Spiritueller Impuls zum Umgang mit Krisen
Impuls gehalten bei der virtuellen Jahrestagung der ARGE Ordensarchive am 6. Oktober 2020.
Kaum einer von uns hätte noch vor einem Jahr gedacht, dass das Thema der Jahrestagung „‚In guten wie in bösen Tagen‘. Krisen und Chancen im Spiegel der Ordensarchive“ die Tagung selbst treffen würde. Die Corona-Pandemie hat ein Zusammentreffen am geplanten Tagungsort St. Georgen am Längsee in Kärnten nicht möglich gemacht. In einem ersten Schritt wurde die geplante Tagung auf einen neuen Termin verschoben. Doch die weltweite Krise zwang zu weiteren Entscheidungen, da es (bis heute) immer noch nicht möglich ist, unter „normalen“ Bedingungen zu konferieren. Die Entscheidung, die Tagung trotz der anhaltenden Krise stattfinden zu lassen, habe ich sehr begrüßt.
Die durch die Krisensituation herbeigeführte Entscheidung hat uns heute an den Monitoren versammelt. Es ist eine Tagung ohne gemeinsamen Versammlungsort, was auf der Einladung mit „Online-Tagung“ zum Ausdruck gebracht wird. Wie bei einer Online-Besprechung wird es im Protokoll keinen Tagungsort geben – das heißt, dass es auch bei den anstehenden Vorstandswahlen der Arbeitsgemeinschaft der Ordensarchive keinen Wahlort gibt. Auf der Einladung war auch keine Anreiseinformation notwendig. Die „Anreise“ wurde durch den zugesandten Konferenz-Link ersetzt. Kein Kofferpacken, keine Bahnfahrt, kein Flug, kein Taxi, kein Auto. Stattdessen einfach aufstehen, frühstücken, Computer einschalten, Link aktivieren und bei der Tagung sein. Aber auch kein Händedruck, keine Umarmung, kein Smalltalk, keine gemeinsamen Mahlzeiten, kein Büchertisch usw. Aber es gibt nicht nur Nachteile. An der Online-Tagung kann der eine oder andere teilnehmen, der sonst vielleicht nicht hätte kommen können.
Die Corona-Krise hat eine Entscheidungssituation herbeigeführt und der Veranstalter, die Arbeitsgemeinschaft der Ordensarchive bzw. der Bereich Kultur und Dokumentation der Ordensgemeinschaften Österreich, hat die Chance genutzt, ein neues Tagungsformat zu organisieren und auszuprobieren. Für die damit verbundene Mühe der Organisation ein herzliches Dankeschön.
„In guten wie in bösen Tagen“ sind Worte, die mit einem Versprechen verbunden sind. Nicht nur mit der Ordensprofess, sondern auch im weltlichen Bereich. Bei der kirchlichen Eheschließung fragt der Zelebrant zuerst den Bräutigam: „(Name), ich frage Sie vor Gottes Angesicht: Nehmen Sie Ihre Braut (Name) an als Ihre Frau und versprechen Sie, ihr die Treue zu halten in guten und bösen Tagen, in Gesundheit und Krankheit, und sie zu lieben, zu achten und zu ehren, bis der Tod Sie scheidet?“ Diese Frage wird, so sieht es das Formular vor, mit „Ja“ beantwortet. Archivare und Archivarinnen gehen oft auch eine langjährige Verbindung mit ihrem Archiv ein. Sie sagen „Ja“ zu ihrem Archiv und versuchen, es gut durch die Zeiten zu bringen. Für das Archiv selbst sind sie aber nur Lebensabschnittsgefährten. Denn Archivbestände reichen meist weiter hinter die Lebenszeit des Archivars zurück und sollen auch nach dessen Tod weiter existieren. Die besonderen Probleme einer elektronischen Langzeitarchivierung von Schriftgut lassen wir kurz außer Acht. Archivare und Archivarinnen feiern mit ihrem Archiv oft das 25jährige Dienstjubiläum („Silberhochzeit“), bei Ordensarchivaren kann es schon mal möglich sein, dass mit einem 50jährigen Dienstjubiläum auch eine „Goldhochzeit“ gefeiert wird.
Zu einem Rückblick lädt meist das 40jährige Dienstjubiläum ein. Mit der Zahl 40 ist die Erinnerung an die Wüstenwanderung der Israeliten in das Gelobte Land verbunden (Buch Numeri), an den Propheten Elija, der 40 Tage und Nächte in der Wüste verbrachte und zum Berg Horeb ging (1 Kön 19,1–18) oder an die Versuchung Jesu (Mt 4,1–11). In der Bibel steht die Zahl von 40 Tagen und Nächten symbolisch für eine lange Zeit, die der Mensch braucht, um aus innerlichen oder äußerlichen Krisen einen Weg zu finden. Die Wüste gilt als ein fruchtbarer Raum der Geschichte. Auch jemand, der nie in einer Wüstenlandschaft war, erfährt die Wüste als eine Dimension des menschlichen Daseins. Der Jesuit Alfred Delp (1907–1945) sagte in einem Gebet: „Herr, lass mich erkennen, dass die großen Aufbrüche der Menschheit und des Menschen in der Wüste entschieden werden, Herr ich weiß, es steht schlecht um mein Leben, wenn ich die Wüste nicht bestehe.“ Ob ein Archiv auch eine Wüste sein kann, lasse ich dahingestellt. Wüste bzw. unordentliche und verwahrloste Archive gibt es jedenfalls – natürlich nicht bei den Orden. Aber Archive sind immer Räume der Geschichte.
In diesem Raum der Geschichte spiegeln sich Krisen und (verpasste) Chancen. In den Beständen eines Archivs kann man gezielt danach suchen, wie Orden auf bekannte Krisen reagiert haben oder aus den Akten erkennen, dass sich Orden in einer Krise befunden haben.
Krisen können institutionelle und strukturelle Ursachen haben. Krisen können sich zeigen in von außen erfolgten Reformen und in gesellschaftlichen Umbrüchen. Krisen können die Ursache für durchgeführte Innovationen sein bzw. diese beschleunigen.
Krisen sind bedrohliche Situationen, die ein Handeln außerhalb von Routinen verlangen, weil die eingeübten Verhaltensmuster und Gewohnheiten nicht zu deren Bewältigung beitragen. Krisen erzeugen Handlungs- und Entscheidungsdruck. Krisen erfordern Kommunikation. Die denkbar schlechteste Lösung in einer Krise scheint zu sein, nichts zu tun. Vielleicht ist aber „nichts tun“ auch die Lösung? Es kommt auf Art, Zeit und Dauer der Krise an. Betrachten wir durch die Jahrhunderte einige Krisenarten und -situationen, in die Orden kommen können.
Institutionelle und strukturelle Krisen können sein:
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es soll zur ursprünglichen Strenge der Ordensregel zurückgekehrt werden;
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es gibt Ordensprovinzen, deren Mitgliederzahlen kontinuierlich abnehmen;
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es treten zu viele neue Mitglieder in eine bereits klein gewordene Gemeinschaft ein;
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der Tod des Gründers / der Gründerin oder der Wechsel von Oberen und Oberinnen.
Krisen in Reformen und gesellschaftlichen Umbrüchen können sein:
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die Reformation, die das Ordensleben an sich in Frage stellte;
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die Reformen des Josephinismus und die Säkularisation, welche die Nützlichkeit von Klöstern in Frage stellten;
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Klosteraufhebungen im Kulturkampf;
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die nationalsozialistische Ideologie und der „Klostersturm“ der Nationalsozialisten;
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die Trennung von Kirche und Staat.
Krisen können durch Innovationen ausgelöst werden:
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wie durch die Konstitution Perfectae caritatis des Zweiten Vatikanischen Konzils;
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durch Veränderungen von Aufgaben einer Gemeinschaft, weil diese von anderen Institutionen übernommen werden;
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durch Internet und Social Media.
Auf der Suche nach Krisen in den Ordensarchiven muss unterschieden werden zwischen der aus den Unterlagen hervorgehenden zeitgenössischen Krisenerfahrung und den aus der Sicht der Geschichtswissenschaften „anerkannten“ Krisen. Die Erkenntnisse aus beiden Perspektiven müssen dabei nicht übereinstimmen. Das heißt, dass eine von den Geschichts- oder Sozialwissenschaften anerkannte Krise sich nicht unbedingt in einem Ordensarchiv widerspiegeln muss, wenn sie für den Orden keine Krise war. Ist es möglich, frühere Krisen aufzuarbeiten, um die aktuelle Krise besser zu bewältigen?
Hier schließt sich die Frage an, ob es für die Ordensforschung hilfreich ist, Krisen zu diagnostizieren. Bereits 2013 fand in Tübingen eine Tagung zum Thema „Orden in der Krise. Möglichkeiten und Grenzen religiöser Lebenswelten in der Vormoderne“ statt.1 Die dort für einen Workshop formulierten Fragen können über die Vormoderne hinaus zu interessanten Ergebnissen führen:
„Folgende Fragen sollen dabei als roter Faden des Workshops dienen:
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Wie erfuhren die Akteure die Krise, wie verliehen sie ihr semantisch Ausdruck und worin wurden die Krisenursachen gesehen?
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Welche Unterschiede ergeben sich dagegen aus der analytischen Perspektive des Historikers?
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Welche Grenzen und Möglichkeiten wurden diskutiert oder genutzt? Wurden vormals gültige Normen, Verhaltensweisen oder Routinen eingehalten, ausgeweitet oder gar gesprengt?
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Traten dabei neue Akteure als Entscheidungsträger in wichtigen Funktionen in Erscheinung? Verschoben sich im Orden selbst, aber auch in dessen Verhältnis nach außen, Machtstrukturen?
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Welchen Ausgang nahm die Krise und wie wurden die als negativ wahrgenommenen Folgen der Krise abgewendet bzw. warum konnten diese gerade nicht abgewendet werden?“2
Diese Fragen lassen sich unter anderem auf politische, wirtschaftliche, moralische oder spirituelle Krisen anwenden. Das Verhalten in Krisensituationen lässt Rückschlüsse auf die Entwicklung von Bewältigungsstrategien für die Krise zu. Damit stellen sich die Fragen: Kann man aus früheren Krisenbewältigungen lernen? Werden alte Verhaltensmuster in Krisen auf neue Krisen übertragen? Oder sind Krisenbewältigungen so sehr zeitgebunden, dass sie nur noch Geschichte sind?
Da wir uns mit Ordensgemeinschaften beschäftigen, scheint mir noch ein anderer Aspekt wichtig. In Krisenzeiten kommt solidarischer Unterstützung ein hoher Stellenwert zu. Gibt es in Krisenzeiten eine gegenseitige Unterstützung von Ordensgemeinschaften? Wenn ja, auf welchen Ebenen findet diese statt? Werden Krisen auf praktischer oder spiritueller Ebene miteinander geteilt? Eng damit verbunden ist die Kommunikation in Krisenzeiten. Wurde in Krisenzeiten mehr kommuniziert als üblich?
Orden und Kongregationen sind geistliche Gemeinschaften. Haben sie in Krisen auf Gott vertraut? „Hoffe auf den Herrn, und sei stark! Hab festen Mut, und hoffe auf den Herrn! (Ps 27,14) wie der Psalmist sagt. Wurde gefragt, warum Gott diese Krise zulässt? Wurde durch Gott ein Blick auf eine andere, kommende Welt geworfen? Kommt auch das in den Quellen zum Ausdruck?
Zur aktuellen Corona-Krise und deren Erfahrungen aus Ordensperspektive gibt es schon eine gedruckte Quelle: „77 Tage Ausnahme Leben. Wie ein Virus uns auf andere Gedanken brachte“3. Darin haben zwei Benediktiner der in Westfalen gelegenen Abtei Gerleve die Texte aus ihrem Corona-Blog veröffentlicht, den sie in den Tagen des dortigen Lockdowns vom 15. März bis zum 31. Mai 2020 geschrieben haben. Alltäglichkeiten, wie beispielsweise das Händeschütteln, wurden neu in den Blick genommen. Oder vertraute Gesten, wie sich mit Weihwasser zu bekreuzigen, fielen weg, weil das Weihwasser in den Kirchen abgeschafft wurde. Die Tauferinnerung gab es nur noch auf intellektueller Ebene.
Mit einem krisengeschulten Blick auf die Ordensarchive kommt man für die Ordensgeschichte zu neuen Erkenntnissen. Auch die Archive selbst können in Krisen geraten. So kann man „in guten wie in bösen Tagen“ auch auf das Archivgut übertragen. Damit wären wir bei Fragen der Restaurierung, Konservierung bzw. der Bestandserhaltung in Archiven. Den Archivaren und Archivarinnen käme hier die Rolle der barmherzigen Samariter zu, die dem Archivgut Hilfe leisten und lebensverlängernde Maßnahmen veranlassen. Auch hier wären Strategien zur Krisenbewältigung zu entwickeln.
Die gegenwärtige Corona-Krise wird sich in einigen Jahren auch in den Ordensarchiven widerspiegeln und die erste Online-Tagung der Arbeitsgemeinschaft der Ordensarchive in Österreich wird als Krisenbewältigung wahrgenommen werden.
Ich wünsche unserer Tagung einen guten Verlauf.
Gisela Fleckenstein OFS studierte Geschichte, Germanistik und Pädagogik in Düsseldorf, Innsbruck, Brixen und Bonn. Sie promovierte 1991 und absolvierte die Ausbildung zur Archivarin. Seit 2019 ist sie stellv. Leiterin des Landesarchivs Speyer. Veröffentlichungen zur Kirchen- und Ordensgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Leiterin des Arbeitskreises Ordensgeschichte 19./20. Jahrhundert.
Kontakt: g.fleckenstein@web.de
1 Vgl. Susanne HÄCKER, Tagungsbericht: Orden in der Krise – Möglichkeiten und Grenzen religiöser Lebenswelten in der Vormoderne, Tübingen 05.09.2013–06.09.2013 (07.04.2014), http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5299 [Zugriff: 01.10.2020].
2 Einladung zum Workshop: https://ordensgeschichte.hypotheses.org/5531 [Zugriff: 01.10.2020].
3 Elmar SALMANN–Marcel ALBERT, 77 Tage Ausnahme Leben. Wie ein Virus uns auf andere Gedanken brachte (Münsterschwarzach 2020).