Reiseerfahrungen
Vortrag gehalten bei der Jahrestagung der kirchlichen Bibliotheken Österreichs am 13. Juni 2022.
Klostergemeinschaften und ihre Buchbestände verbindet seit jeher ein starkes Band. Der Grundstein dafür wurde bereits in den Regularien gelegt, sei es in der Regula Benedicti, in der das Studieren rund um die Heilige Schrift zu einer zentralen Forderung an die monastische Lebenspraxis erhoben wurde, sei es in den Statuten des Klosters von Citeaux, wo niedergeschrieben steht, dass eine Klosterbesiedlung ohne Bücher für den Gottesdienst, das gemeinsame Gebet und das Zusammenleben nicht möglich sei. Was also wäre schon ein claustrum sine armario, ein Kloster ohne Bücherschrank? Mit dieser rhetorischen Frage in den Köpfen der Mönche wurden die Bestände mit fortlaufender Zeit umfangreicher und thematisch bunter; sie erwiesen sich so für die Gelehrtenwelt als Orte nachhaltiger Information. In der Regel blieb die Bibliothek fester Bestandteil des Klosterkomplexes, sofern die Gemeinschaft intakt blieb und es die Bereitschaft und Mittel gab, die Objekte entsprechend zu lagern und zu betreuen. Und doch gab es Anlässe und Gelegenheiten, bei denen Bücher des Bestandes die Klostermauern verließen. In den folgenden Ausführungen steht die Ausleihe im Fokus, also das zeitlich begrenzte Abtreten von Objekten ohne das Ziel eines Besitzerwechsels. Die Melker Stiftsbibliothek liefert dabei historische und aktuelle Beispiele, die zur weiteren Reflexion verhelfen können.
Der Titel Reiseerfahrungen führt zur ersten Überlegung: So ist es für Verantwortliche einer Sammlung unerfreulich, wenn jene Objekte, die in der eigenen Dienstzeit verliehen worden sind, über ihre Reise „erzählen“ können. Das nämlich bedeutet, dass eine wahrnehmbare Manipulation an den schützenswerten Büchern stattgefunden hat. Weiter zurückliegende Eingriffe können hingegen mit Freude untersucht werden, Benutzerspuren aller Art bilden zum Teil wichtige Anhaltspunkte bei historischen Fragestellungen. Neben dem Leihobjekt selbst helfen aber auch Schriften der Dokumentation und weitere paratextuelle Hinweise dabei, Bibliotheken in ihrem (historischen) Umgang mit der Ausleihe nachvollziehen zu können.
Die Melker Stiftsbibliothek ist überwiegend als wissenschaftliche Präsenzbibliothek angelegt. Ihr Bestand kann lediglich vor Ort mit konkretem Forschungsvorhaben und unter Aufsicht eingesehen werden. Damit unterscheidet sie sich grundsätzlich von Ausleihbibliotheken (Stadt-, Landes- und Staatsbibliotheken, Universitätsbibliotheken etc.), bei denen Entlehnungen zur täglichen Praxis gehören. Objekte des Melker Altbestandes verlassen heute nur dann das Haus, wenn sie als Exponate im Rahmen von Ausstellungen präsentiert werden sollen.1 Auch die Stiftsbibliothek bietet Tourist:innen und Interessierten eine Wechselausstellung bei ihrem Gang durch die Räumlichkeiten. Klaus Gantert stellt klar, warum solche Unternehmungen für Bibliotheken Sinn machen: „Ausstellungen der Bibliothek sollen das Interesse der Öffentlichkeit auf bestimmte Bestände und auf die Bibliothek überhaupt lenken. Man veranstaltet Ausstellungen zu bestimmen Themen und Ereignissen, Ausstellungen von Werken einzelner Schriftsteller und Ausstellungen bestimmter Bucharten (Handschriften, Inkunabeln, illustrierte Werke, Kinderbücher usw.).“2
Abb.1: Auch barocke Folianten aus dem Schauraum der Stiftsbibliothek werden für die Leihe angefragt.
Hier zu sehen ist ein kommentierter Band zum Corpus Iuris Civilis Iustinianei (Lyon 1627). © Magdalena Weber
Da der Bibliotheksbestand und das in den Büchern vermittelte Wissen in der öffentlichen Wahrnehmung gestärkt werden sollen, liegt es nahe, den überwiegenden Teil der Ausstellungsexponate nach Möglichkeit aus der eigenen Sammlung zu stellen. Und doch spricht manches dafür, auch Leihobjekte heranzuziehen: Zum einen ist es die besondere Bedeutung, die auswärtigen Schriften im Rahmen des Ausstellungskonzeptes aus informativer Sicht zukommen kann. Zum anderen verdeutlicht ein solcher Austausch die institutionelle Zusammenarbeit: Leihgeber:innen und Leihnehmer:innen werden von den Ausstellungsbesucher:innen in einem „kollegialen Verbund“ wahrgenommen – als verlässliche Teamplayer im Bibliotheks- und Kulturfeld. Eine Ausleihtätigkeit im Rahmen von Ausstellungen ist damit für alle Seiten vorteilhaft.
HISTORISCHER LEIHVERKEHR („gemainem nutz zu guetem gebrauch“)
Blickt man in der Geschichte der Klosterbibliotheken einige hundert Jahre zurück, dann nimmt man in Bezug auf die Ausleihe einen zu heute abweichenden Zweck wahr: „Die Vermehrung der K. [Klosterbibliotheken] geschah durch Schenkungen und Kauf, gelegentlich auch durch Tausch, vor allem aber durch die eigene Abschreibtätigkeit, für die man sich gegenseitig die Hss. auslieh.“3 Der mittelalterliche Leihverkehr von Büchern diente der Vervielfältigung von Textgut, einerseits zur Erweiterung der Bibliotheksbestände, andererseits zur Ausbreitung von Lehren und Sinnangeboten. Der Nutzen einer solchen Weitergabe konnte etwa in kirchlichen Reformbestrebungen liegen; das Kursieren einschlägiger Schriften im Zuge der Melker Klosterreform des 15. Jahrhunderts belegt das eindrucksvoll. Die in der Stiftsbibliothek erhaltenen Briefe4 des Johannes Schlitpacher (1403–1482), der eine Triebkraft für den „neuen“ Kurs darstellte, thematisieren Bücherbewegungen im größeren Stil. Über den beschwerlichen und riskanten Transport durch die ausgesandten Boten wird dabei ebenfalls reflektiert.5
Ein Risiko konnte für den Leihgeber aber auch die fehlende Verlässlichkeit des Leihnehmers bedeuten: „Besondere Wertschätzung fanden Hss. bei den Humanisten; sie gaben ihre Texte heraus, wobei sie es oftmals nicht allzu genau mit dem Eigentum nahmen.“6 Tatsächlich fanden nicht alle Bände ihren Weg zum Leihgeber zurück, wie ein historisches Melker Beispiel zeigt: Am 7. September 1552 bekam der Humanist Kaspar von Nydbruck die Erlaubnis zur Entlehnung. Dieser war nicht nur für Kaiser Ferdinand I., sondern auch für den späteren Kaiser Maximilian II. tätig, bei dem das Sammeln und Fördern von Schriften einen besonderen Stellenwert einnahm. So konsultierte Kaspar von Nydbruck auch die Melker Stiftsbibliothek – und wurde fündig: Auf dem erhaltenen Entlehnschein7 sind ganze 13 Titel aufgelistet. Sie reichen von Jean Gersons „Tractatus […] de ecclesiastica potestate…“8 bis Martin Luthers „Assertio omnium articulorum […] per bullam Leonis X. novissimam“9, was insofern wissenswert ist, als der Gast selbst dem Luthertum nahestand. Im anschließenden deutschsprachigen Text wird dem damaligen Abt des Stiftes, Michael Grien, die Rückgabe der Schriften zugesichert, sobald sie einem allgemeinen Nutzen gedient hätten. Trotz dieser Vereinbarung fanden die Bände nicht mehr nach Melk zurück.10 Der einstige Leihgeber wurde somit zum Vorbesitzer degradiert.
Auch Melker Mönche waren eifrige Leihnehmer. Placidus Amon (1700–1759), Professor der Humaniora, Kellermeister und Vestiar, wollte mittelalterliche Schriften an die Öffentlichkeit bringen: ein damals seltener Wunsch. Amon korrespondierte zu diesem Zweck mit Johann Ch. Gottsched, Georg Wachter und anderen Gelehrten seiner Zeit. Doch nicht alle Texte, die er bearbeitete und weiterleitete, lagen im Melker Bestand vor. Amons Sammlungs- und Kollationierungstätigkeit betraf ebenso die Bibliotheken der Stifte Göttweig, Kremsmünster, Gleink, Spital am Pyhrn wie auch die Wiener Stadtbibliothek, wo bestehende Bibliotheksordnungen das Ausleihen auch hemmen konnten: „[…] Magistratum nostrum non velle, ut quidquam ex loco bibliothecae moveatur.“11 In zahlreichen Briefen wird die erfolgreiche Entlehnung und Rückgabe von Schriften aber deutlich.12
Die gelehrte Melker Briefkorrespondenz des Barocks liefert auch einen kuriosen Kommentar zur Beschaffung von Manuskripten: P. Bernhard Pez (1683–1735), wie sein Bruder Hieronymus ein Historiker ersten Ranges, pflegte regelmäßigen Austausch mit Fachkollegen über die Grenzen des Landes hinaus. Ein solcher fand auch mit Johann G. Eckhart statt, niemand geringerem als dem langjährigen Sekretär von Gottfried W. Leibniz. In dessen Schreiben an P. Bernhard vom 7.7.171813 wird über die Beschaffung gelehrter Schriften und deren Austausch gesprochen. Eckhart kündigt dabei einen baldigen Forschungsaufenthalt in Helmstedt (heutiges Niedersachsen) an, wobei er moniert, dass die dort ansässigen Benediktiner beim Rausrücken ihrer Codices eher widerwillig seien. Aber er weiß Rat und teilt diesen mit P. Bernhard: So möchte er die Mönche beim gemeinsamen Bier- und Weingenuss vor Ort freigebig stimmen und sie von der Wichtigkeit seiner Unternehmungen überzeugen. Außer dem maßlosen Trinken würden sie nämlich kaum etwas begreifen – ihre Weisheit ende damit, hohe Klostermauern zu errichten und dahinter Gelage zu feiern.14 Ob Eckharts Taktik des geschäftlichen Umtrunks erfolgreich war und er damit Schriften entlehnen oder zumindest einsehen konnte, bleibt offen. Man darf zumindest hoffen, dass der Alkoholgenuss und die Handschrifteinsicht getrennt stattfanden.
AKTUELLER LEIHVERKEHR („wie viel Lux verträgt die Handschrift?“)
Die heutigen Voraussetzungen für eine Ausleihe alter Schriften sind freilich andere als die in den genannten historischen Beispielen. Aus dem Melker Altbestand wird aktuell nur noch an Ausstellungen verliehen. Nach einer schriftlichen Anfrage um konkrete Objekte muss ein Prozedere durchlaufen werden, in dem abzuklären ist, ob dem Leihansuchen entsprochen werden kann. Es lässt sich festhalten, dass die in den letzten zwanzig Jahren verliehenen Objekte sowohl mittelalterliche Handschriften als auch Inkunabeln und Drucke nach 1500 waren.
Die Leihnehmer waren zu einem guten Teil weitere Stifte (Admont, Klosterneuburg, Seitenstetten etc.), außerdem Institutionen mit Museumsbetrieb (Stadtgalerie Klagenfurt, MUMOK, Schallaburg etc.), die Länder (Landesausstellungen) sowie vereinzelt internationale Kongressträger (Kant-Kongress 2015, Uni Wien/Kant-Gesellschaft).
Abb. 2: Kleinformatige Bändchen aus dem Bestand können in Ausstellungsvitrinen große Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Abgebildet sind diverse Schriften mit theologisch-erbaulichem Inhalt.
Der Großteil der Ausstellungsorte ließ sich dabei im Zeitraum von zwei Stunden oder weniger motorisiert erreichen – ein Zeichen dafür, dass in der Ausstellungsszene gerne Lösungen mit geringem Transportaufwand bevorzugt werden. Auch der persönliche Kontakt mit den befreundeten Institutionen der Umgebung spielt dabei eine wichtige Rolle.
Die Stiftsbibliothek verleiht quantitativ gesehen in einem überschaubaren Maß: Zur selben Zeit befinden sich in der Regel nur einige wenige Exponate außer Haus. Im Augenblick sind zwei Handschriften für die Ausstellung „Gotteskrieger – der Kampf um den rechten Glauben“ (29.4.2022–15.11.2022) an das Stift Klosterneuburg verliehen. Zum einen handelt es sich um ein Gebetbuch für König Albrecht II.15, zum anderen um eine Handschrift des späteren 15. Jahrhunderts mit Ketzerthematik.16 Die beiden expressiven Bände fügen sich thematisch stimmig in den aufbereiteten Objektbestand vor Ort. Weiters stellte die Stiftsbibliothek bis vor wenigen Wochen einen Folianten an das Museum am Dom St. Pölten für die Ausstellung „Europa, wer bist du? Menschen, Mächte, Mythen“ (7.5.2022–30.10.2022) in der ersten Ausstellungsetappe „Das Werden Europas“ (7.5.2022–26.6.2022). Es handelt sich dabei um einen Textzeugen der Regula Benedicti17 mit einem Kommentar des Petrus Boerius, der neben weiteren Leihgaben aus den Stiftssammlungen ausgestellt wurde. Dass Klosterbibliotheken mitunter auch in größeren Maßstäben Leihverkehr betreiben als in Melk, zeigt das Beispiel von St. Paul, wo die fertig konzipierte Ausstellung „Der Schatz der Mönche“ über die Landesgrenzen hinweg gemietet werden konnte (Augustinermuseum/Städtische Museen Freiburg i. Breisgau, 28.11.2020–19.9.2021).
Doch auch das Stift Melk verleiht Objekte ins Ausland. Für die internationale Ausstellung „Hexen – Mythos und Wirklichkeit“, die durch mehrere Großstädte Japans tourte (Februar 2015–Juni 2016), verließen gleich vier Bände den Kontinent: Petrus Binsfeld von Trier, Tractat. Von Bekanntnuß der Zauberer und Hexen18; Hartmann Schedel, Liber chronicarum…19; Olaus Magnus, Historien der mittnächtigen Länder…20; Constitutio criminalis Theresiana…21. In Abstimmung mit dem Bundesdenkmalamt (Ausfuhrbewilligung) konnten die Hürden dieser Unternehmung gemeistert werden und die Bände wieder unbeschadet ihren Weg in die Melker Regale finden. Anlassbezogen tritt das Stift Melk auch selbst als Leihnehmer aus dem Ausland auf: Bei der Jubiläumsausstellung „Eine Beziehung seit 650 Jahren. Universität Wien und Kloster Melk“ (23.4.2015–31.1.2016) konnte zwar der überwiegende Anteil der Exponate aus den eigenen Sammlungen gestellt werden, vereinzelt bezog man aber auch von weiter her, etwa aus Rom22 und Heidelberg23
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Abb. 3: Die Druckbestände der Berglzimmer im zweiten Stock bieten eine thematisch buntes Bestandssegment
(Naturwissenschaften, Philosophie, Altphilologie, Numismatik etc.), das für unterschiedliche Ausstellungen von Interesse ist.
Bei den genannten Beispielen waren Abklärungen und rechtliche Absicherungen unerlässlich. Eine faktenschaffende Korrespondenz zu den Vorstellungen und Bedingungen der Ausleihe (vorausgeschickt ein Ausstellungskonzept sowie eine Begründung für das konkrete Ansuchen von Seiten des Leihnehmers) ist für das Gelingen von Leihverkehr mit wertvollen Schriften nötig. Wichtig ist dabei, sich auf einige wesentliche Punkte zu verständigen: die Einschätzung der Transportfähigkeit der angefragten Objekte (eventuell unter Einbeziehung einer restauratorischen Fachmeinung), die Entlehndauer, die Gegebenheiten am Ausstellungsort (Diebstahlsicherung, Klima, Beleuchtung, Vitrinenlagerung etc.), die Transportbedingungen (Speditionsfirma, Verpackungssystem, ggf. Ausfuhrgenehmigung), das Abschließen von Versicherungen – all das ist zu kommunizieren und gebündelt in einem Leihvertrag festzuhalten, den beide Parteien zu unterzeichnen haben.
Tatsächlich abgelehnt werden von Seiten der Melker Stiftsbibliothek nur wenige Ausleihansuchen – der überwiegende Teil der Vorhaben ist seriös und umsetzbar. Ein rezentes Beispiel, wo einem Wunsch nicht entsprochen werden konnte, betraf den „Melker Annalencodex“24. Hier musste aufgrund der besonderen Bedeutung des Objektes für die Bibliothek abgelehnt werden: Zum einen liegt der Codex häufig in den Schauvitrinen der Stiftsbibliothek auf, zum anderen dient er als didaktisches Anschauungsbeispiel bei Spezialführungen und in Seminaren. Immer wieder werden von Seiten der Stiftsbibliothek auch Alternativen zum angefragten Objekt angeboten, sofern einem Wunsch nicht exakt entsprochen werden kann. Auch auf diesem Weg sind zufriedenstellende Lösungen für beide Seiten möglich.
Additum: Da die Melker Stiftsbibliothek bis heute durch Neuankäufe, Nachlässe und Schenkungen wächst, lässt sich auch über die niederschwelligere Ausleihe des Neubestands sprechen. Aus unterschiedlichen Segmenten der Sammlung, etwa der Theologischen Handbibliothek, der Manfred-Angerer-Bibliothek, dem P. Wilfried-Museum (Spezialsammlung zur Eisenbahnthematik) und weiterer Ecken des Bestandes ist ein privates Ausborgen möglich. Der Kreis an Interessierten (Patres/Mitarbeiter:innen des Hauses, Schüler:innen des Gymnasiums, Freund:innen der Bibliothek) hat die Möglichkeit, proaktiv an die Bibliothek heranzutreten, um Informationen zu vorhandenen Werken zu erhalten. Die Bände sind nach positiver Rückmeldung beim Bibliotheksteam abzuholen, das seinerseits einen simplen Leihschein als Platzhalter ausdruckt und die Entlehnung im System verzeichnet. Fälligkeitsdaten bleiben dabei zunächst aus – die freundlichen Bibliothekar:innen kontaktieren die Leihnehmer:innen aber nach wenigen Monaten, spätestens aber nach erfolgter Inventur, und bitten sie um eine baldige Rückgabe, sofern diese noch nicht erfolgt ist.
FÜR AUFWERTUNG – GEGEN ABSCHOTTUNG
Der aktuelle Leihverkehr der Melker Stiftsbibliothek unterscheidet sich von jenem früherer Jahrhunderte schon in seiner Funktion: Während im Mittelalter und der Neuzeit die Vervielfältigung von Schriften (etwa durch Abschriften, später auch Druckvorhaben) im Fokus stand, werden heute Werke des Altbestands nur dann verborgt, wenn sie unter angemessenen Bedingungen zur Schau gestellt werden sollen. Abgesehen von der Möglichkeit, die alten Schriften nach Anmeldung und mit Forschungsbegründung innerhalb der Bibliotheksräume einzusehen, sorgen die mehr und mehr angefertigten Digitalisate der Handschriften für einen Zugang, der vom geografischen Ort entkoppelt ist.25 Die Möglichkeit, Objekte im Rahmen auswärtiger Ausstellungen einsehbar zu machen oder Leihgaben von außen für Ausstellungen im Haus zu beziehen, wird genutzt. Ausstellungen werden durch solche Ergänzungen für die Besucher:innen aufgewertet, während sich die beteiligten Institutionen als geeignete Partner im gemeinsamen Feld präsentieren. Ein intakter Leihverkehr wirkt der Gefahr von Abschottung entgegen, die gerade bei kirchlichen Sammlungen vorhandenes Potenzial verwirken kann.
Dabei ist das Team der Melker Stiftsbibliothek bemüht, einen wertschätzenden Umgang mit den übrigen Institutionen und Trägern im Sammlungs- und Ausstellungsfeld zu pflegen, der weder auf Misstrauen beruht, noch auf kommerziellen Überlegungen. Gleichzeitig wird nicht darauf vergessen, dass eine abklärende Korrespondenz zwischen Leihgeber und Leihnehmer in jedem Fall zu führen ist. Verbindliche Dokumente (Leihvertrag, Versicherungspolizze, Zustandsbericht, Übergabebestätigung) sollen letztlich beide Seiten absichern. Ein Erfahrungsaustausch wie jener auf dieser Fachtagung, wo Teilnehmende im Arbeitsalltag mit ähnlichen Vorgängen und Problemlagen konfrontiert sind, kann einen weiteren Schritt in Richtung einer allgemeinen Professionalisierung der Ausleihpraxis in kirchlichen Bibliotheken bedeuten.
Johannes Deibl studierte Deutsche Philologie/Austrian Studies und promovierte 2020 im Bereich Altgermanistik an der Universität Wien. Seit 2014 ist er als Bibliothekar des Stiftes Melk tätig und veröffentlicht Beiträge zur Literatur- und Buchwissenschaft. Sein besonderes Augenmerk liegt auf der deutschsprachigen Literatur des 15. – 17. Jahrhunderts, weiteres auf dem Bestand der Melker Stiftsbibliothek.
Kontakt: johannes.deibl@stiftmelk.at
1 Einen zweiten triftigen Grund dafür bildet ein Restaurierungsvorhaben.
2 Klaus GANTERT–Rupert HACKER, Bibliothekarisches Grundwissen (München 82008) 59.
3 Wolfgang MILDE, Klosterbibliotheken, in: Lexikon des gesamten Buchwesens. Bd. IV: Institut für Handschriftenrestaurierung–Lyser (Stuttgart 21995) 244–225, hier 244.
4 Stiftsbibliothek Melk (im Folgenden: StiB Melk), Cod. 1767 (426, H 45 [1]).
5 Vgl. dazu Franz HUBALEK, Aus dem Briefwechsel des Johannes Schlitpacher von Weilheim. Der Kodex 1767 der Stiftsbibliothek Melk (ungedr. Diss. Universität Wien 1963) 138–143.
6 Vgl. MILDE, Klosterbibliotheken (wie Anm. 3), hier 245.
7 Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 9737i, fol. 379r/v.
8 Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 313 Helmst.
9 Der Verbleib dieser Handschrift ist unbekannt, vgl. Christine GLASSNER, Schreiben ist lesen und studiern, der sel speis und des herczen jubiliern. Zu den mittelalterlichen Handschriften des Benediktinerstiftes Melk, in: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktinerordens und seiner Zweige, Bd. 108 (1997) 283–320, hier 317.
10 Der überwiegende Anteil der Codices findet sich heute in der Österreichischen Nationalbibliothek wieder, vgl. GLASSNER, Schreiben (wie Anm. 9) 313–315.
11 Stiftsarchiv Melk (im Folgenden: StiA Melk), 7 Patres 12, 16, Antwortbrief des Stadtbibliothekars Philipp Lambacher (28.06.1736).
12 Vgl. etwa einen Brief Amons an Gottsched (30.07.1750), wo unter anderem über die örtlichen Bewegungen von Manuskripten zum „Trojanerkrieg“ gesprochen wird, StiA Melk, 7 Patres 12, 55–58. Eine rezente Transkription mit Erläuterung zu diesem Brief ist zu finden bei Johann Ch. GOTTSCHED, Briefwechsel. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 16: Juni 1750–März 1751 (Berlin–Boston 2022) 101–107.
13 StiA Melk, 7 Patres 7, II, 372r–373v.
14 Zur Transkription und deutschsprachigen Inhaltswiedergabe des Briefes vgl. Thomas STOCKINGER–Thomas WALLNIG [u.a.], Die gelehrte Korrespondenz der Brüder Pez. Text, Regesten, Kommentar, Bd. 2: 1716–1718, 2. Halbbd. (Quellenedition des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Bd. 2, Wien 2015) 978–982.
15 StiB Melk, Cod. 1080 (1861, 1829).
16 StiB Melk, Cod. 1960 (364, G 24).
17 StiB Melk, Cod. 3 (149, C 27).
18 StiB Melk, P. 34.118 (München 1591).
19 StiB Melk, P. 1012 (Nürnberg 1493).
20 StiB Melk, Sign. 4.327 (Basel 1567).
21 StiB Melk, Sign. 26.144 (Wien 1769).
22 Biblioteca Angelica, Ms. 569.
23 Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 110.
24 StiB Melk, Cod. 391 (486, I 1).
25 Hier ist die jahrelange produktive Zusammenarbeit mit der Abteilung Schrift- und Buchwesen des Instituts für Mittelalterforschung (ÖAW) zu nennen. Der freie Zugang zu digitalisierten Melker Handschriften (wie weiterer Standorte) ist über das bereitgestellte Handschriftensuchportal „manuscripta.at“ sichergestellt, online unter https://manuscripta.at/ [Zugriff: 21.07.2022].