen die notwendigen Erklärungen der Novizen beim Ordenseintritt aufbewahrt werden (frei von Krankheiten, freiwilliger Ordenseintritt, Verzicht auf finanzielle Forderungen an den Orden bei Austritt) (GS Art. 81 § 2). Das Archiv hat hier eine rechtssichernde Funktion.
Ein Generalarchiv wird nicht eigens benannt, jedoch indirekt bei der Vergabe der Ämter an der Generalkurie, wo „das Protokoll und das Generalarchiv“ (GS Art. 134 § 1) genannt werden. Mit „Protokoll“ ist das sogenannte Protokollbüro gemeint, d. h. die Kanzlei mit der Registratur.
Archiv und Sammlungen begegnen dann noch einmal in Zusammenhang mit Ermahnung und Bestrafung der Brüder: „Ein Minister, Guardian oder Bruder, der sich schwerer Nachlässigkeit bei der Aufbewahrung und Sicherung von künstlerischen oder historischen Wertsachen schuldig macht, diese unrechtmäßig sich aneignet, veräußert oder zerstört, soll der Schwere der Schuld entsprechend bestraft werden“ (GS Art. 227 § 2). Dazu wird auf can. 638,3 CIC verwiesen, wo es um die Vermögensverwaltung der Religiösen Institute bzw. Orden geht. Veränderungen der Vermögenslage bedingen die Zustimmung der Oberen und ggf. die des Hl. Stuhles (Romgrenze). Und weiter: „Ein Bruder, der Dokumente des Archivs versteckt, verschwinden läßt oder vernichtet, soll nach der Schwere des Vergehens bestraft werden“ (GS Art. 227 § 3). Archive bei den Franziskanern sind also gemäß den Generalstatuten in der Generalkurie, in den Provinzen und in den einzelnen Häusern zu erwarten, weil dort Unterlagen abgelegt werden sollen. Im Gegensatz zu einer Diözese ist eine Ordensgemeinschaft nicht verpflichtet, ein historisches Archiv einzurichten (Can. 491, 2 CIC: Der Diözesanbischof hat auch dafür zu sorgen, dass in seiner Diözese ein historisches Archiv eingerichtet wird und dass Dokumente, die historische Bedeutung haben, in ihm sorgfältig aufbewahrt und systematisch geordnet werden.). Franziskaner haben Archive. Doch diese stehen nicht unbedingt im Mittelpunkt zentraler Überlegungen.
Warum brauchen Franziskaner Archive und wie gehen sie mit ihnen um?
Franziskanische Quellen wurden in großem Stil erst von dem evangelischen Franziskusforscher Paul Sabatier (1858–1928) in verschiedenen Bibliotheken und Archiven im ausgehenden 19. Jahrhundert systematisch gesucht. Er tat dies für seine in viele Sprachen übersetzte und bis heute aufgelegte Franziskusbiographie „Vie de S. François d’Assise“, die erstmals 1894 erschien.9 Es geht gestern wie heute um die von Paul Sabatier aufgeworfene franziskanische Frage, die es mit Hilfe der Quellen zu beantworten gilt: „Was wollte Franz von Assisi wirklich? Wie brach er mit seiner Familie, mit der Gesellschaft? Floh er aus der Welt? Wie stand er zur Kirche und zum Papst? Welches Programm entwarf er, als sich ihm Gefährten anschlossen? Wie verhielt er sich zu ihnen und welchen Einfluss übten sie auf ihn aus? Stand er am Ende seines Lebens vor etwas ganz anderem, als er in der Mitte seiner Jahre gewollt hatte? Ist er gar gescheitert?“10 Die eigenen Schriften von Franziskus beantworten diese Fragen kaum. Dazu wären andere Quellen notwendig.
Die gestellten Fragen lassen sich auf das Leben der Franziskaner in den letzten 800 Jahren transponieren. Welche Quellen geben Auskunft über das Leben der Brüder? Gelang ein Leben nach Regel? Welche Schwierigkeiten gab es mit der amtlich verfassten Kirche? Wie integrierten sich Franziskaner in verschiedene staatliche Systeme? Wie sieht einfach leben aus? Für viele Fragen wären zunächst die Archive der Brüder selbst zu konsultieren, so sie denn vorhanden sind.
Die Brüder waren nicht gänzlich geschichtslos, erwähnt doch Ubertin von Casale (1259–1325) einen im Sacro Convento in Assisi verwahrten Archivschrank, in dem eine Art schriftlicher Nachlass von Bruder Leo, einem der ersten Gefährten des Franziskus, verwahrt wurde. Er nennt das Buch (liber), Zettel (cedulae), Schriftrollen (rotuli).11 Im Sacro Convento – der auch ein Skriptorium und eine Bibliothek enthielt – werden bis heute Schriften des Franziskus verwahrt. Dies sind zwar formal Archivalien, haben aber – wie der genannte Segen – den Charakter von Reliquien.
Immer wieder gab es an der Ordenshistorie interessierte Brüder. Hervorgehoben sei hier der irische Franziskaner Lukas Wadding (1588–1657), der zu Beginn des 17. Jahrhunderts biographisches Material zu Franziskus sammelte und dies in der Reihe Acta Sanctorum der Bollandisten herausgab.12 Das Lukas Wadding Archiv befindet sich heute in der Bibliothek des Klosters San Isidoro in Rom und wird nach und nach verzeichnet. Die Franziskaner bedienten ab 1885 auch die Sammlung Analecta Franciscana13 in ihrem Forschungsinstitut in Quaracchi bei Florenz, welches sich heute in Rom befindet.
Auf der Ebene der Generalate von Franziskanern (OFM), Minoriten (OFMConv), Kapuzinern (OFMCap) und der Brüder des dritten regulierten Ordens (TOR), die sich heute sämtlich in Rom befinden, gibt es jeweils ein Archiv. Das Archiv des Generalates der Konventualen in Rom (Piazza SS. XII Apostoli), das Generalarchiv der Kapuziner mit dem Museo Francescana (Circonvallazione Occidentale 6850), und das Archivio storico Generale dell’ Ordine dei Frati Minori (Via S. Maria Mediatrice 25), des TOR in der Casa Generalizia Del Terzo Ordine Regolare Di S. Francesco im Forum Romanum (Via in Miranda 15). In Deutschland gibt es je ein Provinzarchiv der Franziskaner, der Minoriten und der Kapuziner. Ich möchte näher auf die Entstehung des heutigen Provinzarchivs der Deutschen Franziskanerprovinz von der Heiligen Elisabeth eingehen, um den Umgang mit Archiven in einem Fusionsprozess von Provinzen deutlich zu machen. Die Deutsche Provinz besteht seit 2010 und ist ein Zusammenschluss aus vormals vier selbständigen deutschen Franziskanerprovinzen. Ein Kooperationsrat mit Vertretern aus den vier zur Fusion anstehenden Provinzen hat den Zusammenschluss von 2004 bis 2010 vorbereitet.14 Bei den Planungen und Überlegungen des Kooperationsrates spielte zunächst die Zusammenführung der Bibliotheken eine Rolle, die der Archive wurde 2005 eher beiläufig erwähnt. Eine Arbeitsgruppe der Franziskaner entwickelte für Bibliotheken und Archive Konzepte. 2007 hieß es zu den Archiven: „Die Archive der Provinzen werden in ein gemeinsames Konzept eingebunden und, falls sinnvoll und notwendig, zusammengelegt oder verlegt“.15 Es gab vier Archivstandorte: Kölnische Franziskanerprovinz in Mönchengladbach, Sächsische Franziskanerprovinz in Werl/Paderborn, Thüringische Franziskanerprovinz in Fulda und Bayerische Franziskanerprovinz in München (ausgelagert in feuchten Kellerräumen bei den Blauen Schwestern in München). Im Herbst 2007 wurde vom Leiter des Kooperationsrates eine neue Kommission „Kulturelles Erbe“ eingesetzt. Sie war eine von fünfzehn Kommissionen.16 Sie hatte den Auftrag:
1. „Vorschläge zu machen für die Zukunft der Bibliotheken und Archive in einer gemeinsamen Provinz“,
2. „Vorschläge zu machen für sach- und fachgerechtes Vorgehen bei Klosteraufhebungen. Felder: Bilder, Statuen, Kunstgegenstände, Archivalien, liturgische Geräte, Bibliotheken“,
3. „Inventarverzeichnisse anzulegen von Klöstern; Fotodokumentationen zu erstellen von Häusern, die aufgegeben werden“,
4. „Vorschläge zu machen für den Umgang mit Grabstellen, an Orten, an denen Standorte aufgegeben wurden oder werden“.17
Interessant war, dass in der Kommission nur ein amtierender Provinzarchivar in die Planungen mit einbezogen wurde: „Offenbar wollten die Oberen den amtierenden Provinzarchivaren die Planung der Zukunft des kulturellen Erbes doch nicht anvertrauen“.18 Die vom Kooperationsrate der deutschen Franziskanerprovinzen 2007 eingesetzte Kommission hieß 4-D-Kommission „Kulturelles Erbe“. Diese Kommission erwog den Gedanken, langfristig in Fulda ein Zentralarchiv unter hauptamtlicher Leitung (Mitbruder oder Laie) einzurichten oder in Zusammenarbeit mit den Kapuzinern und/oder den Minoriten ein franziskanisches Archiv für alle deutschen Franziskanerprovinzen zu schaffen. Der Gedanke eines Gesamtarchivs wurde aber – die Gründe werden im Einzelnen nicht genannt – im Herbst 2008 wieder verworfen.19 Die Kommission hatte im Januar 2009 die Gelegenheit ihre Gesamtkonzeption dem Kooperationsrat vorzustellen. Der Kommissionsvorsitzende Br. Damian Bieger schreibt dazu: „Es schien vor allem bedeutsam, den Oberen zu vermitteln, dass es bei der Einrichtung des Archivs nicht um die Vorbereitung wissenschaftlicher Arbeit gehen sollte, sondern um das Sichern des Wissens der Altprovinzen angesichts des demografisch bedingten Abtretens einer zahlenmäßig großen Generation von Brüdern und dem damit verbundenen Verlust von Institutionenwissen“.20 Dies wurde den Provinzleitungen in vier Punkten näher erläutert:
1. Die Pflege der eigenen Wurzeln bzw. der eigenen Geschichte und der eigenen Überlieferung ermöglicht einen unverkrampften Blick in die Zukunft.
2. Niemand wird den deutschen Franziskanern die Aufgabe abnehmen, ihre eigene Überlieferung zu pflegen und lebendig zu halten. Die Orden, die immer wieder ihre Eigenständigkeit gegenüber staatlichen und kirchlichen Stellen betonen, sollen auch eigenständig ihr kulturelles Erbe bewahren und nicht staatliche, kommunale oder diözesane Stellen um Hilfe anrufen.
3. Zur Bewältigung aller anstehenden Aufgaben muss der Archiv- und Bibliotheksbetrieb auf eine reine „Memoria-Funktion“ begrenzt werden. Es kostet Geld. Auch staatliche und diözesane Stellen wären nicht zum Nulltarif zu haben.
4. Beim Archiv handelt es sich nicht um das Privatinteresse einiger wissenschaftlich interessierte Brüder, „sondern um das Ganze“.21
Am 1. Juli 2010 wurden die vier deutschen Franziskanerprovinzen zusammengeschlossen, ohne dass eine wirkliche Entscheidung über die Archive gefallen war. Nach längeren Beratungen, Sondierungen und Einholung von Kostenvoranschlägen entschied sich die Provinzleitung nunmehr für den Standort Paderborn. Dort wurde ein Untergeschoss im Nebentrakt des Klosters zu einem professionellen Archiv umgebaut. Es war ein Glücksfall für die Provinz, dass ein Franziskanerbruder, der langjährig an verantwortlicher Stelle im Protokollbüro der Generalkurie tätig war und großes Interesse an der Ordensgeschichte hat, die Leitung des Archivs übernehmen konnte. Ende 2013 war das Archiv in Paderborn nach achtjähriger Planungszeit eingerichtet. Die vier Archive der ehemals selbständigen Provinzen waren an einem Ort vereint.22 Das Archiv ist in einem abgeschlossen Nebentrakt des Klosters untergebracht. Es sollte mit der Einrichtung des Archivs keine vorzeitige Option für oder gegen den Verbleib der Franziskaner in Paderborn getroffen werden.23 Eine großartige, mutige und vorbildliche Lösung der Deutschen Franziskanerprovinz!
Im Entstehungsprozess des neuen Provinzarchivs wurde allerdings deutlich, dass Archive nicht im Mittelpunkt aktuellen franziskanischen Lebens stehen und Archive im Grunde Ballast sind. Diese Sicht lässt sich auch auf Bibliotheken und Museen übertragen. Am Marienwallfahrtsort Werl in Westfalen waren die Franziskaner bis zum 1. September 2019. Die Wallfahrt wurde an das Erzbistum Paderborn übergeben, das Kloster wird zum Wallfahrtszentrum umgebaut. In Werl steht auch das „Forum der Völker. Völkerkundemuseum der Franziskaner“. Es ist das größte Völkerkundemuseum Westfalens. Das Museum entstand 1909 in Dorsten, wo Franziskanermissionare eine Sammlung zusammentrugen. Diese wurde 1962 in ein eigenes Museum nach Werl umgezogen, welches 1987 einen Neubau erhielt. Das Museum wurde nicht aufgelöst, sondern verbleibt am Standort. Ein Zusammenschluss aus regionalen und überregionalen Partnern soll den Erhalt sichern und es soll eine neue Stiftung gegründet werden.24 Zurzeit ist das Museum für eine auf ein Jahr geplante Übergangsphase geschlossen. Das Museum wechselt den Besitzer und die Franziskanerprovinz kann aufatmen, weil eine Institution es in ihrem Sinne weiterführen wird. Das konkrete Ergebnis bleibt abzuwarten.
Der Ordensgründer Franziskus hat immer vor Besitz gewarnt, denn Besitz verhindert die in der Ordensregel geforderte Flexibilität. Besitz lässt sich für den Orden aber nicht vermeiden. Daher spielt der Umgang mit Besitz eine große Rolle. Ich möchte einen anderen Blick auf den Archivbesitz bzw. auf den Besitz von kulturellem Erbe werfen.
Kulturelles Erbe und Bewahrung der Schöpfung
Der Kooperationsrat der deutschen Franziskanerprovinzen setzte 2007 die 4-D-Kommission „Kulturelles Erbe“ ein. Bewusst oder unbewusst wurden Archive, Bibliotheken und Sammlungen in diesen Kontext gesetzt. Kulturelles Erbe bezeichnet die Gesamtheit der menschlichen Kulturgüter. Archivalien – auch digitale Dokumente – sind Teil des Weltdokumentenerbes (UNESCO Programm Memory of the World). Bestände von Archiven, Bibliotheken und Museen sind materielle Kulturgüter.
Die am 27. Oktober 2005 vom Europarat verabschiedete „Rahmenkonvention über den Wert des Kulturerbes für die Gesellschaft“ (Faro-Konvention),25 der Deutschland noch nicht beigetreten ist (ein Problem ist u. a. die Bürgerbeteiligung beim Denkmalschutz), versteht die Teilhabe am kulturellen Erbe als Bürgerrecht. Die Konvention geht von einem breiten Kulturerbebegriff aus, der materielle, immaterielle, mobile, immobile und digitale Erscheinungsformen umfasst. Die Faro-Konvention besagt, dass „jeder Mensch, allein oder als Teil der Gemeinschaft, das Recht hat, am Kulturerbe teilzuhaben“ (Art. 4 a). Es bleibt allerdings unklar, weil es kein einklagbares Recht ist. Die Konvention ist eine Rahmenkonvention und formuliert daher nur ein allgemeines Schutz- und Förderkonzept.26 Die „zentrale inhaltliche Aussage [der Faro-Konvention] besteht in der Verknüpfung des Rechts auf kulturelle Teilhabe mit dem Recht auf ein kulturelles Erbe (Art. 1 lit. A) und der Betonung von dessen Bedeutung für die Gesamtgesellschaft (Art. 1 lit. D). Sie wählt damit eine insgesamt neue Konzeption“.27 Die Faro-Konvention leistet „einen Beitrag zur völkerrechtlichen Verankerung des kulturellen Erbes als Menschenrecht. Dies geschieht gerade durch die ausdrückliche konzeptionelle Verknüpfung von gruppennützigem Kollektivgut und individuellem Teilhaberecht, die sich in den traditionellen Übereinkommen zum Kulturgutschutz nicht findet“.28 Das Recht auf Teilhabe am kulturellen Erbe wird dadurch zum Menschenrecht. Ebenso geht das Recht auf kulturelles Erbe auch einher mit einem Teilhaberecht an kultureller Bildung, die zur demokratischen Teilhabe zählt. Die Faro-Konvention sieht erstmals die Teilhabe am kulturellen Erbe als individuelles Menschenrecht an. Daraus ergeben sich Fragen nach dem Eigentumsrecht am kulturellen Erbe.29 Die Objekte selbst (Sachobjekte, Gebäude etc.) können als solche keinen Menschenrechtsschutz genießen, wohl aber der Zugang zu diesen, also „Teilhabe an kultureller Bildung“.30 Was bedeutet, dass ein kulturelles Erbe existent sein muss, damit eine Teilhabe daran möglich ist. „Das Recht auf ein kulturelles Erbe und auf kulturelle Teilhabe hat insofern eine Dachfunktion bzw. kann im Wege der Auslegung in diese Menschenrechte integriert werden. Hierüber lässt sich etwa die Nutzung von Museums-, Bibliotheks- oder Archivsammlungen erfassen, weil die Wahrnehmung der genannten Menschenrechte die Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe bedingt. Auf diese Weise kann das Menschenrecht auf ein kulturelles Erbe in bestehende justizförmige Kontrollmechanismen eingeführt werden“.31 Festzuhalten bleibt die Erkenntnis der Faro-Konvention, dass die Teilhabe am kulturellen Erbe ein Menschenrecht ist. Und Gerechtigkeit und Frieden – darunter fällt auch der Schutz der Menschenrechte – sind zentrale Anliegen der Franziskaner.32
In der Einleitung zu seiner Enzyklika Laudato Si’ (LS)33 schreibt Papst Franziskus über Franziskus von Assisi, dessen Namen er sich ausgewählt hat: „Er war ein Mystiker und ein Pilger, der in Einfachheit und in einer wunderbaren Harmonie mit Gott, mit den anderen, mit der Natur und mit sich selbst lebte. An ihm wird man gewahr, bis zu welchem Punkt die Sorge um die Natur, die Gerechtigkeit gegenüber den Armen, das Engagement für die Gesellschaft und der innere Friede untrennbar miteinander verbunden sind“ (LS 10). Die Umweltenzyklika enthält im vierten Kapitel, welches mit „Eine ganzheitliche Ökologie“ überschrieben ist, einen wichtigen Teil zur „Kulturökologie“. Darin heißt es: „Neben dem natürlichen Erbe gibt es ein historisches, künstlerisches und kulturelles Erbe, das gleichfalls bedroht ist. Es ist ein Teil der gemeinsamen Identität eines Ortes und Grundlage für den Aufbau einer bewohnbaren Stadt. Es geht nicht darum, etwas zu zerstören und neue, angeblich umweltfreundlichere Städte zu bauen, in denen zu wohnen nicht immer wünschenswert ist. Die Geschichte, die Kultur und die Architektur eines Ortes müssen eingegliedert werden, so dass seine ursprüngliche Identität bewahrt bleibt. Deshalb setzt die Ökologie auch die Pflege der kulturellen Reichtümer der Menschheit im weitesten Sinn voraus. ... Wenn die Beziehung des Menschen zur Umwelt bedacht wird, darf die Kultur nicht ausgeschlossen werden, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Denkmäler der Vergangenheit, sondern ganz besonders in ihrem lebendigen, dynamischen und partizipativen Sinn.“ (LS 143). Im selben Kapitel heißt es: „Das Verschwinden einer Kultur kann genauso schwerwiegend sein wie das Verschwinden einer Tier- oder Pflanzenart, oder sogar noch gravierender“ (LS 146). D. h. „der Verlust kultureller Werte“ (LS 184) kann die Lebensqualität eines Ortes schädigen. Gemäß der Enzyklika Laudato Si’ ist das kulturelle Erbe als Teil der Schöpfung anzusehen. Die Franziskaner gehören zu denen, die Verantwortung für die Schöpfung übernehmen.
Wenn man die Inhalte der Faro-Konvention mit den Anliegen der Franziskaner in den Bereichen Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in Verbindung bringt, bedeutet dies, dass die Franziskaner für die Einhaltung der Menschenrechte eintreten. Wenn die Teilhabe am kulturellen Erbe ein Menschenrecht ist, müssen die Franziskaner ihr kulturelles Erbe zur Verfügung stellen. Und wenn das kulturelle Erbe Teil der Schöpfung ist, haben die Franziskaner auch dafür Verantwortung zu tragen und müssen ihr kulturelles Erbe bewahren. Der Umgang mit ihrem eigenen kulturellen Erbe, so mit Archiven, Bibliotheken, Museen, Sammlungen und Gebäuden ist damit nicht ins Belieben gestellt. Die Franziskaner haben eine Verantwortung dafür und können sich dieser nicht mit dem Hinweis auf ihre Spiritualität und auf „einfach leben“ entziehen.
Dieser Blickwinkel würde es den Franziskanern erlauben, sich ihrem kulturellen Erbe gegenüber anders zu verhalten. Das kulturelle Erbe ist Teil der Schöpfung und kein unnötiger Ballast. Bei der Fusion von Provinzen oder der Auflösung von Klöstern würde den Kulturgütern ein höherer Stellenwert beigemessen und sie stünden nicht mehr konträr zur Spiritualität des Ordens. Diese Sicht könnten sich alle franziskanischen Orden zu Eigen machen, was sicherlich nicht nur für die Archive von Vorteil wäre. „Einfach leben“ und Archive wären durchaus vereinbar. Und vielleicht kann man Franziskus, der, wie eingangs erwähnt, alle Schriftschnipsel sammelte, doch als einen ersten Bewahrer des kulturellen Erbes im Orden ansehen. „ ... so hob er es [das Geschriebene] mit der größten Ehrfurcht auf und legte es an einem heiligen oder wenigstens sauberen Ort nieder“. Und wenn dies so ist, ergibt sich daraus eine neue Frage: Sind Archive „heilige Orte“?
Gisela Fleckenstein OFS studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik in Düsseldorf, Innsbruck, Brixen und Bonn. Sie promovierte 1991 und absolvierte die Ausbildung zur Archivarin. Seit 2019 ist sie stellv. Leiterin des Landesarchivs Speyer. Veröffentlichungen zur Kirchen- und Ordensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Leiterin des Arbeitskreises Ordensgeschichte 19./20. Jahrhundert.
Kontakt: g.fleckenstein@web.de
1 Dieter BERG–Leonhard LEHMANN, Franziskus-Quellen. Die Schriften des Heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden (Kevelaer 22014) 248.
2 BERG–LEHMANN, Franziskus-Quellen (wie Anm. 1) 94.
3 Peter LIPPERT, Art. Ordensspiritualität/Ordensleben, in: Christian SCHÜTZ, Praktisches Lexikon der Spiritualität (Freiburg 1988) 951–958, hier 952.
4 Anton ROTZETTER, Art. Franz von Assisi, in: SCHÜTZ, Spiritualität (wie Anm. 3) 391–394, hier 393.
5 Stephan WISSE, Art. Einfachheit, in: SCHÜTZ, Spiritualität (wie Anm. 3) 270–272, hier 270.
6 Ebd. 271.
7 Regel und Konstitutionen des Minderbrüderordens. Rom 1987. Übersetzt im Auftrag der Mitteleuropäischen Provinzialenkonferenz (Werl/Westfalen 1988).
8 Generalstatuten des Minderbrüderordens. Rom 1991. Übersetzt im Auftrag der Mitteleuropäischen Provinzialenkonferenz (Werl/Westfalen 1991).
9 BERG–LEHMANN, Franziskus-Quellen (wie Anm. 1) 165.
10 Ebd. 166.
11 Ebd. 1084f.
12 Ebd. 167.
13 Ebd. 168.
14 Zum Gesamtprozess Thomas M. SCHIMMEL, Auf dem Weg zur Vereinigung. Die Arbeit des Kooperationsrates der vier deutschen Franziskanerprovinzen in den Jahren 2004 bis 2010 (Franziskanische Forschungen 53, Münster 2014).
15 Damian BIEGER, Planung und Einrichtung des Archivs der Deutschen Franziskanerprovinz von der hl. Elisabeth, in: Germania Franciscana 4 (2014) 75-80, hier 76.
16 SCHIMMEL, Vereinigung (wie Anm. 14) 119.
17 BIEGER, Planung (wie Anm. 15) 76.
18 Ebd. 76.
19 Ebd. 77.
20 Ebd. 77.
21 Ebd. 77–78.
22 Ebd. 78–80.
23 Ebd. 79.
24 DEUTSCHE FRANZISKANERPROVINZ, Pressemitteilung vom 11.03.2019: Zukunft wird gesichert – „Forum der Völker“ in Werl stellt sich neu auf. „Forum der Völker“ mit neuem Museumskonzept, online unter https://franziskaner.net/zukunft-wird-gesichert-forum-der-voelker-in-werl-stellt-sich-neu-auf/ [Zugriff: 25.11.2019].
25 COUNCIL OF EUROPE, Framework Convention on the Value of Cultural Heritage for Society. Council for Europe Treaty Series – No. 199 (2005), online unter https://rm.coe.int/1680083746 [Zugriff: 25.11.2019]. Die Konvention gibt es auf Englisch und Französisch. Es gibt noch keine autorisierte deutsche Übersetzung.
26 Claas Friedrich GERMELMANN, Kulturelles Erbe als Menschenrecht? Der Beitrag der Rahmenkonvention des Europarats über den Wert des kulturellen Erbes für die Gesellschaft, in: Die Öffentliche Verwaltung 68 (2015) 853–864, hier 845f.
27 Ebd. 859.
28 Ebd. 861.
29 Thomas MEIER, Universität Heidelberg Studium Generale: „Kulturelles Erbe“. Podiumsdiskussion zum Thema: „Kulturerbe als Menschenrecht? Was folgt aus der Rahmenkonvention von Faro?“ am 19. November 2018, online unter https://youtu.be/YgA8uogytUs [Zugriff: 25.11.2019].
30 GERMELMANN, Menschenrecht (wie Anm. 26) 862.
31 Ebd. 862.
32 KOORDINATION „GERECHTIGKEIT UND FRIEDEN“ DER MITTELEUROPÄISCHEN FRANZISKANERPROVINZEN (Hg.), Werkzeuge des Friedens und der Gerechtigkeit. Ein Handbuch für die Arbeit für Gerechtigkeit und Frieden (Bonn 1999) 107–117.
33 PAPST FRANZISKUS, Enzyklika Laudato Si’ von Papst Franziskus über die Sorge für das gemeinsame Haus vom 24. Mai 2015 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 202, Bonn 42018).