Bildung aus der Lade Gips · Lack · Schwefel
Überarbeitete Fassung vom März 2022
Zum Begriff Daktyliothek
Manchmal kommt man mit Worten in Berührung, deren Bedeutung man nicht kennt. Unvorbereitet fängt man mit dem Ausdruck nichts an, und er bleibt völlig unverständlich. In Meyers Conversations-Lexicon aus dem Jahr 1846 steht beim Begriff „Dactyliothec“ als Definition: „Ringbehältnis“, „Sammlung von Siegelringen“ und „Sammlung von Gemmen, Kameen, geschnittenen Steinen“.1
Abb. 1: Heiligenkreuzer Daktyliothek, Buchform (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Darin finden sich auch Informationen über die Konservierung antiker Gemmen, die sich in Kirchenschätzen befinden und zusätzlich eine Liste der wichtigsten Sammlungen.2 Schließlich kann der interessierte Leser eine weitere Definition des Begriffs kennenlernen. Es handelt sich um eine „Sammlung von Abbildungen von Gemmen durch Abguss oder Pasten, von denen die lippertsche3 in Dresden die berühmteste ist.“4 Das Fremdwort, vielmehr das Kunstwort Daktyliothek bezeichnet also Sammlungen von Ringen.5 Später werden dann auch Abdrucke geschnittener Steine, die in Kästchen angeordnet sind, als Daktyliothek bezeichnet.6 Die Gemmen wurden mittels einer eigens dafür entwickelten Paste kopiert, deren Optik durch das gewählte Material möglichst dem Original gleichen sollte.7 Weniger aufwändige Abgüsse wurden in Gips, Siegellack oder Schwefelmasse ausgeführt.8 Die Gipse galten als hochgeschätztes wie allgemeingültiges Bildungsmittel und waren von Beginn an in allen formalen und inhaltlichen Belangen repräsentativ aufgestellt. Auf diese Weise konnte Philipp Daniel Lippert9 sowohl mit antiken Glaspasten und Fälschungen als auch mit zeitgenössischen Kopien in Glas oder Lack arbeiten. Wegen ihrer Haltbarkeit im Vergleich mit Schwefel waren die lippertschen Abdrücke bald bekannt. Zudem waren sie preiswerter als die Schwefelabdrücke, die in Rom hergestellt wurden.
Abb. 2: Heiligenkreuzer Daktyliothek, Siegellack (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Im aufkommenden Schulbetrieb des 18. Jahrhunderts war diese Art von Sammlungen sehr beliebt. Nicht nur in privaten adeligen Unterrichtseinheiten, sondern auch in diversen Gymnasien und anderen Ausbildungsstätten wurden sie gerne verwendet.10 Sie ermöglichten dem Sammler des 18. und 19. Jahrhunderts, die Antike in Abdrücken betrachten zu können. Ohne die verschiedenen Regionen bereisen zu müssen, bot und bietet eine Daktyliothek Ansichtsmaterial verschiedenster Objekte, deren Originale sich europaweit finden.11 Der Erzeuger einer Daktyliothek konnte geschnittene Exponate in unterschiedlichen Materialien präsentieren.12 Dem Kunstinteressierten hatten sich in den vergangenen Jahrhunderten fast unüberwindliche Hindernisse in den Weg gestellt. Nicht nur geografische Distanzen, sondern auch der Umstand, dass die meisten kostbaren Gemmen in Privatbesitz waren, hatten deren Zugänglichkeit erschwert.
Abb. 3: Heiligenkreuzer Daktyliothek und Druckgrafik (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Kunstakademien des 18. Jahrhunderts hatten zum Beispiel in Deutschland die Aufgabe, Künstlern und Handwerkern Abbilder des Geschmacks der Zeit nahe zu bringen und sie entsprechend auszubilden.13 Überhaupt war das ganze 18. Jahrhundert vom Begriff der Erziehung geprägt. Das Schönheitsempfinden war der als ideal empfundenen Antike geschuldet. Geschnittene Steine galten als eine wichtige Quelle des guten Geschmacks. So war es Lippert ein Anliegen, die Erziehung zur Schönheit zu unterstützen. Als Vorlagen dienten Zeichnungen, Abdrücke von Statuen, Münzen und Gemmen.14 Die Technik der Erzeugung von Abdrücken vermochte die Antike in ihrer Klarheit und Vielfalt darzustellen; so konnte sie von einer größeren Anzahl von Kennern und Liebhabern studiert, verglichen und bewundert werden.15 Interessanterweise war nun die lippertsche Abdrucktechnik von größerem Interesse als die früher verwendeten Kupferstiche, die in ihrer Ausführung oftmals dem Zeitgeschmack entsprechend verfälscht wurden. Die meist ovalen Kleinkunstwerke wurden von ihren Erzeugern in Behältnissen befestigt und mit Nummern versehen. Der Herausgeber lieferte in einer Begleitschrift Informationen zu den einzelnen Exemplaren und seinem Konzept.16 Zudem erschienen neben den Begleittexten und Katalogen auch eine große Zahl an populären Büchern, die mit Begeisterung und Eifer die Nützlichkeit geschnittener Steine darlegten und immer wieder auf den didaktischen und pädagogischen Nutzen verwiesen. Diese Einteilungen und Beschreibungen dienten bei der Betrachtung der Abdrücke auch der thematischen und künstlerischen Information. Oft sind verschiedene Darstellungen eines Themas nebeneinander zu sehen. Was der Herausgeber der Daktyliothek als Schwerpunkt der Wissensvermittlung beabsichtigte, musste also individuell entschieden werden und war sohin maßgebend für die Auswahl der Abdrucke, die Qualität der Begleitschrift und die Struktur ihrer Anordnung.17
Abb. 4: Heiligenkreuzer Nummothek (Foto: P. Roman Nägele OCist)
In dieser Idee entstanden große Enzyklopädien mit mehreren Tausend Abdrücken und kleinere Sammlungen klassizistischer Steinschneider oder spezielle „Mythologische Daktyliotheken“ für den Unterricht. Diese Ansammlungen von verschiedensten „gedruckten“ Motiven dienten quasi als Handbücher antiker Ikonographie. Geschätzt wurden die Kleinkunstwerke von Gelehrten, Künstlern und privaten Sammlern. Heute werden die Daktyliotheken in Kellern, Dachböden oder Depots aufbewahrt und zum Teil neu entdeckt.
Heiligenkreuzer Daktyliothek18
Die Heiligenkreuzer Sammlung lagerte im Kunstdepot auf einem Schrank. Beim ersten Hinschauen vermutete ich eine Reihe von vergessenen, verstaubten Büchern. Neugier war die Triebfeder, die Buchdeckel zu öffnen. Die vermeintlichen Bücher waren äußerlich in einem etwas „verkommenen“ Zustand, und doch war es ein großes Glück, dass die Behältnisse niemals der Feuchtigkeit ausgesetzt waren. Die Buchdeckel und die handgemachten, aufgeklebten Papiere im Inneren waren etwas rissig, zeigten Aufplatzungen und waren an den Kanten abgestoßen. Die an manchen Stellen gerissenen Ausschlagpapiere bereiteten einige Sorgen. Das Innenleben der buchähnlichen Schachteln war erstaunlicherweise ganz gut erhalten. Einige Objekte im Inneren hatten sich gelöst und fielen dem Betrachter quasi entgegen. Größte Vorsicht war geboten, sodass keine weiteren Schäden entstanden. Was ich zu sehen bekam, konnte ich nicht deuten. Ich hatte auch keine Bezeichnung für diese seltsamen Objekte. Erst bei intensiverem Nachfragen hörte ich zum ersten Mal das Wort „Daktyliothek“, welches ich, weil es mir so fremd war, sofort wieder vergaß. Trotz des Staubes faszinierten mich die ovalen, kleinen, in Gips gegossenen Medaillons.
Abb. 5: Heiligenkreuzer Daktyliothek, Detailansicht (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Erstaunlicherweise waren die kleinen Gipsabdrücke gut erhalten. Auch die mit handgemachten Buntpapieren überzogenen Holzschachteln, die wie Bücher ausschauen und mich getäuscht hatten, waren in erstaunlich gutem Zustand. Es ist nun an der Zeit, diese verkannte Kostbarkeit wiederzuentdecken.
In akribischer Genauigkeit hat die Pergament- und Papierrestauratorin Mag. Ilse Mühlbacher (Wien XIX) im Herbst 2019 unsere Daktyliothek restauriert. Die insgesamt komplexen Schäden waren eine doch nicht unerhebliche Herausforderung. Frau Mühlbacher hat es geschafft, unsere Daktyliothek in originaler Pracht wiederherzustellen. Notwendig war das Entstauben, das Reinigen von Verschmutzungen und das Ergänzen von Fehlstellen. Lose Objekte waren zu befestigen. Die behutsame Restaurierung wurde im Sinne der Objekte durchgeführt. Der Restauratorin gilt der Dank des Stiftes. Prof. Dr. Wolfgang Szaivert vom Institut für Numismatik und Geldgeschichte der Universität Wien hat freundlicherweise unsere Daktyliothek erstmals wissenschaftlich gesichtet, untersucht und beschrieben. Nachforschungen bezüglich der Herkunft und des Künstlers stehen erst am Anfang.
Abb. 6: Sichtbare Antike, Detailansicht (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Forschungsgebiet
Die antike Steinschneidekunst ist heute ein eigenes Forschungsgebiet im Rahmen der Archäologie. Die kostbaren Steine sind in Schatzkammern und staatlichen Einrichtungen aufbewahrt, und die Ergebnisse dieser Forschungen stehen einem interessierten Publikum zur Verfügung. Die antike Glyptik erfuhr im Mittelalter, in der Renaissance und im Barock eine wahre Blüte. Und doch: Aufgrund ihrer Kostspieligkeit in der Anfertigung war diese Art der Reproduktion ein Refugium und Privileg der reichen Oberschicht.19
Besonders in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich diese Situation: Die Gemmen galten seit jeher als Quelle für die Erkenntnisse der antiken Kunst. Da sich eine Gemmensammlung nicht jeder Adelige, Geistliche oder freie Bauer leisten konnte, verlegte man sich auf die kostengünstigere Variante der Reproduktionen. So entstand ein weiterer Bereich im Hinblick der Glyptik. Die nun zumeist aus Gips produzierten Kameen – zumeist im Oval geschnitten und mit gelber Goldrandfolie eingefasst, manchmal vom Erzeuger signiert und mit einer laufenden Nummer versehen – waren vor allen Dingen privaten Sammlungen und der Bildung verpflichteten Familien zugänglich.
Mythische Szenen und Portraits, zumeist aus der griechischen Antike, wurden dadurch für die breitere Öffentlichkeit bereitgestellt. Diese Beliebtheit war der Ansicht geschuldet, dass das Studium der antiken Kunst den „Geschmack und damit die gegenwärtige Kunst verbessere.“ 20
Eines war im aufkommenden Klassizismus wichtig: Man musste die Antike wirklich sehen können. Diesem eigentlich einfachen Prinzip standen fast unüberwindliche Schwierigkeiten entgegen. Die Reisen nach Griechenland oder Italien waren nur wenigen Gelehrten oder vermögenden Privatpersonen möglich. Zudem waren solche doch gefährlichen Reisen der Jugend vorbehalten. Illustrierte Bücher waren teuer und auch nicht in großer Zahl erhältlich. Die Abbildungen in diesen Druckwerken waren ungenau und befriedigten den wissensdurstigen Betrachter nicht. In dieser schwierigen Situation, in Ermangelung von originalem Anschauungsmaterial, suchte man dringend nach Lösungen. Kunstinteressierte aus den verschiedensten gesellschaftlichen Schichten waren bestrebt, ihr Wissen durch Sammlungen „sichtbar“ zu machen und sie als didaktische Unterstützung bei der Vermittlung von Lerninhalten zu nutzen. Diese Form der Wissensvermittlung war bei Gelehrten und Künstlern beliebt. So verwundert es nicht, dass die Hersteller die Anzahl der in den Daktyliotheken enthaltenen Gemmenabdrücke variierten. Abgusssammlungen spiegeln also die Konzepte und individuellen Wünsche der Auftraggeber wider. Die Kriterien der Auswahl der Motive, die Qualität der Ausführung und die optisch-inhaltliche Anordnung und Struktur in den vorgefertigten Behältnissen variieren. Jeder Herausgeber entwickelte sein eigenes Ordnungssystem. Manche Hersteller dieser Abgüsse hielten sich an historische Fakten oder sie hoben das bevorzugte Motiv in den Vordergrund. Manche entwickelten dazu selbst ein Konzept und fallen durch die individuelle Zusammenstellung und Anbringung in den dafür vorgesehenen Behältnissen vollkommen aus dem Rahmen. Die Vielfalt bestimmt das Bild. So ist es nicht verwunderlich, dass keine Daktyliothek in ihrer Aus- und Einrichtung exakt einer anderen gleicht.
Gemme
Eine Gemme (lateinisch gemma: Knospe, Edelstein) ist ein geschnittener Schmuckstein bzw. ein Edelstein. Die Gemmologie (Edelsteinkunde) und der Gemmarius (Steinkundige) leiten sich davon ab. Eine Gemme ist also ein Schmuckstein, in den das Bildmotiv vertieft eingeschnitten ist. Im Gegensatz dazu wird bei einer Kamee bzw. einem Kameo der Hintergrund des Bildmotivs weggeschnitten, das Motiv ist erhaben.21
Abb. 7: Rollsiegel (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Gemmen haben den Vorteil, dass sie ob ihrer Kleinheit in der Lage sind, eine Auswahl von wichtigen, antiquarischen Details zu liefern. Szenische Zusammenhänge konnten analog zu noch erhaltenen historischen Sarkophagen schlüssig zusammengestellt werden. Zudem konnte der jeweilige Stil des Künstlers studiert werden. Im frühen Humanismus und besonders im ausgehenden 16. Jahrhundert war die Gemmenkunde ein bevorzugter Gegenstand antiquarischer Erörterungen und Bildpublikationen.22 So verwendete Baron von Stosch (1691-1757), einer der bedeutendsten Antikensammler des 18. Jahrhunderts, ausschließlich signierte Gemmen, die nach den genannten Künstlern geordnet waren. Dreidimensional, in gleicher Größe und leichter lesbar als das Original war damit der Gemmenabdruck die perfekte Form von antiken Reproduktionen überhaupt.23
Glyptik
Glaspaste, Gips, Schwefel oder Siegellack wurden verwendet und waren allgemein anerkannte Materialien. Aus ihnen wurden herzeigbare Abdrücke antiker Gemmen, Kameen, Büsten und Statuen angefertigt.24
Es werden zwei grundsätzliche Typen unterschieden:
1) die großen Enzyklopädien, die mehrere Tausend Abdrücke enthalten;
2) neben diesen großen Sammlungen entwickelten sich kleine finanzierbare Daktyliotheken.
Zur Glyptik ist außerdem noch anzumerken, dass auf Blättern aus festem Papier Siegellackabdrücke hergestellt wurden. Dies war der kostengünstigste, finanzierbarste und einfachste Weg, um bekannte historische Persönlichkeiten und Ereignisse bekannt zu machen und unter die Leute zu bringen.25
Steinschneider, die sich dem Klassizismus verpflichtet fühlten, widmeten sich gerne ausgesuchten mythologischen Themen der Antike.26 „Reproduktionen berühmter Statuen waren ebenso zu finden wie Portraits vergessener Größen.“27 Dabei war es wichtig, die antiken „an bevorzugter Stelle“ zu platzieren. Die Bildnisse entzückten nicht nur den kultivierten Genießer. Diese Kleinobjekte wurden in den Unterrichtseinheiten von den Lehrenden als didaktisches Hilfsmittel genutzt. Manche Konzepte waren zeitlos und überlebten so manche Moderichtung. Manche Ideen wurden neu aufgelegt, angeordnet, adaptiert und ältere Formen weiterentwickelt. Besondere Bedeutung hatte die Weiterentwicklung der Reproduktionstechnik. Spezielles Augenmerk wurde auf die Dreidimensionalität der antiken Objekte gerichtet.
Abb. 8: Glyptik, Beethoven in der Stiftsbibliothek (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Entsprechend dem Zeitgeschmack und dem daraus folgenden Kunstverständnis wurden antike Statuen in ihrer Gesamtheit in Gips abgebildet. Das Kunsthandwerk dieser Zeit sah es als vornehmliche Aufgabe, verkleinerte Nachbildungen antiker Objekte in Bronze, Gips, Porzellan oder Kork nachzubilden. Das Erfolgsgeheimnis dieser Herstellung, die in ihrer Menge quasi einer industriellen Fertigung nahekam, lag an der allgemein anerkannten hervorragenden ästhetischen Ausführung. Wenige Objekte galten als schön und wurden aus dieser Ursache reproduziert. Als hervorragend galten nur ganz wenige Statuen. Auf diese Weise entstand eine Abgusssammlung ausgesuchter Objekte, die nun reproduziert Eingang in fürstliche und akademische Sammlungen fanden. Uns ist der Unterschied zwischen dem Original und der Kopie wichtig. Zur damaligen Zeit war diese Unterscheidung nicht relevant. Originale haben einen festen Standort. Somit können sie nicht bewegt und auch nicht käuflich erworben werden. Daher war der Besitz eines Duplikats erstrebenswert und ausreichend. Wichtig war das Abbild der Antike.28 Diese Wertschätzung des Kunstliebhabers der Kopie gegenüber hielt im 19. Jahrhundert an. In Paris, Berlin und Wien wurden aufwändige Ausgaben der Daktyliotheken zusammengestellt.
Abb. 9: Siegel (Foto: P. Roman Nägele OCist)
Besonders im 19. Jahrhundert, als archäologische Universitätsinstitute entstanden, wurden die Daktyliotheken für deren Unterricht wichtig.29 Eine wissenschaftliche Reihe, in der die wichtigsten Neufunde in Abdrücken publiziert werden sollten, war in Rom sogar geplant.30 Gemmenschneider und Verkäufer von Daktyliotheken waren bemüht, berühmte Skulpturen des Altertums und der Renaissance abzubilden.31 Hier wurde die schon in der Antike geübte Praxis, Bildnisse und Statuengruppen auf das Kleinformat zu bringen, fortgesetzt.32 Im Klassizismus dehnten Künstler diesen Gedanken auf weitere Bereiche aus: Gemälde oder römische Großbauten wurden in miniaturisierter Form umgesetzt.33 Die Abdrücke wirkten gegenüber den Druckwerken wesentlich luxuriöser.34 Historiker kritisierten jedoch jetzt vermehrt die unbefangene Zusammenstellung von antiken und neuzeitlichen Steinen.35 Der Kult des Originals, dem wir uns heute eher zugehörig fühlen, beendete allmählich die Anfertigung der Kopien.36 In der Wissenschaft wandte man sich eher der Skulptur und der Vasenmalerei zu. Am Ende des 19. Jahrhunderts ließ das Interesse an Gemmensammlungen und deren Abgüssen offenbar nach. Einträge in den Lexika sind in den nachfolgenden Jahrzehnten immer weniger zu finden.37 Die Debatte um echt oder falsch spitzte sich Anfang des 19. Jahrhunderts zu. Der Interessierte konnte zur damaligen Zeit eine echte Gemme von einer Kopie nicht mehr unterscheiden. Die Verunsicherung war groß. Kunstliebhaber fanden nun kaum mehr Artikel oder Literatur dazu.38 Die immer knapper werdende Information über Daktyliotheken führte zum Abflachen des Wissens und die Begriffe traten in den Hintergrund.39 Es blieb Adolf Furtwängler in seinem 1893 erschienenen „Meisterwerke“40 vorbehalten, ein zumeist vernichtendes Urteil über den Wert der Daktyliotheken und ihrer Nutzer zu fällen. Das neue Wissensverständnis konnte mit den Kollektionen des 18. Jahrhunderts nichts mehr anfangen. Die Daktyliotheken gehörten in die Schränke der wohlhabenden Italienreisenden und nicht mehr in die Regale von wissenschaftlichen Bibliotheken. „Von hier aus war der Weg dieser Sammlungsart in die Keller und Abstellräume der Seminare und anderer wissenschaftlichen Institute nicht mehr weit. Dort verstaubten sie und weckten vereinzelt erst in jüngster Zeit wieder Interesse.“41
Literatur:
Allgemein
Valentin Kockel–Daniel Graepler (Hg.), Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts (Ausstellung, die im Sommer 2006 im Römischen Museum Augsburg und 2007 in der Staats- und Universität, München 2006).
Matthias BUSCHMEIER, Schubladenklassizismus oder Das Festhalten der Antike. Die Gemme als Sammel-, Bildungs- und Konsumobjekt der Goethezeit (Euphorion 107, 2013) 81–104.
Daniel Graepler, Zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und künstlerischer Praxis: Zu Philipp Daniel Lipperts Dactyliotheca Universalis, in: Dietrich BOSCHUNG (Hg.), Archäologie als Kunst, Archäologische Objekte und Verfahren in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart (Morphomata 30, 2015) 89–118.
Ulf R. HANSSON, Die Quelle des guten Geschmacks ist nun geöffnet: Philipp Daniel Lipperts Dactyliotheca Universalis 1755–1776, in: Fanni FAEGERSTEN–Jenny WALLENSTEN–Ida ÖSTENBERG (Hg.), Tankemönster. En festskrift till Eva Rystedt, übersetzt von Jorun Rebekka Ruppel (Lund 2014) 92–101.
James TASSIE, Daktyliothek, 1786/87, in: Maraike BÜCKLING–Eva MONGI-VOLLMER (Hg.), Schönheit und Revolution. Klassizismus 1770–1820 (München 2013) 84–87.
Bildnachweis: Abb.1–9 zeigen die Heiligenkreuzer Daktyliothek (Fotos: P. Roman Nägele OCist)
P. Roman Nägele OCist ist seit 2011 Kustos der Kunstsammlung, Administrator der Handschriftensammlung und Leiter des Musikarchivs im Zisterzienserstift Heiligenkreuz in Niederösterreich.
Kontakt: p.roman@stift-heiligenkreuz.at
1 Joseph Meyer, Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, 1, 7, 3, Bd. 7 (Hildburghausen 1846) 726, Online unter: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10797947?page=734,735&q=gemmen [Zugriff: 13.10.2021].
2 Vgl. Stefanie BAUER–Verena BESTLE, „Daktyliothek“. Ein Kunstwort und seine Verwendung in Nachschlagewerken, in: Valentin Kockel–Daniel Graepler (Hg.), Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts (München 2006) 57–59, hier 58.
3 Philipp Daniel Lippert wird von Kunsthistoriker Carl Justi (1832–1912) als „Erneuerer der Gemmenkunde“ bezeichnet. 1747–1748 gab Lippert erstmals eine kleine Sammlung von Abdrücken mit einem Namensverzeichnis heraus. Gleichzeitig gibt Lippert eine Reihe von Münzabdruckserien heraus, z. B. zur römischen Geschichte, zu den Königen von Frankreich oder den Päpsten seit Petrus. Vgl. Christina KERSCHNER–Philipp Daniel LIPPERT (1702–1785) und seine Daktyliothek zum „Nutzen der Schönen Künste und Künstler“, in: Valentin KOCKEL–Daniel GRAEPLER (Hg.), Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts (München 2006) 60–68, hier 67.
4 BAUER–BESTLE, „Daktyliothek“ (wie Anm. 2), 58; Meyers Conversations-Lexicon (wie Anm. 1) 726.
5 Roman NÄGELE, Bildung aus der Schublade. Die antike in Lack, Schwefel und Gips. Die Wiederentdeckung der
Daktyliothek aus dem Stift Heiligenkreuz, in: Schaufenster. Kultur. Region. Niederösterreich 2/2021, 42–43, hier 42.
6 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 42.
7 Ebd.
8 Ebd.
9 Vgl. KERSCHNER–LIPPERT (1702–1785) (wie Anm. 3), hier 67.
10 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43.
11 Helge KNÜPPEL, Daktyliotheken – Konzepte einer historischen Publikationsform, in: Stefanie BAUER–Verena BESTLE, Daktyliothek; in: Valentin KOCKEL–Daniel GRAEPLER (Hg.), Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts (München 2006) 17–38, hier 17.
12 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43.
13 Verena BESTLE, „Eine Quelle des guten Geschmacks“. Daktyliotheken und die Kunstakademien in Augsburg, in: Valentin KOCKEL–Daniel GRAEPLER (Hg.), Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts (München 2006) 53–56, hier 53.
14 Ebd.
15 Goethe konnte mithilfe der lippertschen Daktyliothek seine durcheinandergeratenen, in Schwefel ausgeführten Abdrucke wieder in die ursprüngliche Ordnung bringen. Vgl. KERSCHNER–Philipp Daniel LIPPERT (1702–1785) (wie Anm. 3), 66.
16 KNÜPPEL, Dakyliotheken (wie Anm. 11), 17.
17 Ebd. 18.
18 Die Herkunft der Heiligenkreuzer Sammlung ist nicht geklärt, sie dürfte eventuell der Sammeltätigkeit von Prof. P.
Dominik Bilimek OCist (1813-1884, Priester und Naturwissenschaftler) und Prof. P. Dr. Wilhelm Neumann OCist (1837–
1919, Theologe, Archäologe, Bibelwissenschaftler, Rektor der Universität Wien) zu verdanken sein.
19 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43; Valentin KOCKEL, Antike aus zweiter Hand, in: Valentin KOCKEL–
Daniel GRAEPLER, Daktyliotheken. Götter & Caesaren aus der Schublade. Antike Gemmen in Abdrucksammlungen des
18. und 19. Jahrhunderts (München 2006) 8–13, hier 8.
20 Für den gesamten Absatz gilt NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43; KOCKEL, Antike (wie Anm. 19), 8.
21 Wikipedia, Gemme, https://de.wikipedia.org/wiki/Gemme [Zugriff: 13.10.2021].
22 Vgl. Daniel GRAEPLER, Zwischen antiquarischer Gelehrsamkeit und künstlerischer Praxis. Zu Philipp Daniel Lipperts Dactyliotheca Universalis, in: Dietrich BOSCHUNG (Hg.), Archäologie als Kunst, Archäologische Objekte und Verfahren in der bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart (Morphomata 30, 2015) 89–118.
23 Vgl. KOCKEL, Antike (wie Anm. 19) 8–13.
24 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 Ebd.
28 Für den gesamten Absatz gilt NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43.
29 Ebd.
30 KOCKEL, Antike (wie Anm. 19), 12.
31 Ebd., 13.
32 Ebd., 13.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43.
36 Ebd.
37 BAUER–BESTLE, „Daktyliothek“ (wie Anm. 2), 59.
38 Ebd.
39 Ebd.
40 Adolf FURTWÄNGLER, Meisterwerke der griechischen Plastik (Kunstgeschichtliche Untersuchungen, Leipzig 1893).
41 NÄGELE, Schaufenster (wie Anm. 5), 43.