Das Potenzial der Frömmigkeit
Vortrag gehalten am virtuellen Kulturtag im Rahmen der Herbsttagungen der Ordensgemeinschaften Österreich am 25. November 2020.
Hinführung: Frömmigkeit ‒ eine vergessene Ressource
Das Potenzial der Frömmigkeit – diese großen, kraftvollen und inspirierenden Worte, die als Slogan benutzt werden können und die heute in diesem Rahmen als Vortragstitel dienen, stelle ich durchaus mit Vorsicht in den Raum, weil sie missverstanden werden könnten.
Der Grund für diese Themenwahl resultiert aus den Erfahrungen mit wissenschaftlichen Werken über Frauengemeinschaften, die ich im Zuge meines Dissertationsprojekts1 konsultierte. Vielfach waren diese Abhandlungen frappierend ähnlich aufgebaut: Zunächst gab es einen geschichtlichen Überblick, der sich auf die Eintritte, den Gründungsprozess und den Klosterbau fokussierte. Anschließend wurden die einzelnen Mitglieder und ihr pädagogisches, seelsorgliches oder pflegerisches Wirken im Kontext der klösterlichen Institution skizziert. Zum Schluss fügte man meistens noch ein kleines, bescheidenes Kapitel über das geistliche Leben der Schwestern an, in dem man Gebetszeiten und -weisen, geistliche Schriften der Gründungspersönlichkeiten sowie wertvolle religiöse Kunstgegenstände auflistete, sozusagen als spirituell gefärbten, fakultativen Anhang zur nüchternen und wissenschaftlichen Darlegung. Als ich mich intensiv mit dem Leben und Wirken der Tertiarschwestern des hl. Franziskus im 18. Jahrhundert beschäftigte und Chroniken, Briefe, Gebetbücher sowie Aufzeichnungen der Tertiarinnen und ihres Freundeskreises studierte, wurde mir schnell klar, dass dieser Ansatz unzureichend ist. Denn das Gebet, die Beziehung zu Jesus Christus, die bewusst gewählte ehelose Lebensform und nicht zuletzt die hohen geistlichen Ideale waren und sind nie ein Randthema, das immer nur dann hervorgeholt werden muss und darf, wenn die Ordensfrauen gerade nicht beim Arbeiten, Essen oder Schlafen waren, sondern ihr geistliches Leben war der Dreh- und Angelpunkt ihrer Existenz, auf dem alles andere basierte. Viel zu oft wurde im Kloster gelehrt, dass Arbeit und Gebet zwei Bereiche sind, die fein säuberlich getrennt werden müssen, damit weder das Eine noch das Andere überhandnimmt. Vergessen blieb dabei, dass eine Ordensberufung nur dann realisiert und vertieft werden kann, wenn sich die verschiedenen Elemente gegenseitig befruchten und beseelen. Das geistliche Leben bildete sozusagen das Gerüst, in das alles eingebaut wurde. Daher ist es wohl adäquat, von einem Frömmigkeitssystem zu sprechen, denn es verkörperte den richtungsweisenden und sinnstiftenden Rahmen, der alles zusammenhielt und untrennbar miteinander verwob.
Der Glaube war folglich nicht Teil der Kultur, sondern konstituierte dieselbe. Ein weiterer Punkt, der relativ schnell ins Auge springt, ist, dass konkrete geistliche Praktiken und Ideale den Schwestern einen ungeheuren Selbststand vermittelten. Sie befähigten sie, in der Kommunikation mit Autoritäten klarer, differenzierter und zielorientierter zu agieren. Ihre Frömmigkeit verbesserte insofern ihre Kommunikations-, Beziehungs- und Konfliktfähigkeit und gab ihnen Selbstvertrauen.
Wahrscheinlich ist nun einsichtiger, warum ich im Rahmen dieses Kulturtags vom „Potenzial der Frömmigkeit“ sprechen möchte. Es geht nicht darum, Frömmigkeit als Machtinstrument zur skrupellosen Durchsetzung persönlicher oder institutioneller Interessen zu benutzen. Es ist evident, dass das geschehen ist und leider immer noch geschieht. Wir wissen auch, dass religiöse Ideale nicht automatisch und nicht immer Inspiration sowie Mut schenken und auch nicht per se dazu anregen, die Beziehung zu Gott zu vertiefen. Religiöse Ideale können unter gewissen Umständen eine gewaltige, destruktive, hemmende und einengende Kraft entwickeln, die dem Menschen nicht zur Entfaltung seines Wesens hilft, sondern ihn angstvoll verkümmern lässt. Diese Gefahr ist vorhanden; sie soll uns aber nicht daran hindern, die feinfühlige Lebendigkeit, die temperamentvolle Energie und den unverzagten Wagemut, welche in der Frömmigkeit stecken, zu entdecken und freizulegen. Denn eine innige authentische Beziehung zu Jesus Christus stärkt das Leben, Handeln, Denken und Fühlen. Es wäre schade, wenn potenzielle Gefahren uns daran hindern, Kraftquellen zu entdecken und daraus zu schöpfen.
Ordensgemeinschaften waren und sind Stätten der Kultur, der Bildung sowie der selbstlosen Hingabe an Gott und die Menschen. Ohne die Pflichtverletzungen, Unzulänglichkeiten und Versäumnisse zu ignorieren oder gar zu bagatellisieren, kann man sagen, dass es Ordensfrauen nie nur um ihr eigenes Seelenheil ging, sondern sie nutzten die Lebendigkeit und Kraft, die sie aus ihrem geistlichen Leben schöpften, für andere und deren Not und versuchten, sich nach Kräften in den Dienst Hilfesuchender zu stellen.
Im Folgenden wird dieses Thema am Beispiel der klösterlich lebenden Brixner Tertiarschwestern erörtert, aber grundsätzlich kann man die einzelnen Aspekte selbstverständlich auf jeden religiös suchenden und geistlich lebenden Menschen beziehen. Das Potenzial der Frömmigkeit wird nach einer Hinführung zu Maria Hueber (*1653, ✝1705) aus drei verschiedenen Blickwinkeln entfaltet. Zunächst steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, welche Rolle Frömmigkeit bei der Schaffung des neuen Ordensmodells der franziskanischen Drittordensschwestern gespielt hat, wobei dies anhand der Themen Kloster, Kontemplation und Klausur durchbuchstabiert wird. Das freiwillig gewählte, traditionelle geistliche Leben stellte für die Tertiarinnen einen Stimulus für ihr apostolisches Wirken dar, sozusagen ein Sprungbrett für ihr Bemühen, sozial schwachen Mädchen eine Elementarbildung zuteilwerden zu lassen. Anschließend wenden wir uns den Konflikten mit den religiösen und politischen Autoritäten der Stadt Brixen zu. Die Schwestern mussten nämlich in der Frühen Neuzeit ihren konkreten kirchenrechtlichen Status erst mit dem Stadtrat, dem Bischof und anderen übergeordneten Institutionen aushandeln und ihre Identität konstituieren. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei die Ordenskleidung, die Konstitutionen und die Gelübde. Abschließend wird das Potenzial der Frömmigkeit im persönlichen Reifungsweg Huebers skizziert und am Beispiel der Jesuskind-Mystik aufgezeigt, dass ihre intensive Beziehung zu Jesus Christus und eine tiefe Frömmigkeitspraxis sie befähigten, große psycho-religiöse Krisen zu meistern, Distanz zu Enttäuschungen aufzubauen und inneren Frieden zu finden. Ein abschließendes Fazit gibt Impulse für eine Aktualisierung dieses frömmigkeitsgeschichtlichen Erbes in unsere heutige Lebensrealität.
Die prophetisch begabte Charismatikerin Maria Hueber und ihre Pionierleistungen
Um das Thema im kirchenhistorischen Kontext wenigstens ansatzweise einzubetten, möchte ich Ihnen diese großartige, durchsetzungsfähige und kluge Frau vorstellen, die als Ordensgründerin, als Mystikerin und als Pionierin der Mädchenelementarbildung die Geschichte Tirols entscheidend mitgeprägt hat, denn sie eröffnete im Jahre 1700 die erste unentgeltliche Mädchenschule Tirols und gründete die erste franziskanische aktiv tätige weibliche Kommunität Tirols, die (Brixner) Tertiarschwestern, die heute zahlenmäßig die größte weibliche Ordensgemeinschaft Südtirols darstellen. Maria Hueber, geboren 1653 und gestorben 1705, stammte aus Brixen, lebte und wirkte daselbst. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wird sie in der hagiographischen Kunst mit einer Jesuskind-Statue als Attribut dargestellt.
Abb. 1: Maria Hueber ‒ Gemälde aus der Mitte des 18. Jahrhunderts (Tertiarkloster Brixen; Foto: Sr. Anna Elisabeth Rifeser).
Sie, die sich mittels Arbeitsstellen in Brixen, Bozen, Innsbruck und Salzburg als Kinder- und Dienstmagd zunächst Kost und Logis verdient hat und für die damalige Zeit weitgereist ist, war keineswegs für eine spirituelle Leitungsrolle prädestiniert.2 Umso mehr erstaunt, dass sie als mittellose junge Frau mit Ende 20 aufgrund ihrer charismatischen, prophetischen und seelsorglichen Kompetenzen einen Freundeskreis und eine dynamische Clique aus Anhänger(inne)n und Gönner(inne)n um sich scharte, zu der hochgebildete Franziskaner und Diözesanpriester, aber auch adelige Nonnen aus prestigeträchtigen Tiroler Frauenklöstern, Vertreterinnen des Brixner Adels und sogar die Ziehtochter der Erzherzogin Anna von Österreich-Tirol (1585–1618) gehörten. Dass Maria Hueber im Jahre 1685 als Hexe angeklagt wurde, weil sie Fürstbischof Paulinus Mayr (1628‒1685) den Tod vorausgesagt und ihm damit die Möglichkeit eröffnet hatte, sich auf das Sterben vorzubereiten, zeigt mit eindrücklicher Klarheit auf, dass sie eine gesellschaftlich und seelsorglich einflussreiche Influencerin war und wohl auch als gefährlich eingestuft wurde, denn mit ihren Fähigkeiten unterminierte sie die Autorität der kirchlichen Institution.
Im Jahre 1700 erreichte ihr Wirken als gern und oft konsultierte Ansprechperson einen weiteren Höhepunkt. Hueber eröffnete in Brixen eine kleine, überschaubare Mädchenschule. Dieses Bildungsangebot kam gerade jenen zugute, die von den Dom- und Klosterschulen ausgeschlossen waren und sich keine Privatlehrpersonen leisten konnten. Grundsätzlich stufte man eine derartige Einrichtung für Mädchen und noch dazu für arme Bauerntöchter im Allgemeinen als überflüssig und gar als schädlich ein, weil man landläufig der Ansicht war, dass Bildung weibliche Eitelkeit fördere. Maria Hueber berief sich auf die Notwendigkeit elementarer Kenntnisse für eine ganzheitliche Formung eines christlichen Menschen und bettete dieses Engagement in einen religiösen Lebensstil ein, denn im Jahre 1701 gründete sie mit einer Gefährtin parallel zur Schule eine franziskanisch geprägte, kontemplativ lebende, aber aktiv tätige Ordensgemeinschaft, die Tertiarschwestern des hl. Franziskus.
Nach dieser kurzen Situierung im kirchenhistorischen Kontext möchte ich das Thema aus drei Perspektiven beleuchten, und zwar im Hinblick auf die Schaffung eines neuen Klostermodells, bezüglich der Konflikte mit den religiösen und politischen Autoritäten wegen ihres kirchenrechtlichen Status, und zuletzt soll aufgezeigt werden, inwiefern Frömmigkeit im Rahmen des persönlichen religiösen Reifungswegs Maria Huebers eine Ressource darstellte.
Das traditionelle klösterliche Leben als Stimulus für das apostolische Wirken ‒ Kloster, Kontemplation und Klausur als Sprungbrett für das Mädchenschulapostolat
In der Auseinandersetzung mit dem innovativen Bildungsangebot für Mädchen aus den unteren Schichten verblüfft das im Jahre 1701 neu geschaffene klösterliche Lebensmodell Maria Huebers und ihrer Schwestern, nämlich ein auf den franziskanischen Werten und auf Elementen des traditionellen Religiosentums basierendes Ordensmodell. Die sogenannten Tertiarinnen und Tertiaren, Mitglieder des Regulierten Dritten Ordens3 innerhalb der franziskanischen Familie, gab es bereits seit dem Ende des 12. Jahrhunderts ‒ neben den Minderbrüdern als Ersten Orden und den Klarissen als Zweiten Orden ‒ in Italien, den Niederlanden und in Vorderösterreich. Bei den Mitgliedern des Dritten Ordens kann man einen weltlichen und einen regulierten Zweig unterscheiden. Mitglieder des Ersteren lebten in der Welt nach den Idealen des hl. Franziskus (*1181/82, ✝1226) und der hl. Klara (*1193/94, ✝1253) von Assisi. Vertreter(innen) des Letzteren beobachteten eine klosterähnliche Lebensregel (daher der Name „reguliert“), schlossen sich zu religiösen Gemeinschaften zusammen, übernahmen aber – im Gegensatz zu den Klarissen – keine strenge Klausur.
In Vorderösterreich und in Italien existierten vereinzelt seit dem 13. Jahrhundert und dann endgültig flächendeckend ab dem 15. Jahrhundert blühende Gemeinschaften, aber in Tirol gab es interessanterweise vor Maria Hueber keine einzige aktiv tätige franziskanische Frauengemeinschaft, sondern nur Klarissen. Was zeichnete das Leben dieser franziskanischen Tertiarinnen aus? Die Kleiderkunde4 des Filippo Buonanni (*1638, ✝1725) von 1710 veranschaulicht eindrücklich die wesentlichen Eckpfeiler dieser Lebensweise: Buße und eremitisches Leben.
Abb. 2: Die Tertiarinnen der Frühen Neuzeit in der Kleiderkunde Filippo Buonannis von 1710. Filippo BUONANNI, Ordinum Religiosorum in Ecclesia Militanti Catalogus … Bd. III (Rom 1710) Abb. 25 und 27 (Bayerische Staatsbibliothek München, 4 H.mon. 69-3, Abb. 25 und 27, urn:nbn:de:bvb:12-bsb10006226-2; Abbildung mit Erlaubnis der Bayerischen Staatsbibliothek).
Hohe gesellschaftliche und kirchliche Anerkennung erhielten die Schwestern auch durch ihr unermüdliches Engagement in sozial-karitativen Wirkfeldern. Das Konzil von Trient (*1545, ✝1563) und die nachfolgenden päpstlichen Klausurbullen wie Circa Pastoralis (1566) und Decori et honestati (1570) bürdeten allen Ordensfrauen die strenge Klausur auf. Erst im 19. Jahrhundert ebnete man mit der Anpassung der kirchenrechtlichen Bestimmungen endgültig den Weg für das aktiv tätige weibliche Ordenswesen und leitete einen noch nie dagewesenen Frühling mit dutzenden Kongregationsgründungen ein, deren Schwestern soziale, karitative und pädagogische Institutionen führten, welche wegweisend für die Etablierung staatlicher Einrichtungen wurden.
Das 17. Jahrhundert sowie das frühe 18. Jahrhundert waren diesbezüglich noch ein ziemlich schwieriges, konfliktbeladenes Terrain, da für Frauen offiziell nur das in strenger Klausur vollzogene Ordensmodell vorgesehen war. Maria Hueber umschiffte dieses Problem in einer bemerkenswert originellen Art und Weise, denn sie kreierte eine im 18. Jahrhundert kirchenrechtlich unzulässige Lebensform, indem sie zwar faktisch eine aktive Ordensgemeinschaft aus der Taufe hob, sich aber gleichzeitig sämtlicher Elemente des traditionellen Religiosentums (Kloster, Kontemplation und Klausur) bediente, ohne die damit zusammenhängenden kirchenrechtlichen einengenden Bestimmungen in Kauf zu nehmen. Ihr nach taten es weitere Tertiarinnen in Bozen und Kaltern, die autonome Gemeinschaften und Mädchenschulen ins Leben riefen und sich Anfang des 20. Jahrhunderts zur heutigen Kongregation der Tertiarschwestern des hl. Franziskus zusammenschlossen.
Das Klostermodell der Brixner Tertiarinnen fußte auf dem eremitischen Ordensideal. Die Gefährtin Huebers, Regina Pfurner (*1668, ✝1709), gab in ihren Memoiren, die sie etwa fünf bis sieben Jahre nach der Gründung verfasste, an, dass sie ein ainsamb= Vnd abgesöndertes Leb(en)5 führen wollten und sich souihl es möglich wahre, der Eitl(en) [Welt] Entzog(en)6 haben. Eine wertvolle Quelle, um die Rolle von Frömmigkeit und den Stellenwert des klösterlichen Lebens in dieser jungen Gemeinschaft zu verstehen, sind die allerersten Konstitutionen von 17017, die detaillierte Hinweise zum genau durchstrukturierten, kontemplativ-aktiven Tagesablauf geben.
Abb. 3: Die Konstitutionen der Brixner Tertiarinnen aus dem Jahre 1701 (OSF Bx, GS I, Nr. 1; Foto: Sr. Anna Elisabeth Rifeser).
In der Lebensweise orientierten sich die Schwestern an institutionell etablierten, kontemplativ lebenden Frauenklöstern, d. h. sie beteten gemeinsam das volle Stundengebet mit sämtlichen Horen. Aufgrund mangelnder Lateinkenntnisse benutzten sie das Marianum, also die deutschsprachige Fassung, und beteten täglich den Rosenkranz sowie eine Litanei und setzten zweimal pro Tag eine halbstündige Betrachtung sowie eine Vorbereitung auf dieselbe an. Insgesamt waren täglich fünf Stunden für das gemeinsame Gebet vorgesehen. Noch mehr überrascht aber die Begeisterung für Kontemplation und Mystik sowie die konsequente Umsetzung dieser Ideale im Alltag der kleinen Kommunität, was sich vor allem in der hohen Bedeutung des Stillschweigens ausdrückte. Denn nur eine halbe Stunde nach dem Mittagessen bei der Rekreation und selbstverständlich während der zweistündigen Unterrichtszeit am Nachmittag wurde das ansonsten ganztägig beobachtete Stillschweigen aufgehoben. Darüber hinaus wurde noch zu Lebzeiten der Gründerin eine elastische Klausur eingeführt, d. h. der Ausgang war nur zu Arbeitszwecken und für den Gottesdienstbesuch erlaubt. Die Schwestern fügten außerdem zu ihrem Ordensnamen ein geistliches Attribut an, z. B. erhielt 1703 Sr. Anna Maria Holzegger (*1681, ✝1747) den geistlichen Zunamen (v)on den(en) Hl. Engl(en)8, was ein Brauch in streng kontemplativen Orden wie den Klarissen und den Karmelitinnen ist.
Bei diesem umfangreichen Gebetspensum drängt sich fast automatisch die Frage auf, wie die Tertiarinnen die Mädchenschule leiten konnten. Die Schwestern gaben den Unterricht niemals auf und integrierten ihr Apostolat pragmatisch und geschickt in ihr kontemplatives Leben. Auf dem Stundenplan standen folgende Unterrichtsfächer: Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion und das Fach „Feine Handarbeiten“. Letzteres, in dessen Rahmen die Schülerinnen stricken, sticken, nähen, flicken u. a. lernten, verdient besondere Aufmerksamkeit. Durch diese Kompetenzen konnten die Mädchen später als Näherinnen arbeiten und so selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen, was ihnen finanzielle und emotionale Unabhängigkeit bot. Maria Hueber und Regina Pfurner vermittelten den Wert existenzieller Autonomie nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch. Denn neben dem täglichen kostenlosen zweistündigen Unterricht fertigten sie liturgische Gewänder sowie feine Nadel- und Klosterarbeiten an und sicherten sich so ihr finanzielles Auskommen.
Im Kloster der Tertiarschwestern in Brixen gibt es einen verschütteten und erst jüngst freigelegten Kellerraum aus dem 18. Jahrhundert, der zum ursprünglichen Haus Maria Huebers und ihrer Schwestern gehörte.
Abb. 4: „Zelle des Ursprungs“ (historischer Kellerraum im Tertiarkloster Brixen aus dem 18. Jahrhundert; Foto: Sr. Anna Elisabeth Rifeser).
Nachdem der Fluss Eisack im 19. Jahrhundert mehrmals über die Ufer getreten war und die umliegenden Keller überflutet hatte, fehlten wohl die finanziellen Mittel, den Raum freizulegen und zu säubern, woraufhin man ihn als Mülldepot benutzte. Erhalten sind Scherben aus Keramik, Glas, Ton, kleine Krüge und Schüsseln sowie einige Drahtgeflechte, sogenannte Klosterarbeiten, darunter auch eine erstaunlich gut erhaltene formidable Filigranarbeit, auf der sich durch Korrosion Grünspan gebildet hat.
Abb. 5: Historische Klosterarbeit der Brixner Tertiarinnen aus dem frühen 19. Jahrhundert aus der „Zelle des Ursprungs“ (Schauraum im Tertiarkloster Brixen; Foto: Sr. Anna Elisabeth Rifeser).
Ihre Identität als klösterlich-klausuriert lebende Tertiarinnen haben die Schwestern auch nach außen hin klar kommuniziert und durch bauliche Akzente, klösterliche Zeichen, Kleidungsstücke etc. inszeniert. So wurden sie z. B. trotz öffentlich zugänglicher und autonom geführter Mädchenschule vom Stadtrat als moniales tertiariae9, als Tertiar-Nonnen bezeichnet. Das deutet unmissverständlich auf ihre kontemplative Lebensgestaltung hin, die durchaus auch von den zuständigen stadtpolitischen und diözesanen Autoritäten wahrgenommen wurde. Ihre auf Gebet, Arbeit, Gemeinschaft und Innerlichkeit fokussierte Tagesordnung mit dem regelmäßigen Wechsel von Alleinsein und sozialer Interaktion in der Schule und in der Kommunität war der emsige Versuch, die Beziehung zu Gott als oberste Priorität des Lebens zu installieren und weder die Kontemplation noch die Aktion absolut zu setzen. Es ist also klar ersichtlich, dass die Schwestern die durch klösterliche Regeln klar vorgegebenen Zeiten und Räume des Schweigens und des Gebets nicht aus reinem Leistungs- und Pflichtbewusstsein beobachteten, sondern sie als lebensfördernde und nährende Ressourcen nutzten. Feste Gebetsübungen und entsprechende manuelle, in Stille ausgeführte Tätigkeiten förderten die meditative Reflexion und die lebendige Beziehung zu Gott. Diese Introspektion sollte aber darüber hinaus auch das aktive Apostolat, den Unterricht der Mädchen sowie die pädagogischen Bemühungen der Schwestern anregen und gleichzeitig das Leben im Kloster mit neuen Impulsen beleben.
Maßgeblich im Zusammenhang mit der Schaffung dieses eigenwilligen, innovativen Ordenskonzepts war die zölibatäre Lebensweise der Tertiarinnen auf der Basis des Virginitätsideals10. Der Umstand, dass sie auf eine Partnerschaft und Ehe verzichteten, sich bewusst Jesus Christus als Bräutigam erwählten und ihm sich selbst und ihr ganzes Sein schenkten, bestärkte sie in der tiefen Überzeugung, dass Gott sie zu dieser Lebensform berufen habe und ihnen durch seinen Heiligen Geist Gnade, Heiligkeit, das notwendige Unterscheidungsvermögen und Weisheit schenke. Die Schwestern, die nahezu alle aus bäuerlichen Verhältnissen stammten und weder auf eine pädagogische, noch eine religiöse Ausbildung und entsprechende Kompetenzen zurückgreifen konnten, hatten gerade im Hinblick auf ihr Klostermodell sehr klare Vorstellungen und schöpften aus den jahrhundertelang tradierten Idealen des traditionellen Ordenslebens Kraft und Mut.
Gerade diese Durchsetzungsfähigkeit und die tiefe Überzeugung von der Sinnhaftigkeit ihrer Lebensweise benötigten sie ganz dringend. Denn sie widersetzten sich selbstbewusst den diözesanen und stadtpolitischen Autoritäten, welche die Tertiarinnen für ihre eigenen Interessen instrumentalisieren und sie in traditionelle Rollenbilder drängen wollten. Deutlich wird, dass die Frauen eigenständig eine ‒ auf ihre spirituellen Bedürfnisse zugeschnittene ‒ Lebensweise konzipierten und dafür teils auf wirkmächtige, religiöse Zeichen, Ideale und Normen zurückgriffen, teils aber einengende klösterliche Vorschriften ablehnten und sich genügend Handlungsspielräume für individuelle Anpassungen sichern wollten. Die Schwestern versuchten in jahrelangen Machtkämpfen und teils vehementen Konflikten mit dem Stadtrat, den jeweiligen Bischöfen und anderen zuständigen Autoritäten ihre Identität und den, aufgrund des unklaren Rollenbilds prekären kirchenrechtlichen Status zu klären und auszuhandeln, wobei sich ihr geistliches Leben und ihre Frömmigkeit als Kraftressourcen entpuppten, um diesen Befehlsgewalten die Stirn zu bieten.
Intrinsisch motivierte Frömmigkeit als Ressource für Machtkämpfe und Konflikte mit diözesanen und stadtpolitischen Autoritäten bei der Klärung des kirchenrechtlichen Status am Beispiel der Ordenstracht, der Konstitutionen und der Gelübde
Auch wenn die franziskanischen Tertiarinnen ordensrechtlich keine vollwertigen Nonnen waren, genossen sie seit dem Spätmittelalter eine hohe Wertschätzung vonseiten der Kirche, die sie mit zahlreichen Privilegien bedachte, etwa die Befreiung vom weltlichen Gericht, die Errichtung eines hauseigenen Oratoriums oder den schwarzen Schleier, der üblicherweise nur Mitgliedern traditioneller (klausurierter) Frauenorden vorbehalten war. Die Brixner Schwestern scheuten keinerlei Mühen, gerade diese Sondererlaubnisse für sich geltend zu machen, auch wenn sie dafür jahrzehntelange, zähe und mühevolle Machtkämpfe mit den Stadträten und den jeweiligen Bischöfen in Kauf nehmen mussten. Dies betrifft vor allem die Eucharistiefeier in der klosterinternen Hauskapelle, die Befreiung vom weltlichen Gericht und den Religiosen-Status. Der Bischof und die Stadträte antworteten auf diese Forderungen mit Schikanen und Unterdrückungsversuchen. Beispielsweise verweigerten sie den Tertiarinnen die Baulizenz, als diese ein zweites Haus ankaufen wollten.11 Darüber hinaus zwang der Ordinarius die Schwestern, einem rigiden „Numerus clausus“12 zuzustimmen, d. h. es gab eine Zulassungsbeschränkung von sieben Schwestern. Ein neues Mitglied durfte erst dann aufgenommen werden, wenn ein anderes starb. Auf diese Weise hielt man die Gemeinschaft nur leicht über dem Existenzminimum und unterband eine zu rasche Ausbreitung.
Was veranlasste die Brixner Schwestern dazu, solche kräftezehrenden Kämpfe auszufechten und derartige Nachteile für religiöse Privilegien, die eigentlich nur auf dem Papier bestanden und wenige konkrete Auswirkungen hatten, in Kauf zu nehmen? Klar ist, dass die Frauen den äußeren Zeichen, welche die Zugehörigkeit zum Dritten Orden und zum Religiosentum ausdrückten, eine sehr große Bedeutung zumaßen und sie als identitätsstiftende und -stabilisierende Ressourcen für ihre persönlichen Suchprozesse und Konsolidierungsversuche als kleine Frauengemeinschaft ohne Mitglieder mit Erfahrung im klösterlichen Leben nutzten. Sie wollten nicht nur in ihren eigenen vier Wänden ein traditionelles Ordensmodell mithilfe individuell angepasster Regeln verwirklichen. Vielmehr war es ihnen wichtig, als geistliche Frauen, als franziskanische Religiosen in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Darüber hinaus erkämpften sich die Tertiarinnen selbstbewusst und strategisch klug die entsprechenden Sondererlaubnisse, indem sie sehr geschickt, oftmals heimlich, sukzessive und über Jahre hinweg ein Privileg nach dem anderen eigenmächtig und ohne entsprechende Erlaubnis einführten und anschließend für sich beanspruchten. Anhand dreier Beispiele möchte ich Ihnen diese Taktik näherbringen, und zwar im Hinblick auf die Ordenstracht, die Konstitutionen und die Gelübde. Zwischen 1701 und 1706 trugen sie das franziskanische Cingulum, also den weißen Gürtel mit den drei Knoten, einfach unter den Kleidern. Ab 1706 gingen sie dazu über, ihn stets sichtbar um die Taille zu binden, bis sie schlussendlich 1719 die bischöfliche Erlaubnis erwirkten, das blaue bzw. graue Ordenskleid der Tertiarinnen samt Skapulier, Cingulum, weißem Schleier und einer Art Kopfhülle tragen zu dürfen.13 Eine rein äußere Zugehörigkeit zum franziskanischen Regulierten Dritten Orden und der ‒ durch sichtbare Zeichen unverkennbar inszenierte ‒ Status als Religiose sowie als Gott geweihte und durch Lebensweise, Gebet und Klausur dem weltlichen Leben enthobene Schwestern genügte ihnen allerdings nicht. 1724 legten sie dem Provinzkapitel der Franziskaner, dem sie aufgrund der beanspruchten geistlichen Begleitung untergeordnet waren, neue, stark von klösterlichen Idealen geprägte Statuten14 vor, die kritisch beäugt wurden.
Abb. 6: Die „Aichberger-Konstitutionen“ der Brixner Tertiarschwestern (OSF Bx, Museum, STAT 1724 Bx; Foto: Sr. Anna Elisabeth Rifeser).
Die Minderbrüder unterstellten den Tertiarinnen, dass sie nach religiöser Art15, also eben wie Nonnen, leben wollten, und entzogen sich der Verantwortung, indem sie argumentierten, nicht die Vollmacht für eine kirchliche Approbation zu besitzen. Diese wurde letzten Endes auch vom Hofrat, dem bischöflichen Beratungsgremium, verweigert.16 Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass die Brixner Schwestern klosterintern zwar die älteren Satzungen für die Tischlesung verwendeten, aber dennoch ‒ trotz fehlender Gutheißung ‒ die neuen Konstitutionen beobachteten. Dieselbe Taktik verwendeten sie bei der Ablegung der drei Gelübde (Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit) im Rahmen einer festlich zelebrierten Profess, die kirchenrechtlich nur Nonnen und Mönchen, d. h. Mitgliedern approbierter Orden vorbehalten war. Hierbei entschieden sich die Tertiarinnen für eine Verschleierungs- bzw. Bagatellisierungspraxis. In der Gelübdeformel verwendete man nämlich anstelle des Terminus „ewig“ den Begriff auf so lang sӱe sichwohlhalt(en)17. Da die Betreffende zum Zeitpunkt der Professablegung selbstverständlich die Intention hatte, die Versprechen ihr ganzes Leben lang zu beobachten, handelte es sich um ein evidentes Synonym. Zudem entschieden sich die Tertiarinnen – in Anlehnung an die Klarissen, die sich durch ein viertes Gelübde zur ewigen Klausur bekannten ‒ für eine freiere Interpretation, indem sie sich mit einem eigenen Stabilitätsgelübde zur bestendigkeit des orths18, d. h. zum Verbleib in der Gemeinschaft verpflichteten. Während sie in den bischöflichen Visitationsgesprächen19 unisono betonten, nur drei Versprechen zu halten, verraten die Konstitutionen20 sowie die Chronikeinträge der Franziskaner21, welche die Profess entgegennahmen, ganz klar die Verpflichtung zu vier Gelübden. Als der Bischof 1729 Kenntnis von dieser großzügigen Handhabung der Bestimmungen bekam und sämtliche Feiern untersagte, verlegte man die Zeremonie kurzerhand in die Sakristei und gab als Grund für die scharfe Reaktion des Ordinarius an, dass dieser nur falsch informiert worden sei.22
Sichtbar wird bei diesen mühsamen Verhandlungen mit den übergeordneten diözesanen und stadtpolitischen Autoritäten, dass die Frauen autonom und teils ohne männliche Protektion ihre kirchenrechtliche Stellung als klösterlich lebende Tertiarinnen aushandelten, dabei sämtliche Grauzonen nutzten, um sich Privilegien zu sichern, und für ihren intrinsisch motivierten Wunsch, neben der Schultätigkeit ein traditionelles kontemplatives Leben zu führen, viele Nachteile in Kauf nahmen. Ihre religiös fundierten Bestrebungen waren ihnen dabei Hindernis und Stütze zugleich. Denn einerseits mussten sie ihre Lebensweise stets aufs Neue verteidigen und institutionell absichern. Andererseits förderten und stützten die geistlichen Ideale und Affinitäten ihr Selbstbewusstsein sowie ihre Konfliktbereitschaft und motivierten sie, z. B. für den Religiosen-Status oder das Ordenskleid zu kämpfen. Die Schwestern sahen in diesen Zeichen keineswegs überholte oder nebensächliche Äußerlichkeiten, sondern sie wiesen ihnen hohe Symbolkraft zu und nutzten sie als bedeutende persönliche und kollektiv wirkmächtige Ressourcen, um ihre Identität als kontemplativ-aktive Tertiarinnen zu konstituieren und auf der Basis dieser Zeichen ein klares Profil als klösterlich lebende und gesellschaftlich tätige, franziskanische Schwestern zu etablieren. In der Überzeugung, von Gott zu dieser Lebensform berufen worden zu sein, fanden sie Kraft und Mut, energisch und selbstbewusst Machtkämpfe und Konflikte mit den diözesanen und stadtpolitischen Autoritäten zu bewältigen und trotz Schikanen und Suppressionsversuchen letzten Endes, meistens nach jahre- und jahrzehntelangen Verhandlungen, in den Genuss der von ihnen geforderten Privilegien zu gelangen.
Frömmigkeit als Ressource, um psycho-religiöse Krisen zu meistern und inneren Frieden zu finden: der Reifungsweg Maria Huebers am Beispiel der Jesuskind-Mystik
Ein wesentlicher Faktor in diesem Beziehungsnetz Maria Huebers und der Tertiarinnen war neben den adeligen Frauen, welche sie finanziell und ideell unterstützten, und den Franziskanern als geistliche Begleiter eine dritte Autoritätsperson, nämlich das „Gnadenkindlein“, eine von Hueber verehrte und himmlische Gnaden schenkende Jesuskind-Statuette. Dieses Objekt wurde in der Drittordensgemeinschaft in Ehren gehalten und stellte (vor allem für viele Frauen Brixens) einen wichtigen Zufluchtsort dar. Derartige Sujets hatte man seit der Frühen Neuzeit angehenden Ordensfrauen und Bräuten im Rahmen des Initiationsritus geschenkt. Sie wurden in der klösterlichen Zelle altarartig inszeniert und bildeten das Zentrum einer aufwendigen Verehrungskultur, die das Umkleiden, vertrauliche Gespräche, vielfältige Riten und das berühmte „Kindleinwiegen“ umfasste. Die kleine Collage mit ausgewählten Jesuskind-Statuen des 17. und 18. Jahrhunderts aus Tiroler Frauenklöstern im Umkreis Maria Huebers vermittelt einen faszinierenden Einblick in diese kreative und sinnliche Devotionspraxis.
Abb. 7: Jesuskind-Statuen der Brixner Tertiarschwestern, der Innsbrucker Servitinnen und der Brixner Klarissen aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Die Erstveröffentlichung dieser Fotos erfolgte in der Dissertation der Autorin, die 2019 im Aschendorff-Verlag erschienen ist: Rifeser, Frömmigkeitskultur (wie Anm. 1), 560, 562-566, 568, 604, 606, 611-614. (Fotos: Sr. Anna Elisabeth Rifeser).
In der obersten Reihe sehen Sie das entkleidete Gnadenkindlein sowie in der untersten Reihe rechts eine weitere Statue, die von Maria Hueber verehrt wurde. Letztere war ein Geschenk der Innsbrucker Servitinnen zum Zeichen der Dankbarkeit für ihre prophetischen Vorhersagen. Die beiden liegenden Exemplare aus dem frühen 17. Jahrhundert stammen ebenfalls aus dem servitanischen Kloster und zählen zum Besitz der Anna Caterina Gonzaga (*1566, ✝1621), Prinzessin von Mantua und Montferrat, Ehefrau von Erzherzog Ferdinand II. von Österreich und Gründerin der Innsbrucker Servitinnen. Die ersten vier Exemplare in der untersten Reihe gehören dem Brixner Klarissenkloster und stammen aus der Mitte des 18. Jahrhunderts.
Maria Hueber bezeugte in ihren erhaltenen Briefen23 u. a. mystische Erlebnisse mit dem Gnadenkind, wonach es seine beiden Arme um ihren Hals geschlungen und ihr aus Übermut ein blaues Auge verpasst habe. Sie sah sich als Dienstmagd des menschgewordenen Gottes und wollte ihm aus Liebe alle Wünsche erfüllen. Eine bemerkenswerte Episode veranschaulicht, wie diese Jesuskind-Beziehung sie zu menschlicher Reife führte. Die Mystikerin war einmal aufgrund teuflischer Anfechtungen in großer seelischer Not und innerer Verzweiflung und wollte ihren geistlichen Begleiter sprechen. Dieser gab ihr unmissverständlich zu verstehen, dass er momentan keine Zeit für sie habe. Maria Hueber wandte sich daher weinend und völlig aufgelöst zum Objekt und kniete sich vor diesem hin. Das Jesuskind fragte sie dann, was es ihr tun solle. Sie bat darum, den göttlichen Willen zu erkennen und zu vollziehen, woraufhin sie die Worte hörte: So empfange meinen Segen.24 Daraufhin fühlte sie sich an Leib und Seele gesund und wurde fortan nicht mehr von bösen Geistern bedrängt. In dieser Episode empfing sie also weder eine Handlungsanweisung noch eine Offenbarung himmlischer Wahrheiten, sondern den göttlichen Segen, den sie vorher indirekt von ihrem Beichtvater erbeten hatte. Die Heilung ihres psychisch und physisch angeschlagenen Zustands sowie das Gefühl großer innerer Ruhe waren Begleiterscheinungen dieser Gotteserfahrung. Klar ist auch, dass ihre tiefe Beziehung zum Jesuskindlein ihr half, die Enttäuschung über ihren geistlichen Begleiter zu verkraften und zu neuer ganzheitlicher Integrität und Stabilität zu gelangen. Das Gnadenkind war in Maria Huebers Beziehungsgefüge eine feste Bezugsperson, mit der sie über ihre Sorgen und Anliegen sprechen und von der sie Weisung, Trost und Liebe erhalten konnte. Natürlich substituierte Jesus keineswegs ihre menschlichen Beziehungen, sondern ergänzte diese. Insofern war die Verehrung des materiellen Objektes eine Ressource für die Bewältigung ihres Alltags und für die Gestaltung ihres inneren, oftmals mit großem seelischem Schmerz verbundenen Reifungswegs. Ihre Frömmigkeit befähigte sie, psycho-religiöse Krisen zu meistern und inneren Frieden zu finden.
Fazit
In den vorangegangenen Ausführungen wurde nach einer Hinführung zu Maria Hueber als Gründerin der Brixner Tertiarschwestern und als Tiroler Mädchenschulpionierin ihr innovatives kontemplatives Ordensmodell vorgestellt, das auf den Säulen Kloster, Klausur und Kontemplation beruhte. Deutlich sichtbar ist, dass dieses an die traditionellen Werte des Ordenslebens angelehnte Klosterkonzept nicht als Selbstzweck fungierte, sondern eine Ressource sowie einen Stimulus für ihr apostolisches Wirken darstellte. Es bildete sozusagen das Sprungbrett für den Einsatz in der Mädchenschule.
Im Anschluss daran standen die Konflikte mit den diözesanen und stadtpolitischen Autoritäten im Zentrum. Die Tertiarinnen mussten harte Kämpfe ausstehen und ihren kirchenrechtlichen Status erst mit den zuständigen Parteien aushandeln. Am Beispiel der Ordenstracht, der Konstitutionen und der Gelübde lässt sich ablesen, dass ihre Frömmigkeit eine Ressource darstellte, um diese Machtkämpfe zu bestehen. Insbesondere ihre zölibatäre Lebensweise vermittelte ihnen Selbststand und Selbstbewusstsein. Die Quellen bezeugen, dass sich die Schwestern nicht in Rollenbilder drängen ließen und diplomatisch, klug und langfristig erfolgreich agierten, um ihre Interessen durchzusetzen und ihre Ziele zu erreichen.
Zuletzt beschäftigten wir uns mit der Jesuskind-Verehrung. Anhand der Jesuskind-Mystik Maria Huebers versuchte ich aufzuzeigen, dass der spielerische, individuelle und ganz persönliche Umgang mit der Statue der Mystikerin half, große seelische Nöte und Krisen zu meistern und inneren Frieden und echtes Wohlbefinden zu erlangen.
Anhand dieser Ausführungen ist hoffentlich deutlich geworden, wie und warum Frömmigkeit für Maria Hueber und ihre Schwestern eine Ressource darstellte. Es gilt auch heute, in unserer Zeit die Kraft, die in der Spiritualität, in einer tiefen Gottesbeziehung und im Gemeinschaftsleben liegt, zu heben. Selbstverständlich ist es nicht ratsam, dieses Klostermodell aus dem 18. Jahrhundert einfach zu kopieren, aber wir können durchaus Impulse daraus mitnehmen und in unserem persönlichen Leben umsetzen. Denn die Authentizität unseres Ordenslebens heute und in Zukunft wird daran hängen, ob wir imstande sind, das spirituelle Erbe einer Gemeinschaft in der Tiefe zu verstehen und das Potenzial der Frömmigkeit, das Maria Hueber und andere Gründungspersönlichkeiten beseelte, in unserem konkreten Leben und Glauben zu realisieren und von diesem Potenzial zu zehren.
Sr. Anna Elisabeth Rifeser OSF studierte Fachtheologie in Graz und trat im Anschluss daran in die Kongregation der Tertiarschwestern des hl. Franziskus in Brixen ein, wo sie 2018 ihre ewige Profess ablegte. Sie ist promovierte Kirchenhistorikerin und war u. a. als Religionslehrerin am Maria-Hueber-Gymnasium Bozen sowie als Lehrstuhlvertreterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main tätig. Ihr wissenschaftliches Interesse gilt den Frauengemeinschaften und der klösterlichen Spiritualität. In Publikationen und Vorträgen zu Maria Hueber, den Tertiarschwestern und zur Mystik ist sie darum bemüht, historische Frömmigkeitsformen zu plausibilisieren.
Kontakt: sr.anna.elisabeth@tertiarschwestern.it
1 Dieser Vortrag stützt sich auf meine wissenschaftlichen Forschungen und auf meine Dissertation über die Tiroler Tertiarinnen und deren Frömmigkeitskultur, die im Rahmen meines Promotionsstudiums im Fach Kirchengeschichte an der Universität Innsbruck unter der Leitung von Prof. Günther Wassilowsky entstand und im August 2019 im Aschendorff-Verlag publiziert wurde: Anna Elisabeth RIFESER, Die Frömmigkeitskultur der Maria Hueber (1653‒1705) und der Tiroler Tertiarinnen. Institutionelle Prozesse, kommunikative Verflechtungen und spirituelle Praktiken (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 172, Münster 2019). Auf einen vollständigen wissenschaftlichen Apparat wird verzichtet, da sämtliche Literaturnachweise sowie eine genaue Auflistung der Archivsiglen in der obigen Monografie zu finden sind. Für den Druck wurde der Vortragsstil weitgehend beibehalten.
2 Eva CESCUTTI, Mädchenschule und Frauenkongregation: Maria Hueber „revisited“, in: Brigitte MAZOHL‒Ellinor FORSTER (Hg.), Frauenklöster im Alpenraum (Schlern-Schriften 355, Innsbruck 2012) 153–168, hier 154.
3 Lázaro IRIARTE, Der Franziskusorden. Handbuch der franziskanischen Ordensgeschichte (Altötting 1984) 338–362.
4 Filippo BUONANNI, Ordinum Religiosorum in Ecclesia Militanti Catalogus … Bd. III (Rom 1710) Abb. 25 und 27.
5 Archiv der Tertiarschwestern Brixen (im Folgenden: OSF Bx), Gr. Prot, ERP (1738), 162 Nr. 85. Im Folgenden werden die Quellenzitate buchstabengetreu wiedergegeben.
6 OSF Bx, Gr. Prot, ERP (wie Anm. 5), 114 Nr. 6.
7 OSF Bx, GS I, Nr. 1 (1701).
8 OSF Bx, Gr. Prot (wie Anm. 5), 199.
9 Im Original steht tertiariä. Diözesanarchiv Brixen (im Folgenden: DA Bx), DKP Nr. XX, 435 Pkt. 1 (21.06.1707).
10 Anne CONRAD, Ordensfrauen ohne Klausur? Die katholische Frauenbewegung an der Wende zum 17. Jahrhundert, in: Feministische Studien 5,1 (1986) 31–45, hier 35f.
11 Exemplarisch: DA Bx, HRP 66, 163rf (19.02.1707) und 174rf (05.03.1707); DA Bx, DKP Nr. XX (wie Anm. 9), 435 Pkt. 1 (21.06.1707).
12 OSF Bx, GS II, Nr. 10 (09.03.1715).
13 OSF Bx, Gr. Prot (wie Anm. 5), 200‒203.
14 Die Statuten wurden vom Franziskaner P. Johann Evangelist Aichberger (1654–1717) vermutlich zwischen 1708 und 1717 handschriftlich verfasst, aber erst 1724 dem Provinzkapitel vorgelegt, sodass sich 1724 als Datierung eingebürgert hat. OSF Bx, Museum, STAT 1724 Bx (1724).
15 Provinzarchiv der Franziskaner Hall in Tirol (im Folgenden: OFM Hall), 3/40-C-1137 (1724).
16 DA Bx, KPR (1727), 775f Pkt. 2 (04.12.1726).
17 DA Bx, KA, Lade Tertiaren, Vis Nr. 2 (1728) (Aussage von Sr. Maria Franziska Antonia Sellauer).
18 OSF Bx, Museum, STAT 1724 Bx (wie Anm. 14), 20.
19 DA Bx, KA, Lade Tertiaren, Vis Nr. 2 (wie Anm. 17) passim.
20 OSF Bx, Museum, STAT (1708), 22v; STAT 1724 Bx (wie Anm. 14), 20–23.
21 Archiv der Franziskaner Brixen (im Folgenden: OFM Bx), CHR II, 110 (11.02.1727).
22 OFM Bx, CHR II (wie Anm. 21), 120f (01.01.1729).
23 OSF Bx, GS I, Nr. 3: BMH 1–5 (1701–1703).
24 Im Original steht: (S)o Endt Pfange Mein(en) sägen. OSF Bx, GS I, Nr. 3: BMH 2 (wie Anm. 23) (04.12.1701?).