Von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft
Vortrag gehalten am virtuellen Kulturtag im Rahmen der Herbsttagungen der Ordensgemeinschaften Österreich am 25. November 2020.
Abb. 1: Erzabt Korbinian Birnbacher OSB – hier bei der Weihe im Jahr 2013 – steht in der Nachfolge des hl. Rupert als Abt von St. Peter. (Foto: Chris Hofer)
Klöster gehören zu den gegenwärtig notwendigsten Orten der Welt.1
Mit diesem Statement ließ Abt Gregory Polan OSB, der Abtprimas der Benediktiner, kurz nach seiner Wahl 2016 aufhorchen.
Immer mehr Menschen erfahren, wie dringend sie in dieser sich so rasch verändernden Welt einmal einen Schritt zur Seite machen müssen, um ihr Leben in Stille oder auch im Gebet zu überdenken und Gott zu suchen. Die 1.500 Jahre alte Benediktsregel besagt, dass jeder in unseren Klöstern willkommen ist, und dass wir in jedem Menschen letztlich Christus begegnen.
Diese in gleicher Weise einfache wie klare Stellungnahme des obersten Repräsentanten der Benediktiner zeigt sehr gut auf, worum es im klösterlichen Leben geht und weshalb das Kloster als Phänomen ungeteilt auf Interesse stößt. Auch wenn die Klöster selbst immer weniger werden und die Schwestern und Brüder zahlenmäßig stark zurückgehen, ist das öffentliche Interesse an Klöstern offensichtlich umso größer.
Aber da sprechen dann nicht nur die Nonnen und Mönche, sondern auch die Orte selbst! Ob es nun die mittelalterlichen Abteien mit ihren romanischen Kirchen (Conques, Verzelay, Maria Laach) sind, oder etwa die gotischen Kreuzgänge (Zwettl, Maulbronn, Heiligenkreuz), die fast palastartigen, barocken Klosteranlagen (St. Florian, Ottobeuren, Melk) mit ihren Prälaturen, Kaisertrakten, Hofgärten oder Prunkbibliotheken, oder aber auch die riesigen neoromanischen Komplexe (St. Gabriel Mödling) und die neogotischen Generalats- oder Mutterhäuser (Sacré Coeur Riedenburg, Maredsous) der vielen Ordensneugründungen des 19. Jahrhunderts. Und selbst die Klosterbauten der Moderne wie beispielsweise das von Le Corbusier zwischen 1956 und 1960 entworfene Dominikaner-Kloster Sainte Marie de la Tourette bei Lyon oder das seit etwa dem Jahr 2000 von John Pawson projektierte Trappistenkloster Nový Dvůr in Tschechien bei Pilsen, an dem immer noch gebaut wird, ziehen uns auf eine magische Weise an. Gleichgültig in welcher stilistischen Epoche Klöster ihren architektonischen Ausdruck gefunden haben: Sie sind ausnahmslos qualitätsvoll und schön … und deshalb haben sie auch die Zeiten überlebt und werden auch weiterhin als eminente Kulturgüter die Zeiten überdauern.
Meine Rolle als Ordensoberer wirkt sich auf die Gestaltung des folgenden Beitrags, der in drei Zeitabschnitte gegliedert ist, aus.
1. Vergangenheit
Warum werden Klöster eigentlich immer mit der Vergangenheit konnotiert? Warum wissen wir über die Geschichte der Klöster mehr als über ihre Gegenwart? Ich denke, hier müssen wir etwas tiefer gehen. Klosterbauten drücken etwas aus, was uns zunächst noch nicht bewusst ist. Ich glaube – rein phänomenologisch – ist es die Sehnsucht nach einer idealen Welt, einem Idyll, das etwas von der verlorenen Welt, von der guten alten Zeit – ja weiter noch! – aus der Urzeit, dem Zauber des Beginnens, wiedergibt. Die alten Klosteranlagen, die oft noch Jahrhunderte nach ihrer Zerstörung oder Säkularisierung eine Ausstrahlung haben, die etwas von diesem Geist der Stille, der Ordnung, der Konzentration, der Geistigkeit, des sozialen Engagements aber auch des Widerstandes gegen eine übermächtige Staatsgewalt, oder der Würde und Pracht vermitteln. Es ist nicht nur das Gebäude an sich, wenn man so will, das fasziniert. Auch das Hineinsetzen eines solchen Gebäudes in die Natur, die wilden oder die gepflegten Gärten, die Landschaft um das Kloster herum vermitteln eine solche Atmosphäre, die unverwechselbar ist, die nicht nur als Erholungsort aufgesucht wird, sondern auch als Begegnungsort mit der Transzendenz – wenngleich vielleicht noch nicht unbedingt als spiritueller Tatort! Damit werden alte, oft von Nonnen und Mönchen längst verlassene Klöster – also die Bauten selbst! - zur willkommenen Präsentationsfolie einer herbeigesehnten Gegenwelt. Und selbst aufgelassene Klosteranlagen überleben, sie werden oft als Bildungs- und Exerzitienhäuser, als Kultureinrichtungen oder regionale Kulturzentren umfunktioniert und leben damit weiter, geben dem Ganzen eine neue Deutung und atmen dadurch – ob sie es nun wollen oder nicht! – diesen klösterlichen Geist. Man spürt oft noch Jahrhunderte später, dass das Mauerwerk durchbetet und mit spiritueller Energie aufgeladen ist … und diese immer noch abgibt.
Die Vergangenheit, so können wir sagen, hat viele Klöster hervorgebracht. Es war im Mittelalter durchaus üblich, Klöster zu stiften. Oft als Grablegen einer Adelsfamilie oder auch als stellvertretende Sühnestätten für so manchen Fehltritt einflussreicher Persönlichkeiten – Kaiser, Könige, Grafen, Ritter, etc. – die damit ein Stück ihrer Schuld wiedergutmachen wollten. Mit den Klöstern waren aber auch immer Schulen und Ausbildungsstätten, künstlerische Werkstätten verbunden. Damit wurden die Klöster oft auch zu Leitbetrieben in der Region und Innovationsmotoren einer oft maßgeblichen Entwicklung, ob in der Landwirtschaft, im Bergbau, in der Salzgewinnung, im Weinbau, in der Forstwirtschaft oder etwa der Bautechnik.
Dies alles steht schon für sehr viel … aber es macht immer noch nicht allein das Faszinosum der Klosterwelt aus! Ich denke, dass Klöster auch einfach als Sehnsuchtsorte herhalten müssen für eine bessere – und wir verbinden damit leider oft eine alte oder gar veraltete! – Zeit. Natürlich weiß die Geschichtswissenschaft heute sehr gut, dass die Vergangenheit nicht wirklich besser war, als sie heute dafürgehalten wird. Aber es lebe die pia fraus, der fromme Betrug, der sich gerne selbst etwas vormachen will.
Für uns Ordensleute gilt jedenfalls, dass die meisten Klöster aus der Vergangenheit kommen, eine lange Tradition aufweisen und dieses Gestern in die Gegenwart und ins Morgen führen wollen. Das ist für die gegenwärtigen Generationen von Schwestern und Brüdern in der Tat eine große Herausforderung. Denn es geht ja nicht primär um das Konservieren des Vergangenen, sondern um die Aktualisierung in der Gegenwart und die Motivation für die Zukunft. Wir beten ja bekanntermaßen nicht die Asche der Vergangenheit an, sondern wir versuchen die Hüter der Glut zu sein und das Feuer neu für die Zukunft zu entfachen. Und ich kann mich dabei nur des in einem anderen Zusammenhang stehenden Jesus-Wortes bedienen, das da heißt: Wie froh wäre ich, es würde schon brennen.2 Feuer und Flamme sein, vom Geist entzündet sein, wach und wirksam zu sein, ist der Auftrag der Nonnen und Mönche. Sie sind geistbegabte Menschen, sind Träger der Verheißung, sind eher prophetische Menschen als trockene Verwalter, Propheten, die einen Aνγελικοσ βιοσ (= angelikos bios), ein engelsgleiches Leben führen sollen. Sie sind also der Schwere des Alltags enthobene Menschen! Nonnen und Mönche sollten nicht durch die Banalität des irdischen Lebens behaftet sein, sondern gleichsam als unbeschwerte Existenz freischweben dürfen. Sie leben auf ein Ziel hin, das Es-chaton, auf die Vollendung der Schöpfung und den Anbruch einer neuen Welt! Das meint letztlich nichts anderes als eine Art Entweltlichung, ein Aus-der-Zeit-gefallen-sein.
Von daher ist es sehr verwunderlich, dass sich monastisch-spirituelles Leben überhaupt in zeitlichen Dingen ausdrückt. Der evangelische Rat der Armut, der sich in der klösterlichen Armut manifestiert, ist ja an sich bedürfnislos. Die Nonne, der Mönch, sie sind grundsätzlich frei für Gott verfügbar und sie sollten sich doch gar nicht durch imposante Klosterbauten ein irdisches Denkmal setzen. Faktisch sind aber die großen Barockprälaten und die kraftvoll aktiven Generaloberinnen des 19. und 20. Jahrhunderts sehr wohl durch ihre Bauten in Erinnerung geblieben.
Ich meine darüber hinaus aber auch, dass die alten Klosteranlagen deshalb so ansprechend sind, weil sie trotz aller Machtdemonstration, trotz aller architektonischen Grandezza, die für die Tatkraft und das Andenken an die Persönlichkeit und Repräsentanz etwa eines Fürstabtes oder Großpriors sprechen, dennoch offen sind für die Transzendenz, offen für das Einfallslicht Gottes in unsere Welt.
Aber vielleicht ist es doch das zölibatäre, arme und gehorsame Klosterleben, das sich nach irdischen Ausdrucksmitteln sehnt. Ich höre geradezu Oberinnen und Obere, Äbtissinnen und Äbte, Priorinnen und Prioren, Zellerarinnen und Zellerare in einem inneren Monolog sagen: Wenn wir schon nicht unsere Gene weitergeben können, dann soll doch etwas Bauliches von mir erhalten bleiben. Viele gegenwärtige Äbte und Pröpste mögen insgeheim ihre barocken Bauprälaten als Vorgänger verfluchen, denn an der heutigen Generation liegt es, diese Kulturgüter erhalten zu müssen und das kostbare Erbe lebendig zu pflegen. Das ist unser eigentliches Thema heute: Erbe und Auftrag!
Das war jetzt die Vergangenheit. Wenden wir uns nun der Gegenwart zu.
2. Gegenwart
Wenn ich die Gegenwart betrachte, dann geht es mir natürlich nicht nur um das materielle, sondern vor allem auch um das spirituelle Erbe. Wie kann ich dem, was konserviert und erstarrt ist, wieder Bewegung und Leben einhauchen? Wie kann ich aus diesen Quellen tatsächlich leben? Hier in diesem Forum ist es ja leider nicht möglich, einfache Rezepte anzubieten. Das wäre unseriös, denn die gibt es nicht! Der Lebensraum Kloster ist ein komplexes und sensibles Gefüge. Klöster kann man, nachdem sie einmal von einer Blüte in die Depression oder gar in einen Niedergang gefallen sind, nicht einfach nach einem allgemein gültigen Sanierungskonzept wieder auf Vordermann oder Vorderfrau bringen. Gerade Klöster, die mit einem massiven Nachwuchsmangel zu kämpfen haben, tun sich schwer, eine verlässliche Strategie zur Förderung des Nachwuchses zu finden. Für mich ist nur eines klar: Gegenwart heißt Bewegung und Leben! Starrheit, Unbeweglichkeit hingegen bedeutet Tod! Wir müssen uns also, wenn wir von der klösterlichen Gegenwart sprechen, auf die Dynamiken des Lebens einlassen.
2.1. Vorläufigkeit
Es ist nicht nur für Nonnen und Mönche, sondern für jeden Menschen eine Herausforderung, in der Gegenwart zu leben. Gegenwärtig zu sein meint, dass ich nicht einfach etwas auf mich zukommen lasse, sondern, dass ich mit dem Blick in die Zukunft, das, was mir da aus der Zukunft entgegenkommt, durch meine Entscheidung festlege. Wenn ich eine Entscheidung treffe, dann gestalte ich etwas, dann bin ich nicht mehr nur ausgeliefert, sondern dann kann ich etwas in meinem Sinne beeinflussen.
Sehr treffend betet der Priester in der Messe immer im Embolismus, also der Einschaltung nach den Vater-unser-Bitten und der Doxologie, dem Lobpreis: Komm uns zu Hilfe mit deinem Erbarmen und bewahre uns vor Verwirrung und Sünde, damit wir voll Zuversicht das Kommen unseres Erlösers Jesus Christus erwarten. Dann antwortet die Gemeinde: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. In einer Welt der Überfülle und der Verwirrung sehnen wir uns alle – ob wir nun Ordensleute sind oder nicht – nach Schlichtheit, Echtheit, Orientierung und Wahrheit. Verwirrung und Sünde stören also eine klösterliche Berufung. Und dann wird noch angefügt, dass die Zukunft nicht dem Menschen gehört, sondern Gottes ist. IHM, Gott, gehört das Reich, die Kraft und die Zukunft. Implizit wird damit ausgedrückt, dass Nonnen und Mönche sich hier auf Erden nicht so komfortabel einrichten sollen, da ihre Heimat nicht hier sondern eigentlich im Himmel ist, wie ich mit einer berühmten Stelle aus dem Philipperbrief formulieren könnte: Unsere Heimat ist im Himmel.3 Es bleibt also die eschatologische Erwartung dessen, was da kommen soll.
Dieser Gedanke ist besonders in der liturgischen Zeit, in der wir uns gerade am Ende des Kirchenjahres befinden, naheliegend: Seid wachsam und haltet euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet.4Ordensleute sind also wachsame Menschen, die sich nicht bequem einrichten, die nicht faul auf der Haut liegen sollen, sondern die immer in Erwartung sind und auf Abruf stehen. Wir haben hier keine bleibende Stätte wie es im Hebräerbrief heißt.5 Dieses Wort wurde auch in die Begräbnisliturgie aufgenommen und meint, dass wir von der Welt eben nicht nur Abstand halten, sondern auch Abschied nehmen müssen.
Ordensleute bringen letztlich durch ihren Lebensentwurf zum Ausdruck, dass der Mensch vor Gott nur vorläufig auf Erden ist, aber immer vor Gott sein darf. Ich finde, dass die klösterliche Architektur, ob im Sakral- oder im Profanbau, immer sehr viel mit Licht arbeitet, ob im Mittelalter in den Stilen der Romanik oder Gotik, ob in der Neuzeit in den Stilen der Renaissance, des Barock oder Rokoko, oder eben in den modernen Lichtkompositionen eines Charles-Édouard Jeanneret-Gris, der sich in Wirklichkeit hinter dem berühmten Pseudonym Le Corbusier versteckt; oder eben eines John Pawson, der Architektur, Kunst, Spiritualität und Licht zu einer Einheit zu verbinden versteht. Gute Architektur baut mit Licht, baut eben nichts Definitives, sondern stets nur etwas Vorläufiges, verweist auf Größeres. Wir Ordensleute sind damit offene Existenzen, offen für die Wiederkunft Christi. Dass das nicht immer so ist, ist leider auch offensichtlich. Schon der Psalmist schreibt spöttisch: bis ich dann eintrat ins Heiligtum, und begriff wie sie enden.6
2.2. Wahrhaftigkeit
Etwas was unsere Zeit – nicht erst seit Donald Trump – ziemlich stark charakterisiert, sind die Fake News. Falsche Nachrichten werden vor allem dazu gebraucht, um sich im Wirrwarr der Meinungen und Positionen, in der Komplexität der Ansätze und Lebensentwürfe durchzusetzen. Fake News werden ja nicht als falsch gekennzeichnet, sondern tatsächlich als alternative Fakten für wahr gehalten. Der heutige Mensch sehnt sich nach Wahrhaftigkeit, Authentizität, Glaubwürdigkeit. Klöster sind unter anderem auch deshalb notwendige Orte, weil sie für die Wahrhaftigkeit des Lebens stehen. Wenn wir aber als Ordensleute glauben, der Welt etwas vormachen zu müssen oder gar zu können, dann haben wir schon verloren.
Leider hat das die Kirche im Ganzen noch nicht wirklich begriffen. Viel zu oft meint man das kirchliche Leben als besser darstellen zu müssen. Sünde und Schuld hat die Kirche allzu oft nur bei den anderen – der bösen, bösen Welt! – gesehen, aber nicht bei sich selbst. Die ganze Missbrauchsthematik, die ja großteils auch die Klöster betrifft, ist genau der Ausdruck mangelnder Wahrhaftigkeit. Die Fassade, der Ruf der Kirche oder des Klosters war wichtiger, als einem Opfer zu glauben und konkret zu helfen. Das ist eine schwere Wunde im Gesicht der Kirche, die leider nicht zu überschminkende Narben hinterlässt. Heutige Menschen lassen sich nicht mehr so leicht etwas vormachen. Gerade junge Menschen merken es sofort, ob man sie ehrlich auf- und annimmt, oder ob sie doch nur wieder instrumentalisiert werden. Wenn wir glaubhaft wahrgenommen werden wollen, dann müssen wir selber radikal ehrlich sein. Ich kann mich leider nicht des Eindrucks erwehren, dass das über weite Strecken noch nicht der Fall ist. Zu sehr herrscht die Haltung vor: Was nicht sein darf, ist nicht … das halte ich für einen fatalen Irrtum. Wir müssen lernen, unsere Falschheiten abzulegen, um als wahrhaftige Menschen zu leben.
2.3. Beweglichkeit
Ich habe in der letzten Zeit in Gemeinschaften ziemlich oft wahrgenommen, dass zwar junge Berufungen gekommen sind, aber dass sie leider nicht geblieben sind. Warum ist der heutige Mensch ganz allgemein nicht mehr so bindungsfähig, warum scheitert er an der Beständigkeit? Ich glaube, dass oft auch eine mangelnde Beweglichkeit der Grund ist, weshalb etwas nicht weitergeht. Junge, ungestüme Menschen prallen da auf Mauern der Starrheit. Dabei ist es von der anderen Seite ja durchaus gut gemeint, konsequent zu bleiben, die bewährten Pfade nicht zu verlassen. Aber es muss eben zu einer dynamischen Treue kommen. Das Wesentliche, der Kern des Evangeliums muss erkennbar bleiben, die Botschaft der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens. Die Sprache, der Stil und die Kommunikationsmittel hingegen haben sich immer wieder einmal geändert. Das ist nichts Neues. Aber auch die Generationen haben sich immer geändert. Wenn zu viele ältere Schwestern oder Brüder das Sagen haben, und die junge Generation nicht mehr eine reelle Chance bekommt, zu gestalten, dann ist ein Kloster zum Untergang verurteilt. Ich bin überzeugt davon, dass die Weiterentwicklung und der Aufschwung einer Gemeinschaft nur dann gelingen kann, wenn die ältere Generation nicht starr an der Tradition festhält, sondern auch lernt, loszulassen … und auch das Vertrauen in die junge Generation hat, dass sie es zwar anders, aber ebenso richtig machen wird. Unserer jungen klösterlichen Generation steht oft eine vorherrschende Haltung wie im Buch Daniel gegenüber: Es soll nach dem unwandelbaren Gesetz der Meder und Perser unabänderlich sein.7 Das Kloster sollte eben nicht unwandelbar und unabänderlich sein – obwohl heute viele Menschen Gegenteiliges denken!
Ich glaube auch, dass das nicht hilfreich ist, Berufungen nach einer Art Designer-Plan rekrutieren zu wollen. Es mag allenfalls gelingen, dadurch Menschen anzusprechen, die nach ihrer Berufung suchen, oftmals auch um eine solche ringen. Aber das Entscheidende ist natürlich das Bleiben, die Stabilität, die Vertiefung und das Wach- und Lebendighalten einer Berufung. Das wiederum ist nicht so einfach, denn es erfordert nicht weniger als eine Orthopraxie, ein richtiges und gutes Vorbild. Seien wir ehrlich: Gerade daran fehlt es eben auch!
Fatal wäre es umgekehrt aber auch zu meinen, dass man vielleicht selbst ein schlechtes Beispiel gibt, dass man selbst zu schwach ist, und dass deshalb keine Berufungen kommen und keine bleiben. Doch halt! Hier wäre ich sehr vorsichtig. Ich weiß von genügend Gemeinschaften, die haben tolle, lebendige, glaubwürdige Oberinnen und Obere, Schwestern und Brüder, die ihre Sache bestens machen, und dennoch klappt es mit dem Nachwuchs nicht. Wir sollten dabei immer bedenken, dass wir Berufungen eben nicht machen können, dass wir sie auch nicht herbeizaubern, sondern allenfalls fördern können. Ich denke hier ist auch zu beachten, dass wir beim leisesten Signal und Anzeichen um einen gangbaren Weg ringen: Hier sucht ein Mensch seinen Weg, vielleicht sogar in meinem Kloster! Seien wir da mutige und trittsichere Wegbegleiter!
2.4. Zeitgeist und Tradition
Die Tradition in ihren vielen Facetten ist letztlich ein langer, breiter und ruhig fließender Strom. Die Vergangenheit, die Bau- und Kulturdenkmäler, die uns Ordensleuten oft anvertraut sind: All das kann einer Berufung förderlich und hilfreich sein! Es kann aber auch umgekehrt ein massiver Hinderungsgrund sein, weshalb sich eine heranwachsende Berufung dann doch nicht festigen kann. Ich erinnere an den inspirierenden Vortrag von P. Martin Werlen OSB, dem früheren Abt von Einsiedeln und heutigen Propst von St. Gerold, beim Ordenstag am 24. November 2015 im Kardinal-König-Haus. Er sprach damals unter anderem vom Verhältnis der Tradition zu den Traditionen: viele verwechseln Traditionen mit Tradition. Wir haben viele Traditionen, die durch den Zeitgeist aufgenommen und zur Tradition geworden sind. Das sind Nebensächlichkeiten, die wichtig geworden sind. Doch diese Traditionen blockieren uns! … Die Ordensgemeinschaften haben Zukunft – wenn sie sich auf ihre Tradition rückbesinnen. Wobei hier ihre ureigentlichste Bedeutung gemeint sei: die Treue zu Jesus Christus durch den wechselhaften Lauf der Geschichte und die Treue zum jeweiligen Ordens-Charisma. … Wenn durch den Zeitgeist entstandene Traditionen der Tradition und der Weitergabe unseres Glaubens im Wege stehen, dann müssen wir sie loslassen … Der Zeitgeist an sich ist nichts Negatives; wer ihn nicht kennt, kann auch nicht das Evangelium verkünden. Man muss das Heute ungeschminkt in den Blick nehmen.8
Genau das ist es, liebe Schwestern, liebe Brüder, wir müssen das Heute ungeschminkt in den Blick nehmen! Und da haben heutige, suchende Menschen – ich sage nicht, dass sie alle jung sein müssen! – ein untrügliches Sensorium für Authentizität und Aufrichtigkeit. Sie sind heute derart mit alternativen Fakten, mit Fake News, mit Situationselastik (copyright: Gerald Klug), ja mit offenen Lügen konfrontiert, dass sie oft schlicht und ergreifend das Vertrauen verloren haben.
An diesem Glaubwürdigkeitsverlust haben wir Ordensleute leider meist auch selbst erheblichen Anteil. Wie oft wurde das Unangenehme, das Dunkle, das Schattenhafte einfach aus der klösterlichen Realität ausgeblendet! Dagegen hat man oft ein Ideal inszeniert, bei Visitationen oder Bischofsbesuchen eine Art Truppenschau inszeniert, die so gar nicht der Wirklichkeit entsprach. Man hat zwar eine glanzvolle Fassade präsentiert, aber leider nicht die Wirklichkeit.
Abb. 2-3: Blicke in das Langhaus der 2018–2019 unter Erzabt Korbinian Birnbacher OSB renovierten Stiftskirche St. Peter. (Fotos: Friedrich Nill)
3. Zukunft
So möchte ich jetzt die Gegenwartsanalyse verlassen und zu den Herausforderungen der Zukunft kommen. Ich verhehle nicht, dass ich Benediktiner bin und auch aus dieser Perspektive heraus einige Anregungen für die Zukunftsfähigkeit der Orden, ihrer Mitglieder und ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ableite.
3.1. Mut zu den Jungen und dem Neuen
Mein Ordensvater, der hl. Benedikt, hat in seiner Regel im 3. Kapitel über die Einberufung der Brüder zum Rat wichtige Elemente festgehalten, die ich für wesentlich halte. Diese Elemente begleiten den Übergang, den Transformationsprozess von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft meines Erachtens sehr hilfreich:
Sooft etwas Wichtiges im Kloster zu behandeln ist, soll der Abt die ganze Gemeinschaft zusammenrufen und selbst darlegen, worum es geht. Er soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zu Rate gehen. Was er für zuträglicher hält, das tue er. Dass aber alle zur Beratung zu rufen seien, haben wir deshalb gesagt, weil der Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist. Die Brüder sollen jedoch in aller Demut und Unterordnung ihren Rat geben. Sie sollen nicht anmaßend und hartnäckig ihre eigenen Ansichten verteidigen. Vielmehr liegt die Entscheidung im Ermessen des Abtes: Was er für heilsamer hält, darin sollen ihm alle gehorchen. Wie es jedoch den Jüngern zukommt, dem Meister zu gehorchen, muss er seinerseits alles vorausschauend und gerecht ordnen. Alle sollen in allem der Regel als Lehrmeisterin folgen, und niemand darf leichtfertig von ihrer Weisung abweichen … Der Abt muss allerdings seine Anordnungen immer in Gottesfurcht treffen und sich dabei an die Regel halten. Er muss wissen, dass er sich ohne Zweifel für all seine Entscheidungen vor Gott, dem gerechten Richter, zu verantworten hat. Wenn weniger wichtige Angelegenheiten des Klosters zu behandeln sind, soll er nur die Älteren um Rat fragen, lesen wir doch in der Schrift: „Tu alles mit Rat, dann brauchst du nach der Tat nichts zu bereuen.“ 9
Wir sehen an diesem Beispiel ganz klar, dass es hier um einen umfassenden Verantwortungskomplex geht. Es sollen nicht nur die jüngeren – also vielleicht die, die dem Zeitgeist, oder dem Heute näher sind! – gefragt sein, sondern die Gemeinschaft als Ganzes und der Abt sollen sich ihrer jeweiligen Verantwortung bewusst sein. Ich glaube schon, dass sich heute viele Obere hinter ihrer Verantwortung verstecken. Sie gehen den Weg des geringeren Widerstandes und meinen dabei sogar barmherzig zu sein. Junge Ordensleute sind aber durchaus bereit, steile Herausforderungen anzunehmen und sie haben auch ein untrügliches Gespür dafür, wenn da etwas nicht stimmt. Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass schwierige Entscheidungen, auch wenn sie mühsam zustande kommen, immer dann von meinen Brüdern anerkannt werden, wenn sie das Gefühl haben, auch ich persönlich, ich selbst, stehe voll und ganz hinter dieser Entscheidung, obwohl sie tatsächlich das Ergebnis gemeinsamen Ringens ist. Alles andere nimmt man mir nicht ab. Also Mut zu den Jüngeren, dem Neuen, den neuen Ideen.
Benedikt nimmt auch noch an einer anderen Stelle Bezug auf Erneuerung und Entwicklung. Im Kapitel 61 über die Aufnahme fremder Mönche sagt er:
Es kann sein, dass ein fremder Mönch von weither kommt und als Gast im Kloster bleiben möchte. Wenn er mit der Lebensweise, die er dort antrifft, zufrieden ist und nicht etwa durch übertriebene Ansprüche Verwirrung ins Kloster bringt, sondern sich ohne Umstände mit dem was er vorfindet, begnügt, nehme man ihn auf, und er bleibe, solange er will.
Sollte er in Demut und Liebe eine begründete Kritik äußern oder auf etwas aufmerksam machen, so erwäge der Abt klug, ob ihn der Herr nicht vielleicht gerade deshalb geschickt hat. Will er sich aber zur Beständigkeit verpflichten, weise man einen solchen Wunsch nicht zurück; man konnte ja seine Lebensführung kennenlernen, solange er Gast war.
Erweist er sich aber in der Zeit seines Aufenthaltes als anspruchsvoll und mit vielen Fehlern behaftet, muss man ihm nicht nur die Aufnahme in die klösterliche Gemeinschaft verweigern, sondern man sage ihm zudem höflich, er solle gehen, damit nicht durch seinen beklagenswerten Zustand auch noch andere verdorben werden.
Verdient er es jedoch nicht, weggeschickt zu werden, nehme man ihn nicht erst auf seine eigene Bitte hin als Glied der Gemeinschaft auf, sondern lege ihm das Bleiben sogar nahe, damit andere von seinem Beispiel lernen. Wir dienen doch überall dem einen Herrn und kämpfen für den einen König. Hat der Abt einen solchen Mönch als vorbildlich erkannt, darf er ihm einen etwas höheren Platz zuweisen.10
Natürlich kennt niemand von uns die Zukunft. Und das wäre auch nicht christlich, wenn ich mich hier jetzt als eine Art Wahrsager betätigen wollte. Abgesehen davon, dass ich das gar nicht kann, wäre es auch wirklich nicht das, was wir als zukunftsfähig bezeichnen. Zukunftstauglich meint im heutigen Jargon enkel-fit, also dass es nicht nur für die nächste, sondern auch für die übernächste Generation Gültigkeit haben soll … und die Entwicklung dieser übernächsten Generation vor allem nicht behindern soll! Das heißt aber auch, dass uns lediglich das Rüstzeug dazu geliefert wird, nicht aber die Zukunft selbst. Mit einem solchen Rüstzeug ausgestattet, kann ich dennoch die Zukunft nicht machen, sondern allenfalls gestaltend begleiten. Immerhin!
Es geht natürlich um Mut und Konsequenz, einerseits der Tradition treu zu bleiben und doch andererseits die Zeichen der Zeit zu erkennen … und eben auch zu handeln! Der heilige Benedikt hat da immer eine gewisse Offenheit für die Zukunft zugelassen. Das heißt für uns konkret, dass wir auch sogenannte heilige Kühe schlachten dürfen. Wir müssen nicht immer alles so tun, wie es die Alten getan haben. Das ist im klassischen Generationenkonflikt zugrunde gelegt: Die eine Generation macht es so, die nächste anders.
Die Anpassungsfähigkeit zeigt sich bei Benedikt sogar in der Liturgie, einem klassischen Kampffeld von Gemeinschaften. In Kapitel 18 seiner Regel heißt es: Wir machen ausdrücklich auf folgendes aufmerksam: Wenn jemand mit dieser Psalmenordnung nicht einverstanden ist, stelle er eine andere auf, die er für besser hält. Doch achte er unter allen Umständen darauf, dass jede Woche der ganze Psalter mit den 150 Psalmen gesungen und zu den Vigilien am Sonntag stets von vorn begonnen wird. Denn Mönche, die im Verlauf einer Woche weniger singen als den ganzen Psalter mit den üblichen Cantica, sind zu träge im Dienst, den sie gelobt haben. Lesen wir doch, dass unsere heiligen Väter in ihrem Eifer an einem einzigen Tag vollbracht haben, was wir in unserer Lauheit wenigstens in einer ganzen Woche leisten wollen.11 Na bitte, es geht ja … seit 1.500 Jahren!
3.2. Vor dem Angesicht Gottes
Ich komme hier nochmals auf Benedikt zurück. In seiner Regel gibt er ja sehr viele ganz konkrete Vorschläge, etwa wie man etwa beim Chorgebet die Psalmen verteilt. Er bleibt dabei aber nie beim Strukturellen oder Organisatorischen stehen, sondern blickt auf das Wesentliche. Nachdem er im vorausgehenden Kapitel die Psalmen genau verteilt hat, kommt er im 19. Kapitel noch auf die innere Haltung beim Gottesdienst zu sprechen, die etwas anderes ist als der äußere Vollzug. Es heißt dort:
Überall ist Gott gegenwärtig, so glauben wir, und die Augen des Herrn schauen an jedem Ort auf Gute und Böse. Das wollen wir ohne Zweifel ganz besonders dann glauben, wenn wir Gottesdienst feiern. Denken wir daher immer an die Worte des Propheten: „Dient dem Herrn in Furcht.“ „Singt die Psalmen in Weisheit.“ „Vor dem Angesicht der Engel will ich dir Psalmen singen.“ Beachten wir also, wie wir vor dem Angesicht Gottes und seiner Engel sein müssen, und stehen wir so beim Psalmensingen, dass Herz und Stimme in Einklang sind.12
Was wir also tun, sollen wir in Ehrfurcht vor Gott und in menschlicher Weisheit vor dem Angesicht Gottes tun. Es kommt auf die innere Haltung an. Deshalb heißt es weiter in Kapitel 20:
Wir sollen wissen, dass wir nicht erhört werden, wenn wir viele Worte machen, sondern wenn wir in Lauterkeit des Herzens und mit Tränen der Reue beten. Deshalb sei das Gebet kurz und lauter; nur wenn die göttliche Gnade uns erfasst und bewegt, soll es länger dauern. In der Gemeinschaft jedoch sei das Gebet auf jeden Fall kurz, und auf das Zeichen des Oberen hin sollen sich alle gemeinsam erheben.13
Ich finde aber auch großartig, dass Benedikt mit den Schwachen und den Schwächen rechnet, seine Regel ist anpassungsfähig, wirklich situationselastisch und vertritt das rechte Maß. Deshalb heißt es im Kapitel 68 bei der Überforderung durch einen Auftrag:
Wenn einem Bruder etwas aufgetragen wird, das ihm zu schwer oder unmöglich ist, nehme er zunächst den erteilten Befehl an, in aller Gelassenheit und im Gehorsam. Wenn er aber sieht, dass die Schwere der Last das Maß seiner Kräfte völlig übersteigt, lege er dem Oberen dar, warum er den Auftrag nicht ausführen kann, und zwar geduldig und angemessen, ohne Stolz, ohne Widerstand, ohne Widerrede. Wenn er seine Bedenken geäußert hat, der Obere aber bei seiner Ansicht bleibt und auf seinem Befehl besteht, sei der Bruder überzeugt, dass es so für ihn gut ist; und im Vertrauen auf Gottes Hilfe gehorche er aus Liebe.14
3.3. Gegenseitiger Gehorsam und guter Eifer
Eine verlässliche Überlegung, die Zukunft sicher zu gestalten, findet sich im 71. Kapitel der Regel Benedikts. Dort spricht er über den gegenseitigen Gehorsam:
Das Gut des Gehorsams sollen alle nicht nur dem Abt erweisen. Die Brüder müssen ebenso einander gehorchen; sie wissen doch, dass sie auf diesem Weg des Gehorsams zu Gott gelangen.15
Und im vorletzten, 72. Kapitel seiner Regel spricht Benedikt über den guten Eifer:
Wie es einen bitteren und bösen Eifer gibt, der von Gott trennt und zur Hölle führt, so gibt es den guten Eifer, der von den Sünden trennt, zu Gott und zum ewigen Leben führt. Diesen Eifer sollen also die Mönche mit glühender Liebe in die Tat umsetzen, das bedeutet: Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen; ihre körperlichen und charakterlichen Schwächen sollen sie mit unerschöpflicher Geduld ertragen; im gegenseitigen Gehorsam sollen sie miteinander wetteifern; keiner achte auf das eigene Wohl, sondern mehr auf das des anderen; die Bruderliebe sollen sie einander selbstlos erweisen; in Liebe sollen sie Gott fürchten; ihrem Abt seien sie in aufrichtiger und demütiger Liebe zugetan. Christus sollen sie überhaupt nichts vorziehen. Er führe uns gemeinsam zum ewigen Leben.16
Gerade im letzten Satz liegt das Erfolgsgeheimnis einer guten Zukunft zugrunde: Christus ist nichts vorzuziehen, ER führe uns GEMEINSAM zum ewigen Leben. Klösterliches Leben ist eben nur gemeinsam möglich, ist nichts für Egoisten oder Ich-linge.
Und dann ist da noch ein weiteres Argument für Zukunftsfähigkeit: Das Kloster ist nie Mittel zum Zweck und auch nicht das Ziel selbst, sondern nur der Anfang eines Weges.
3.4. Am Anfang eines Weges
Im letzten, 73. Kapitel seiner Regel schreibt Benedikt: Diese Regel haben wir geschrieben, damit wir durch ihre Beobachtung in unseren Klöstern eine dem Mönchtum einigermaßen entsprechende Lebensweise oder doch einen Anfang im klösterlichen Leben bekunden. Für den aber, der zur Vollkommenheit des klösterlichen Lebens eilt, gibt es die Lehren der heiligen Väter, deren Beobachtung den Menschen zur Höhe der Vollkommenheit führen kann. Ist denn nicht jede Seite oder jedes von Gott beglaubigte Wort des Alten und Neuen Testamentes eine verlässliche Wegweisung für das menschliche Leben? Oder welches Buch der heiligen katholischen Väter redet nicht laut von dem geraden Weg, auf dem wir zu unserem Schöpfer gelangen? Aber auch die Unterredungen der Väter, ihre Einrichtungen und Lebensbeschreibungen sowie die Regel unseres heiligen Vaters Basilius, sind sie nicht für Mönche, die recht leben und gehorsam sind, Anleitungen zur Tugend? Wir aber sind träge, leben schlecht, sind nachlässig und müssen deshalb vor Scham erröten. Wenn du also zum himmlischen Vaterland eilst, wer immer du bist, nimm diese einfache Regel als Anfang und erfülle sie mit der Hilfe Christi. Dann wirst du schließlich unter dem Schutz Gottes zu den oben erwähnten Höhen der Lehre und der Tugend gelangen.17
Benedikt nimmt also keinesfalls an, dass seine (Lebens-)Regel für Mönche ein endgültiger, großer Wurf sei, sondern lediglich ein kleiner Anfang. Wenn wir an Erneuerung in Kirche und Kloster herangehen, dann glauben wir ja immer, das sei jetzt der Weisheit letzter Schluss, das sei jetzt die beste Reform, die es jemals gegeben hat. Alles andere verblasst daneben und sei zu vergessen! Nein, Benedikt tickt anders: Am Ende seiner wirklich großen monastischen Regel setzt er eine bewusste Geste der Demut. Die Haltung, mit der wir an Erneuerung in Kirche und Kloster herangehen sollten, verbirgt sich in dem scheinbaren Paradox vom demütigem Selbstbewusstsein (Joachim Wanke). Ein großartiges Wort für eine großartige Sache!
Zusammenfassend ist zu sagen: Das Ordensleben ist mitnichten passé oder out. Es mag zwar die große Zeit der Orden vorbei sein. Aber in allen Kulturkreisen gibt es so etwas wie Klöster: Orte der Stille, des Friedens und der Begegnung mit Gott. Auch herrscht gerade in unserer Zeit ein großer Wunsch nach geistlicher Orientierung.
Um die Zukunft bewältigen zu können, müssen wir Ordensleute, – aber nicht nur sie, sondern auch unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ja auch oft sehr viel vom jeweiligen Ordenscharisma in der Welt mittragen! – vieles sein: Standhaft und beweglich, treu und dynamisch, feststehend und wandelbar, beharrlich und anpassungsfähig, demütig und selbstbewusst. Vor allem aber müssen wir offen sein für eine Zukunft, die so ganz anders ist als alles Gewohnte. Das Leben der Nonnen und Mönche hat dann, wenn wir uns einlassen auf unsere Gegenwart – ohne uns bedingungslos der Welt und Zeit anzupassen – eine gute Zukunft. Dann sind wir auch weiterhin Prophetinnen und Propheten. Seien wir selber also auch offen für Gott und für das, was ER uns zumutet. Denn ich bin auch weiterhin davon überzeugt: Klöster gehören zu den notwendigsten Orten der Welt!
Erzabt Korbinian Birnbacher OSB wurde 2013 zum 88. Abt und 6. Erzabt des seit dem Jahr 696 durchgehend bestehenden Klosters St. Peter in Salzburg gewählt. Seit 2019 vertritt der promovierte Ordenshistoriker als Vorsitzender der Österreichischen Ordenskonferenz die Interessen von rund 4.700 Ordensangehörigen in Österreich.
Kontakt: erzabt@erzabtei.at
1 Katholische Kirche Österreich, Klöster sind notwendigste Orte der Welt, 2.12.2016, online unter https://www.katholisch.at/aktuelles/2016/12/02/kloester-sind-notwendigste-orte-der-welt [Zugriff: 29.11.2020].
2 Lk 12, 49.
3 Vgl. Phil 3, 20.
4 Mt 24, 42a.44.
5 Hebr 13, 14.
6 Ps 73, 17.
7 Dan 6, 9.
8 Ordensgemeinschaften Österreich, Abt Martin WERLEN: Das Heute ungeschminkt in den Blick nehmen, 24.11.2015, online unter https://www.ordensgemeinschaften.at/2308-abt-martin-werlen-das-heute-ungeschminkt-in-den-blick-nehmen [Zugriff: 29.11.2020].
9 Salzburger Äbtekonferenz (Hg.), Die Regel des heiligen Benedikt. Beuron 2006 (= RB), 3, 1–13.
10 RB 61, 1–11.
11 RB 18, 22–25.
12 RB 19, 1–7.
13 RB 20, 3-5.
14 RB 68, 1–5.
15 RB 71, 1–2.
16 RB 72, 1–12.
17 RB 73, 1–9.