Forschung und Vermittlung
Vortrag gehalten bei der Gemeinsamen Jahrestagung der ARGE Ordensarchive Österreichs und der ARGE Diözesanarchive Österreichs am 29. Juni 2022 in Puchberg bei Wels.
Dieser Beitrag stellt die Arbeit des Franz und Franziska Jägerstätter Instituts vor. Neben der grundsätzlichen Ausrichtung des Instituts werden dabei derzeitige Projekte vorgestellt, die das Selbstverständnis als Einrichtung zwischen Forschung und Vermittlung zum Ausdruck bringen. Beispielhaft wird im Anschluss ein neu entdecktes Jägerstätter Schriftstück präsentiert und ausgewertet. Der Überblick weist auch auf Kooperationsmöglichkeiten für Ordensgemeinschaften mit dem Forschungsinstitut hin.
Abb. 1: Franz Jägerstätter, o.D., Urheber unbekannt. Quelle: FFJI
FRANZ JÄGERSTÄTTER: LEBEN UND WIRKUNG
Franz Jägerstätter (geb. 20.5.1907) gilt als einer der bekanntesten Kriegsdienstverweigerer in der Zeit des Nationalsozialismus. Der einfache Bauer und Familienvater lehnte den Nationalsozialismus aus christlichen Gesichtspunkten ab. Am 10. April 1938 stimmte Jägerstätter als einziger Bewohner seiner Innviertler Gemeinde St. Radegund gegen den „Anschluss“. Die Gemeindeverantwortlichen schützten ihn vor Repressalien. Im Zuge der militärischen Ausbildung 1940/41 sammelte er Erfahrungen, die ihm die Unvereinbarkeit von katholischer Morallehre mit dem Nationalsozialismus aufzeigten. So erfuhr er von der NS-Euthanasie, die als Aktion T4 bekannt wurde und den Repressionen gegen die Kirche.1 Aufgrund von Frontberichten kam er zur Erkenntnis, dass der Krieg der deutschen Wehrmacht gemäß der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg als „ungerecht“ einzustufen war und somit der soldatische Dienst für diesen abzulehnen war. Obwohl ihm Familie, Freunde, Priester und letztlich der Bischof abrieten, den weiteren Dienst in der Wehrmacht zu verweigern, hielt er an dem Entschluss fest, der 1941 und 1942 in seinen Schriften reifte und reflektiert wurde. Gleichzeitig intensivierte er sein religiöses Leben. Am 8. Dezember 1940 wurde er in den Dritten Orden der Franziskaner aufgenommen. Wiederholt nahm er an Exerzitien bei den Kapuzinern in Altötting teil.
Zum moralisch richtigen Handeln fühlte sich Jägerstätter durch sein Gewissen verpflichtet. Den blinden Gehorsam gegenüber der staatlichen und auch kirchlichen Obrigkeit lehnte er mit religiösen und politischen Argumenten ab. Jägerstätter sprach am 2. März 1943 seine Verweigerung in der Kaserne Enns aus und wurde anschließend vor dem Reichskriegsgericht Berlin am 6. Juli wegen Wehrkraftzersetzung angeklagt und gemäß der NS-Rechtsprechung zum Tod verurteilt. Bis zum Tag seiner Hinrichtung am 9. August 1943 in der Haftanstalt Brandenburg/Görden verfasste er schriftliche Aufzeichnungen und war in brieflichem Kontakt mit seiner Frau Franziska, mit der ihn bis zuletzt eine innige Liebe verband.
Zu dem kleinen Personenkreis, der Jägerstätter nach dessen Martyrium bald als Heiligen verehrten, zählten neben einigen Priestern auch Franziskanerinnen aus Vöcklabruck, die in Brandenburg das Marienkrankenhaus des katholischen Caritasverbandes verwalteten.2 Jägerstätter erfuhr durch die wissenschaftliche Arbeit des amerikanischen Soziologen Gordon Zahn3 und der Historikerin und Theologin Erna Putz4, sowie der filmischen Arbeit des österreichischen Regisseurs Axel Corti5 seit den 1960er Jahren eine internationale Rezeption und Bekanntheit. Er avancierte zur Symbolfigur der Friedensbewegung und Gewissensfreiheit6, gleichzeitig polarisierte sein Name in Österreich über Jahrzehnte im Rahmen der aufkeimenden Debatte um die Mitverantwortung Österreichs am Nationalsozialismus.7 Nach vielen Widerständen und Bedenken eröffnete die Diözese Linz ein Seligsprechungsverfahren, das mit der Seligsprechung Franz Jägerstätters am 26. Oktober 2007 seinen Abschluss fand. Franziska Jägerstätter, die kurz nach ihrem 100. Geburtstag am 4. März 2013 starb, trug großen Anteil an der Bekanntmachung und Deutung des Lebensschicksals ihres Mannes.8
Das Franz und Franziska Jägerstätter Institut
Im Jahr 2017 hat die Katholische Privat-Universität Linz das Franz und Franziska Jägerstätter Institut (FFJI) als Forschungseinrichtung gegründet. Das Institut wird zu einem beträchtlichen Teil aus Drittmitteln von Fördergebern finanziert, zu denen neben dem Land Oberösterreich auch die Ordensgemeinschaften Österreich zählen. Im Mai 2018 hat der Autor die Institutsleitung übernommen. Die Historikerin Dr.in Verena Lorber ist als zweite wissenschaftliche Mitarbeiterin Teil des Teams, das temporär durch studentische Hilfskräfte und Projektmitarbeiter/innen ergänzt wird. Das Institut wird von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet, mit dem zentrale Ziele für das Institut formuliert werden. Zu diesen zählen:
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Aufarbeitung des schriftlichen Nachlasses von Franz und Franziska Jägerstätter: Digitalisierung und Archivierung der Originaldokumente sowie Sammlungen des Nachlasses, historisch-kritische Edition der Nachlass-Schriften.
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Weiterführung der historischen Forschung zu Jägerstätter, dessen Umfeld sowie die vielschichtige Rezeption in Kunst, Kultur, Gesellschaft und Religion in einem interdisziplinären Rahmen.
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Erforschung vergleichbarer Biografien und Untersuchung der spezifisch innerkatholischen Dynamiken im Verhalten gegenüber dem Nationalsozialismus. Hierin sind auch Mitglieder der Orden integriert, deren Geschichte und Quellen nicht immer Eingang in die Forschungsarbeit von Historiker/innen gefunden haben.
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Pädagogisches Konzept und Stärkung der Vermittlungsprogramme für eine zeitgemäße wissenschaftlich reflektierte Auseinandersetzung mit Franz und Franziska Jägerstätter und anderen Biografien.
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Unterstützung der Erinnerungskultur zu Jägerstätter und der Zeit des Nationalsozialismus im gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Kontext.
Abb. 2: Schriften des Jägerstätter Nachlasses, Foto: FFJI © Kerstin Huber
Die digitale Jägerstätter Edition
In den Briefen zwischen Franz und Franziska Jägerstätter kommt eine Emotionalität in ihrer Beziehung zum Ausdruck, die auch heute noch Menschen auf der ganzen Welt mitreißt und inspiriert. So manchen Jägerstätter Bewunderer fasziniert ein Originalschriftstück mehr als Primärreliquien. Franziska Jägerstätter hatte die Originalschriften ihres Mannes, ihre Briefe an ihn, sowie Briefe von und an Dritte wiederholt der wissenschaftlichen Forschung zur Verfügung gestellt und die Veröffentlichung von Teilen autorisiert.9 Im Jahr 1999 übergab Franziska den Quellenbestand an die römisch-katholische Pfarrkirche St. Radegund, um das Andenken an Franz Jägerstätter zu bewahren. Im Jahr 2018 hat die Pfarre St. Radegund den schriftlichen Nachlass ihres Mannes rechtskräftig der Diözese Linz geschenkt. Das FFJI wurde mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung dieser Sammlung betraut.
Das Institut hat sich nach gründlicher Überlegung für eine digitale Edition entschieden.10 Eine digitale Edition eröffnet in der akademischen und pädagogischen Auseinandersetzung neue Perspektiven und hat auch für die Herausgeber/in selbst Vorteile. Die Inhalte können in einem dynamischen Prozess erweitert werden und der Umfang der Edition ist – auch mit Blick auf Übersetzungen – flexibel.
Neben der Nachlass-Schenkung werden einige weitere Schriftstücke Franz und Franziska Jägerstätters, die sich in anderen Archiven oder Privatbesitz befinden, für die Edition berücksichtigt. Das Projekt umfasst derzeit:
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103 Briefe von Franz Jägerstätter
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185 Briefe an Franz Jägerstätter
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66 Briefe dritter Personen
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Weitere Schriften auf losen Blättern (56 Seiten) und in Heften (217 Seiten).
Der Autor und Dr.in Verena Lorber edieren das gesamte Textmaterial historisch-kritisch. Dazu wurden vom gesamten Bestand digitale Faksimile erstellt und ein XML-TEI Datenmodell entwickelt, um die Schriftstücke editorisch zu bearbeiten. Dabei werden zusätzlich die Metadaten nach ISADG (General International Standard Archival Description) erfasst, womit zugleich diese Archivdaten in das digitale Archivinformationssystem des Diözesanarchivs Linz übertragen werden können.
Welche Neuerungen ergeben sich durch das digitale Edieren für die Auseinandersetzung mit Jägerstätter?
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Bislang unbekannte Jägerstätter-Briefe werden nunmehr publiziert und können im chronologischen Zusammenhang gelesen und interpretiert werden.
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Durch eine Zweiteilung der Bildschirmansicht ist neben dem Text immer auch ein Faksimile des Originaldokuments sichtbar. Durch Schriftbilder, Fotos und Postkartenansichten etc. wird auch die materielle Komponente des Briefeschreibens und -lesens mit einbezogen.
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Korrespondenzen bzw. Briefpartnerschaften, die zwischen Jägerstätter und anderen Personen bestanden, werden erstmals publiziert und im Rahmen einer digitalen Edition einfach lesbar gemacht. In ihnen wird das Denken Jägerstätters und seine Einflüsse (Personen und Texte) wesentlich sichtbar.
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Der Gesamtbestand wird durch ein Personen-, Orts- und Bibelstellenregister sowie eine eigens programmierte Volltextsuchmöglichkeit erschlossen. Zu über 400 Personen werden biografische Daten abrufbar. Die Vernetzung Jägerstätters und seine Bezüge können dadurch stärker erschlossen werden. Mit speziellen Filtern können Teilbestände des Textcorpus sichtbar und als separate Einheiten lesbar gemacht werden.
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Der Gesamtbestand wird mit Kommentaren zu historischen Kontexten, sprachlichen Besonderheiten und Briefbezügen ausgestattet. So wird es möglich, mit einem Mausklick inhaltlichen Fäden zu folgen, ohne im Bestand die Orientierung zu verlieren.
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Die Texte werden nach philologischen Editionsrichtlinien in zwei Textfassungen verfügbar: Der buchstaben- und zeilengetreuen diplomatischen Umschrift einerseits und der rechtschreibkonformen und mit Kommentaren versehenen Lesefassung andererseits.
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In der digitalen Edition können auch Textentwicklungsstufen (Entwürfe versus Endfassung) und intertextuelle Bezüge dargestellt werden.
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Und schließlich wird das Textcorpus durch eine Webapplikation open access zugänglich und kann als Webseite überall verwendet werden.
Das Editionsprojekt am FFJI läuft seit Ende 2018. Die technische Umsetzung begann im Sommer 2021 in Kooperation mit dem Forschungsinstitut Brenner Archiv an der Universität Innsbruck. Im ersten Halbjahr 2023 wird das Projekt voraussichtlich online gehen. Parallel dazu hat das FFJI mit Drittmitteln des Zukunftsfonds Österreich und des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer das Nationalsozialismus das Projekt Jägerstätter 3.0 gestartet, das darauf fokussiert, die digitale Edition für den schulischen und außerschulischen Lernbereich zu implementieren. Denn die digitale Edition richtet sich wie viele Editionen auch an interessierte Laien und Wissenschaftler/innen der Geistes- und Kulturwissenschaften, aber darüber hinaus sind die Schüler/innen und Lehrer/innen der unterschiedlichen Schulstufen in den Fächern Religion, Ethik, Geschichte, politische Bildung etc. eine zentrale Zielgruppe.
Abb. 3: Das Gedächtnisbuch Oberösterreich anlässlich der Präsentation am 19. Mai 2022 im Schlossmuseum Linz, Foto: FFJI © Andreas Schmoller
Gedächtnisbuch Oberösterreich
Eines der ersten Projekte des FFJI, das sich um die Vermittlung bemüht und die regionale Erinnerungskultur stärken möchte, ist das Projekt „Gedächtnisbuch Oberösterreich“.11 Dabei handelt es sich um eine fortlaufend erweiterte Sammlung von Biografien zu Personen, die im Nationalsozialismus aus den verschiedensten Gründen verfolgt waren oder durch widerständiges Handeln gegen das NS-Regime ihr Leben in Gefahr brachten. In einem jährlich stattfindenden Projektablauf werden Teilnehmer/innen zur historischen Recherche und Auseinandersetzung mit einer ausgewählten Biografie angeleitet.
Als Teilnehmer/innen kommen Familienangehörige von Opfern bzw. Verfolgten, örtliche Personenkomitees und Initiativen in Oberösterreich mit Interesse an NS-Ortsgeschichte, außerschulische Jugendorganisationen, Studierende der Universitäten und Hochschulen in Linz – kurz Personen mit einem persönlichen, örtlichen oder inhaltlichen Bezug zur Biografie – in Betracht. Die Teilnahme steht auch Ordensgemeinschaften offen, die sich mit Biografien aus dem eigenen Orden in der NS-Zeit auseinandergesetzt haben oder dies tun möchten. Folgende Ordensmitglieder haben zwischen 2019 und 2022 Eingang in das Gedächtnisbuch OÖ gefunden: Anna Sr. Febronia Ahamer (Kongregation Barmherzige Schwestern des Hl. Karl Borromäus Wien)12, Konrad Just (Zisterzienserstift Wilhering)13, Christian Gasselseder (Kapuziner)14.
Die Projektteilnehmer/innen sammeln zunächst selbständig Informationen über Lebensweg, Schicksal, Familie, Weltbild etc. der ausgewählten Person. Danach wird die Auseinandersetzung mit der Person durch das Verfassen und Gestalten der Biografien für das Gedächtnisbuch intensiviert. Damit werden nicht nur die Geschichten ehemals verfolgter bzw. widerständiger Personen im kollektiven Gedächtnis bewahrt und neue Quellen erschlossen, sondern auch in Beziehung zur eigenen Biografie und Gegenwart gesetzt.
Als Ergebnis entsteht ein vierseitiges Porträt aus Text, Bild und/oder Dokumenten, das als bleibendes Zeugnis in das Gedächtnisbuch eingefügt wird. Das großformatige Buch wurde eigens von einer Welser Buchbinderei in Handarbeit für dieses Projekt angefertigt und mit einem von der Linzer Künstlerin Katharina Loidl entworfenem Logo versehen. Die Materialität des Erinnerns und die Rolle des Buches als Gedächtnismedium werden dabei in Szene gesetzt.
Die „neuen Seiten“ des Gedächtnisbuches werden jeweils bei der jährlich stattfindenden feierlichen Präsentation aufgeschlagen. Dadurch wächst das Gedächtnisbuch als Sammlung von NS-Verfolgtenbiografien kontinuierlich weiter. Das Gedächtnisbuch OÖ kann im Mariendom Linz und Linzer Schlossmuseum eingesehen werden, wodurch das Erinnern auch in verschiedene Kontexte gestellt ist.
Das Projekt entstand in Anlehnung an das Projekt Gedächtnisbuch Dachau und wird von der Projektgruppe „Gedächtnisbuch OÖ“ getragen, die sich im Jahr 2019 aus einer Kooperation von Institutionen und Einzelpersonen gebildet hat. Zum Trägerkreis gehören derzeit neben den Mitarbeiter/innen vom FFJI, Erna Putz, Florian Schwanninger (Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim) und Thomas Schlager-Weidinger (Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz).
Abb. 4: In diesen privaten Nachlassmaterialien wurde ein bislang unbekanntes Jägerstätter Schriftstück entdeckt. Foto: FFJI © Andreas Schmoller
Forschung aktuell: Die Entdeckung eines neuen Jägerstätter Schriftstückes
Es ist ungewöhnlich, dass nach Jahrzehnten intensiver Jägerstätter-Forschung ein unbekannter Text Jägerstätters auftaucht.15 Der letzte vergleichbare Fund liegt zwölf Jahre zurück, als Dr.in Erna Putz die Briefe Franz Jägerstätters an seinen Freund Rudolf Mayr bzw. dessen Frau Maria entdeckte.
Im September 2021 ist von Wilhelm Peterlechner aus St. Radegund ein beidseitig handbeschriebenes DinA4 Blatt dem FFJI übermittelt worden. Der Hofforscher war im Rahmen von Recherchen zu einer Höfechronik in Nachlassmaterialien eines privaten Haushaltes zufällig darauf gestoßen, in der Vermutung, dass es sich dabei um einen Text Jägerstätters handeln könnte. Nachdem das Material, das Schriftbild und der Inhalt des Dokuments von Institutsseite begutachtet wurde, stand zweifelsfrei fest, dass hier tatsächlich ein neuer Jägerstätter-Originaltext vorliegt.
Als erste Besonderheit ist festzuhalten, dass das neuentdeckte Original nicht aus dem Besitz der Familie oder näheren Verwandtschaft Jägerstätters stammt. Unter Umständen ist es einer der letzten Texte, den Jägerstätter vor der Verhaftung am 2. März 1943 verfasste. Das Schriftstück selbst ist undatiert und enthält keinen Adressaten. Weiters gleicht es in Papier, Format und Paginierungsweise anderen Schriften Jägerstätters, die auf losen Blättern erhalten geblieben sind. Für eine Datierung Anfang 1943 (Jänner/Februar, ev. sogar nach Erhalt des Einberufungsbefehles am 23.2.1943) spricht die Erwähnung des „Anschlusses“ im März 1938 als ein Ereignis, das bereits fünf Jahre zurücklag. Mag Jägerstätter die Zeitspanne auch auf fünf Jahre aufgerundet haben, muss der Text zumindest Ende 1942 entstanden sein. Der Inhalt anderer loser Blätter findet sich oft wortgleich in einem der drei Hefte wieder, die Jägerstätter in der Entscheidungsphase 1941/42 verfasst hatte. Der Text des neu entdeckten Dokuments deckt sich hingegen in keinem Abschnitt mit bereits bekannten Jägerstätter-Texten. Daher muss festgehalten werden: Dieser Fund enthält bislang unbekanntes Jägerstätter-Schrifttum.
Abb. 5: Der Vermerk „Adam“ am Blattrand auf der Rückseite. Quelle: FFJI
Die Überlieferung des Dokuments ist schwer zu erklären. Als einziger Hinweis dient auf der Rückseite unten ein handschriftlich hinzugefügtes „Adam“, das nicht von Jägerstätter selbst stammt. Adam war der Haus- bzw. Hofname von Jägerstätters Mutter Rosalia Jägerstätter, geb. Huber. Zur betreffenden Zeit lebten in der Adamsölde, Hadermarkt 22, neben der Tante Anna Huber (geb. Schröck) noch einige Cousins und Cousinen Jägerstätters. Falls sich das Dokument zunächst in den Händen der Adamfamilie und somit der unmittelbaren Verwandtschaft befunden haben sollte, so bleibt dabei ungeklärt, ob Jägerstätter es direkt dorthin weitergeben hatte, oder es etwa später dorthin gelangt war. Die Verbindung von der Familie Huber vulgo Adam zur Familie, in der das Dokument gefunden wurde, wäre jedenfalls gegeben. Ein Mitglied der Adamfamilie war Pate des verstorbenen Vaters der Besitzerin, in dessen Unterlagen das Dokuments vor einigen Monaten entdeckt wurde. Sie hat dankenswerter Weise das Original dem FFJI übertragen und ermöglicht, dass der Text in der digitalen Jägerstätter Edition enthalten sein wird.
Zwei Seiten voller persönlicher Facetten
Wir können von einem Text sprechen, der einige bislang unbekannte Elemente in dem uns bekannten Schrifttum des Seligen Franz Jägerstätters aufweist. Das Besondere an dem handgeschriebenen Text sind bereits die Einleitungsworte Wie kam ich eigentlich auf die Idee nicht einzurücken. Viele Schriften Jägerstätters beginnen mit einer Frage. Sie sind stets Ausgangspunkt für eine Argumentation oder religiöse Erörterung. Im neuen Text tritt eine andere Ebene in den Vordergrund, nämlich die zeitliche Abfolge: Wie und wann haben die Gedankengänge ineinandergriffen, so dass schließlich für Jägerstätter klar war, dass die Wehrdienstverweigerung moralisch richtig ist und auch nicht der katholischen Lehre widerspricht. So beginnt Jägerstätter damit, dass er vor einem Jahr in etwa mit der Angst erfüllt war, wieder einrücken zu müssen. Sein Ausgangspunkt war dabei, dass es religiös geboten ist, der weltlichen Obrigkeit grundsätzlich zu gehorchen, auch wenn diese nicht christlich sei.
So dachte ich mir auch immer, was sie zum Gesetze machen können, darf mit der Partei nichts zu tun haben, so war ich halt des Glaubens […] was man zum Gesetze macht oder machen kann, folgen zu müssen. Dachte weiters darüber nicht nach…
Die Erkenntnis, dass es keine Sünde sein kann, wenn er dem Befehl zur Einberufung nicht folgen würde, verdankte Jägerstätter dem Wirken Gottes: Als ich aber meine Zuflucht zu Gott nahm, […] schickte er mir aber dadurch Rettung […] Für die Jägerstätter Biografin Dr.in Erna Putz unterstreicht Jägerstätter in dieser Aufzeichnung die spirituelle Dimension seiner Entscheidung und gibt damit detaillierter als in ähnlichen Stellen die inneren Kämpfe und gedanklichen Schritte wieder, die zu seiner Verweigerung des Kriegsdienstes in der Deutschen Wehrmacht geführt haben.
Eine Bestätigung des neuen Gedankens fand Jägerstätter wenig später, als neue Plakate angebracht wurden, wonach der Beitritt zur HJ eine gesetzliche Pflicht für Kinder zwischen 10 und 18 Jahren war. Damit war für ihn der Beweis erbracht, dass der Nationalsozialismus nicht nur Partei war, sondern auch den Staat und seine Gesetzgebung völlig durchdrungen hatte. Wenn man also auch solches zum Gesetze machen kann, so wurde mir die Sache immer klarer […].
Abb. 6: Das neue Jägerstätter Schriftstück in den Händen von Jägerstätter-Tochter, Maria Dammer, Foto: FFJI © Andreas Schmoller
Im zweiten Teil des Textes, der gedanklich nicht immer leicht mitzuverfolgen ist, kehren Elemente wieder, die von Jägerstätter bereits bekannt sind. Dennoch stößt man auch hier auf Überraschungen. Jägerstätters Grundgedanke dabei: Da nicht die deutsche Volksgemeinschaft, sondern Österreich unser Vaterland ist, befinden wir uns seit dem „Anschluss“ im März 1938 in Gefangenschaft. Dass nun Gefangene gleich nach der Niederlage bzw. Gefangennahme für eine neue Macht kämpfen sollen und dies dann immer damit legitimiert sei, dass man ja nur der weltlichen Autorität folgen müsse, sei schwer vorzustellen und eigentlich auch historisch unüblich. Neu ist in diesem Zusammenhang auch, dass Franz Jägerstätter als Illustration den Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer anführt, der nach seiner Niederlage auch nicht aufgefordert wurde, nun für die Franzosen zu kämpfen.
Das Textende ist ein weiterer Beleg dafür, dass Jägerstätter kein absoluter Wehrdienstverweigerer war, sondern sich an der Lehre vom gerechten Krieg orientierte.16 Die NS-Kriege als „Vaterlandsverteidigung“ umzuinterpretieren, lehnte er vehement ab: Das hätten wir höchstens so betrachten können, wenn wir vor fünf Jahren vom Kanzler Schuschnigg zum Kampfe aufgefordert [Text bricht hier ab]. Militärischer Widerstand im März 1938 gegen den „Anschluss“ hätte definitorisch als Verteidigungskrieg gegolten. Der Verteidigungsfall ist ein Kriterium der Theorie des gerechten Krieges. Die Einfügung höchstens weist aber darauf hin, dass nicht jeder Verteidigungskrieg sogleich ein gerechter Krieg ist, sondern dass darüber hinaus weitere Bedingungen (etwa die Verhältnismäßigkeit) erfüllt sein müssen.
Der Wert des Dokuments für die Forschung
Der neue Text verändert unser Jägerstätter-Bild nicht grundlegend. Der Inhalt steht im eindeutigen Gleichklang mit den bekannten Überlegungen Jägerstätters zum gerechten Krieg, zum anti-christlichen Charakter des NS-Regimes und dem Verhältnis zwischen religiöser und weltlicher Obrigkeit. Dennoch erhält das neue Dokument eine eigene Bedeutung für die Jägerstätter-Forschung. Spannend ist dies vor dem Hintergrund einer internationalen Entwicklung. Nach 1945 begann die katholische Tradition des Gehorsams im Bereich des Wehrdienstes zu bröckeln.17 Die Argumente und Beispiele, die dabei von Katholiken vorgebracht wurden, glichen dabei frappant jenen, die Jägerstätter in diesem Text verwendete. Diese inner-katholische Auseinandersetzung brauchte es, damit die katholische Kirche langsam aber doch, die Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen (so auf dem 2. Vatikanischen Konzil) zu akzeptieren begann.18 Jägerstätter war ein wichtiger „Baustein“ hierfür.
Schlussbemerkung
In den vergangenen vier Jahren wurde das Franz und Franziska Jägerstätter Institut als universitäre Forschungseinrichtung an der Katholischen Privat-Universität Linz aufgebaut. Die Aufgabe und der Auftrag beschränken sich dabei nicht auf die Erforschung von Franz und Franziska Jägerstätter, sondern auch anderen Biografien und Formen des Widerstehens im Nationalsozialismus. Der religiöse, kirchliche und klösterliche Kontext findet dabei besondere Berücksichtigung, um die Vielgestaltigkeit des Zusammenhangs zwischen Glaube und Religion sowie politischem Handeln und Denken zu erforschen. Das FFJI bietet sich deshalb für Kooperationen mit Ordensgemeinschaften bzw. deren Archivar/innen an, um Forschungen in diese Richtung zu initiieren und durchzuführen.
Andreas Schmoller studierte Theologie, Romanistik und Geschichte in Salzburg und Fribourg. Nach Tätigkeiten als Gedenkstättenpädagoge an der KZ-Gedenkstätte Ebensee und Zeithistoriker an der Universität Salzburg, leitet er seit 2018 das Franz und Franziska Jägerstätter Institut an der Katholischen Privat-Universität Linz.
Kontakt: a.schmoller@ku-linz.at
1 Vgl. Andreas SCHMOLLER–Verena LORBER, Reaktionen auf die NS-Euthanasie in der Diözese Linz, in: Verena LORBER–Andreas SCHMOLLER–Florian SCHWANNINGER (Hg.), NS-Euthanasie: Wahrnehmungen – Reaktionen – Widerstand. Im kirchlichen und religiösen Kontext (Innsbruck–Wien 2021) (Historische Texte des Lern- und Gedenkorts Schloss Hartheim, 4) 35–72.
2 Vgl. Ewald VOLGGER, Vom Schafott zum Altar. Bestattung und Translatio des Märtyrers Franz Jägerstätter (Jägerstätter Studien, 1) (Innsbruck 2020) 33–37.
3 Gordon C. ZAHN, In solitary witness. The life and death of Franz Jägerstätter (New York–Chicago–San Francisco 1964).
4 Erna PUTZ, Franz Jägerstätter. "… besser die Hände als der Wille gefesselt …" (Linz 1987).
5 Axel CORTI, Der Fall Jägerstätter (1971).
6 Vgl. Donald J. MOORE, Die Wirkungsgeschichte Franz Jägerstätters im Rahmen der US-amerikanischen Friedensbewegung, in: Alfons RIEDL–Josef SCHWABENEDER (Hg.), Franz Jägerstätter. Christlicher Glaube und politisches Gewissen (Thaur 1997) 176–191.
7 Vgl. Erna PUTZ, Franz Jägerstätter. Reibebaum einer alleingelassenen Generation, in: Manfred SCHEUER (Hg.), Ge-Denken. Mauthausen/Gusen. Hartheim. St. Radegund (Edition Kirchen-Zeit-Geschichte) (Linz 2002) 88–129.
8 Vgl. besonders Erna PUTZ– Manfred SCHEUER (Hg.), Wir haben einander gestärkt. Briefe an Franziska Jägerstätter zum 90. Geburtstag (Linz 2003).
9 Am umfangreichsten ist hierbei: Erna PUTZ (Hg.), Franz Jägerstätter. Der gesamte Briefwechsel mit Franziska. Aufzeichnungen 1941-1943 (Wien–Graz–Klagenfurt 2007); Engl. Franz JÄGERSTÄTTER, Letters and writings from prison, hg. von Erna PUTZ, Maryknoll (NY [u.a.] 2009).
10 Vgl. im Folgenden: Verena LORBER, Franz Jägerstätter im Brennpunkt. Biografie - Quellenkorpus - Digitale Edition, in: Mitteilungen aus dem Brenner-Archiv (2021) 141–155.
11 Online abrufbar unter: https://ku-linz.at/forschung/franz_und_franziska_jaegerstaetter_institut/projekte/gedaechtnisbuch_ooe/ [Zugriff: 14.07.2022].
12 Katharina GREINECKER, Anna Ahammer. Schwester Febronia, in: Gedächtnisbuch Oberösterreich (2019). https://ku-linz.at/fileadmin/user_upload/Forschung/Jaegerstaetter-Institut/Anna_Ahammer.pdf [Zugriff: 14.07.2022].
13 Reinhold DESSL, Pfarrvikar P. Konrad Just OCist (1902–1964). KZ-Priester und „Don Camillo“ des Mühlviertels, in: Gedächtnisbuch Oberösterreich (2020). https://ku-linz.at/fileadmin/user_upload/Forschung/Jaegerstaetter-Institut/GB_2020_Just_Konrad.pdf [Zugriff: 14.07.2022].
14 Ernst GANSINGER, Kapuzinerbruder Christian Gasselseder. Behinderung als Todesurteil, in: Gedächtnisbuch Oberösterreich, 2022. https://ku-linz.at/fileadmin/user_upload/Forschung/Jaegerstaetter-Institut/Bilder/GBOOE_2022_Gasselseder_Christian.pdf (Zugriff: 14.7.2022)
15 Der folgende Teil ist auch als Blogbeitrag erschienen: Andreas SCHMOLLER, Neues Jägerstätter Schriftstück entdeckt, in: Franz und Franziska Jägerstätter Institut, 23.5.2022. https://ku-linz.at/forschung/franz_und_franziska_jaegerstaetter_institut/forschungsblog/artikel/neues-jaegerstaetter-schriftstueck-entdeckt [Zugriff: 14.07.2022].
16 Alois WOLKINGER, Christ, Staat und Krieg. Die Lehre der katholischen (Moral-)Theologie im Vorfeld des Nationalsozialismus, in: RIEDL–SCHWABENEDER (Hg.), Franz Jägerstätter (wie Anm. 6) 111–136.
17 Eberhard SCHOCKENHOFF, Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Ethik (Freiburg im Breisgau [u.a.] 2018).
18 Wolfgang PALAVER, Franz Jägerstätter und die Entwicklung der katholischen Friedensethik nach dem Zweiten Weltkrieg, in: RIEDL–SCHWABENEDER (Hg.), Franz Jägerstätter (wie Anm. 6) 239–250.