Museen als Orte der Bildung
Museen als demokratische Bildungsorte? – eine Einführung
Museen verstehen sich als Orte, die Exponate jeglicher Art, von Steinzeitwerkzeugen bis NFTs (Non-Fungible-Tokens), nicht nur sammeln, aufbewahren und erhalten, sondern im Zuge von Ausstellungen der wissenschaftlichen wie auch der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich machen.1 Dieses Sammeln von außergewöhnlichen Dingen kann als grundlegend menschliche Eigenschaft verstanden werden, die bereits in der frühen Menschheitsgeschichte vor allem an heiligen Stätten und Herrschaftssitzen praktiziert wurde.2 Bereits in der Antike lassen sich dabei Ansätze davon erkennen, dass Museen Orte der Bildung der Allgemeinheit sind. So öffneten beispielsweise schon die Ptolemäer:innen und die Könige von Pergamon ihre Kunstsammlungen für das gesamte Volk.3 Über die europäische Geschichte hinweg waren es jedoch lange Zeit vor allem (finanziell bzw. materiell) Privilegierte, die Museen für Bildungszwecke nutzen konnten.4 Dabei bleibt die Frage, ob sich der Zugang zu Museen heute wirklich demokratisch gestaltet. Begonnen hat diese Tendenz der Demokratisierung in der Französischen Revolution, als man gegen Ende des 18. Jahrhunderts zunehmend auch Museen der breiteren Bevölkerung zugänglich machte.5 Daraus lässt sich nicht automatisch ableiten, dass die Institution Museum damit einen demokratisch-emanzipatorischen Bildungsanspruch umgesetzt hat. Einer durchaus nachvollziehbaren Kritik zufolge ging es seit der Öffnung nicht primär um Demokratisierung. Es standen vielmehr „die Anerkennung und Einübung von herrschenden Normen […] im Vordergrund der Idee der institutionellen Öffnung.“6 So lässt sich bis heute fragen, inwieweit Museen Macht und Herrschaft nicht vielmehr perpetuieren. So werden immer wieder Versuche gestartet, möglichst vielen Personengruppen Zugang zu Museen zu verschaffen. Auch marginalisierte Gruppen, die nicht dem „Bildungsbürgertum“ angehören, ins Museum zu holen, bedeutet jedoch nicht automatisch, dass diese sich dadurch bemächtigt fühlen, sondern kann auch zu Unwohl-Sein im Sinne eines „Da gehöre ich eigentlich nicht hin“ führen.7
Abb. 1: Museen als Orte der Bildung © Alexander Hoffelner
Seit den 1960er Jahren streichen auch bildungswissenschaftliche Perspektiven die Relevanz des Museums als Bildungsort hervor. Lernprozesse sollen in diesem Zusammenhang zunehmend selbsttätig, aktiv und handlungsorientiert gestaltet werden, wozu das Museum in besonderer Weise geeignet erscheint: „Die Möglichkeit, Wissensvermittlung im Umgang mit kulturell relevant geltenden Objekten anschaulich zu gestalten und mit Selbsttätigkeit zu verbinden, war und ist eines der wichtigsten Argumente für das Lernen im Museum.“8 Darauf aufbauend haben seit den 1970er und 1980er Jahren viele Museen ihre museumspädagogischen Aktivitäten stark ausgebaut, oftmals in Verbindung mit eigenem Personal.9 Die Museumspädagogik bzw. Kunstvermittlung verfolgt dabei das Ziel „der didaktisch-methodischen Vermittlung von Museumsbeständen und Ausstellungen“,10 wobei es auf einem eigenen Blatt steht, wie diese Vermittlung konkret gestaltet und umgesetzt wird. Grundsätzlich kann dabei zwischen einer medialen und einer personalen Vermittlung unterschieden werden.11 Wie eine personale Kunstvermittlung aussehen könnte, die möglichst alle Besucher:innen und deren Voraussetzungen in den Mittelpunkt stellt und auch als kritisch eingeordnet werden könnte, möchte ich in diesem Beitrag theoretisch begründet herausarbeiten und anhand von praktischen Beispielen aus dem Bereich der Theaterpädagogik illustrieren. Unter kritischer Kunstvermittlung wird dabei ein Ansatz verstanden, der aus einer machttheoretischen Perspektive heraus das Museum sowie seine Darstellung und Interpretation von Artefakten gezielt dekonstruiert und es um eigene Deutungen ergänzt.
Kunstvermittlung in Museen
In Museen findet sich heute eine Vielfalt an unterschiedlichen Vermittlungskonzepten. In den meisten Fällen gibt es, oftmals für Erwachsene, Führungen, bei denen hauptsächlich ein:e Vertreter:in des Museums vortragsartig über die Ausstellungsstücke referiert, und diesen Vortrag durch einige, mehr rhetorische, Fragen an das „Publikum“ auflockert. Dies entspricht einer sehr einseitigen Wissensvermittlung, der eine durchwegs asymmetrische Machthierarchie inhärent ist: Die wissende Institution vermittelt an ihr nicht-wissendes Publikum. Die Kunstvermittler:innen „fungieren für das Publikum als die personalisierte Instanz, der Wissen unterstellt wird – und zwar institutionell beglaubigtes Wissen.“12 Dabei könnte durchaus eine Nähe zu dem von Paulo Freire (1921–1997) Anfang der 1970er Jahre aufgezeigten banking concept of education attestiert werden. Freire erforschte das damalige Lernen in Schulen und meinte, dass hier eine Analogie zu Bankkonten vorliege. Die allwissende, erzählende Lehrperson hätte das Ziel, Wissen in die Köpfe der Lernenden zu transferieren, das diese zum geeigneten Zeitpunkt wiedergeben sollten, und zwar genau so, wie sie es gelernt hatten. Dabei ist das Wissen wenig wandelbar und wird von der Lehrperson als Vertreterin der Institution ausgewählt und vermittelt. Lernende sind passive Subjekte, eben im wahrsten Sinne des Wortes subiectum, die sich den Lehrpersonen unterwerfen und damit ihre eigene Unterdrückung perpetuieren.13 Auch wenn man den Institutionen und Kulturvermittler:innen, die narrativ orientierte Führungen abhalten, wohl keineswegs unterstellen würde, dass sie damit bewusst unterdrücken oder ihre Gäste der Mündigkeit berauben, so drückt sich dennoch in diesen Führungen ein bestimmtes Verständnis von Lernen aus, bei dem zu fragen ist, ob es wirklich an den Vorstellungen, Ideen und Bedürfnissen aller Gäste ansetzen kann. Führungen solcher Art sind meist „wenig diskursiv angelegt und von einem autorisierten Sprechen getragen.“14 Durch Fragen am Beginn wie: „Sind Sie das erste Mal hier?“ kann man zwar in etwa ein Gefühl für die Gruppe bekommen, jedoch schwer inhaltlich an Vorwissen und Erfahrungen der Gäste anschließen. Eine gute Kunstvermittlung in Museen ist sich aber der unterschiedlichen Voraussetzungen bewusst, die Museumsbesucher:innen mitbringen, und weiß diese gezielt anzusprechen.15 Eine Führung, bei der allen Besucher:innen mehr oder weniger dasselbe erzählt wird, entspricht jedoch mehr dem Verständnis, dass diese eine homogene Gruppe an Menschen sind, als sie stattdessen individuell in ihren Voraussetzungen anzusprechen. Darüber hinaus gibt es innerhalb dieser Führungen, abgesehen vom Stellen von Fragen, kaum Möglichkeiten sich aktiv am Diskurs zu beteiligen.
Das Museum muss aber im Zuge einer kritischen Kunstvermittlung vor allem aus machttheoretischer Perspektive konkreter in den Blick genommen werden. In der Ausstellungstätigkeit von Museen treten Naturalisierungseffekte hervor, was bedeutet, dass die Institution „den Anschein [erweckt], als wäre sie ewig und würde immer schon genau so bestanden haben.“16 Die Art der Präsentation wird damit als natürlich gezeigt, also so, als gebe es keine andere Art der Interpretation und Darstellung der Artefakte. Das Museum definiert im Rahmen der Ausstellungstätigkeit einen bestimmten Kanon, der Artefakte aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, unter einem neuen Thema bzw. einer neuen Leitfrage rekontextualisiert und dabei eine Homogenisierung der ursprünglich heterogenen Exponate bewirkt.17 Was zu diesem Kanon gehört und wie dieser dargestellt wird, entscheiden die Akteur:innen der Institution. Die Art und Weise der Darstellung, von der Auswahl bis zur Präsentation, ist damit letztlich eine Frage von Macht und Herrschaft, welche die Institution im Rahmen ihrer Tätigkeit ausübt. Die Institution möchte dabei möglichst den Eindruck vermitteln, dass die von ihr gewählte Darstellungsweise eine natürliche ist, und damit als solche nicht hinterfragbar. Dabei handelt die Institution aus einer „bildungsbürgerlichen“ Perspektive, sie repräsentiert ein bestimmtes Milieu und grenzt damit andere Milieus von vornherein aus.18
Auch die Kunstvermittler:innen sprechen und handeln im Rahmen von Angeboten wie Führungen und Workshops namens der Institution, also aus dieser Perspektive der Naturalisierung heraus. Nehmen wir jetzt wieder die „klassischen“ Führungen in den Blick, so steckt hinter diesem narrativen Ansatz der Kunstvermittlung das Bild der erzählenden Institution, die zumindest implizit und über weite Strecken ihre Gäste als unwissend adressiert und dahingehend Inhalte vermitteln möchte. Diese Art der Wissensvermittlung kann ähnlich dem banking concept als asymmetrisches Machtverhältnis in den Blick genommen werden, das Besucher:innen kaum als selbsttätige und mündige Subjekte zu adressieren vermag. Doch nicht nur das ausgewählte Wissen, sondern auch der Weg durch die Ausstellung ist fremdbestimmt. Das zeigt sich in „klassischen“ Führungen, „bei denen Reihenfolge und Auswahl der Exponate vollständig durch den Führer choreographiert werden und der Besucher die Aufmerksamkeitssteuerung mehr oder weniger vollständig an den Führer delegiert.“19
Abb. 2: Partizipative Kunstvermittlung durch theaterpädagogische Methoden © Alexander Hoffelner
Neben diesen Führungsformaten gibt es eine Vielzahl anderer Vermittlungsansätze, die jedoch oftmals (nur) für das jüngere Publikum angeboten werden, und versuchen, die Interessen, Ideen und Vorstellungen der Besucher:innen als Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung zu nehmen. Hier können grundsätzlich Strategien der Wissensvermittlung unterschieden werden, bei denen von Anfang an klar ist, wie der Ausgang sein wird (Rätselrallyes, Quizzes, Suchspiele etc.) und jene, bei denen der Ausgang des Prozesses offen ist. Vor allem die zweite Gruppe könnte als die eigentlich demokratische bezeichnet werden, weil dabei nicht die Institution und ihre Vertreter:innen den Ausgang vorherbestimmt haben. Es liegt in den Händen der Teilnehmenden, den Prozess mitzugestalten und zu einem für sie sinnvollen Ausgang zu führen.20 Diese Ansätze folgen einem partizipativen Verständnis vom Lernen. Die Besucher:innen selbst sind aktiv und haben produktiven Anteil an der Auseinandersetzung, die sie selbst mitbestimmen können. Gemeinsam mit den Kunstvermittler:innen erarbeiten sie Inhalte, wobei beide Seiten dazu beitragen. Die Besucher:innen können Ideen und Wissen einbringen und werden möglichst nach ihren Voraussetzungen in den Interaktionsprozess einbezogen.21 Diesem Ansatz partizipativen Lernens folgt auch eine kritisch orientiere Kunstvermittlung: Sie „will durch das Arbeiten mit künstlerischen Strategien Räume für Imaginationen dessen eröffnen, was (noch) nicht da ist, aber sein könnte. Gleichzeitig werden Mittel an die Hand gegeben, um diese Vorstellungen auszuarbeiten und zu konkretisieren. Ein zentrales Anliegen ist die Ermöglichung von Teilhabe und Mitgestaltung durch alle Beteiligten. Kritische Kunstvermittlung eröffnet Zwischenräume, in denen im Mittelpunkt steht, sich jenseits von Zuordnung und Zuschreibung darauf einzulassen, was zwischen Lernenden und zwischen Lehrenden und Lernenden entsteht und darauf, dass wir dies nicht schon vorher kennen können.“22
Die hier in weiterer Folge dargestellte theaterpädagogische Arbeit kann eine solche Art der Kunstvermittlung grundsätzlich fördern. Im theaterpädagogischen Prozess ist vorher nicht absehbar, wie sich dieser konkret vollzieht. Die Kunstwerke bzw. Artefakte werden dabei als mögliche Impulse für die Auseinandersetzung verwendet, die jedoch maßgeblich von den Beteiligten gestaltet wird. Dabei ist es möglich, die Definitionsmacht des Museums als Institution in Frage zu stellen. Im Rahmen dessen kann Naturalisierungseffekten, die durch Ausstellungen eintreten, entgegengearbeitet werden. Durch die eigene Auseinandersetzung und die dadurch entstehenden neuen Erzählungen können die Narrationen der Institution, wie Oliver Marchart (*1968) vorschlägt, unterbrochen werden, wodurch die Möglichkeit zur Ent-Naturalisierung besteht. Der museale Kanon, der Artefakte ent- bzw. rekontextualisiert präsentiert und damit auch zu einer Homogenisierung der Artefakte beiträgt, kann dabei in Frage gestellt werden, indem er durch Ungenanntes, Unbeachtetes und Ausgeblendetes, das jedoch für die Teilnehmenden relevant ist, ergänzt wird. Besucher:innen können sich dabei den musealen Raum auf ihre je eigene Art und Weise neu aneignen und mit der naturalisierten Umsetzung der Institution nach ihren eigenen Ideen und Impulsen brechen.
Dabei wäre zu berücksichtigen, dass die Kunst- und Kulturvermittlung nicht erst dann beginnt, wenn Ausstellungen bereits fertig eingerichtet und umgesetzt sind. Schon die Planung des Ausstellungskonzepts, der Hängung und der räumlichen Umsetzung hat Auswirkungen und ist Teil der Vermittlung.23 „Dass viele Kunstinstitutionen sich also eine eigene Vermittlungsabteilung leisten, verdeckt nur die Tatsache, dass die Institution selbst eine große Vermittlungsabteilung ist.“24 Daraus lässt sich ableiten, dass das Kuratieren von Ausstellungen vom Vermitteln dieser Ausstellung und ihrer Inhalte keinesfalls zu trennen sind. Insofern wäre zu fragen, ob es nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig ist, die Kunstvermittlungsabteilungen in den Prozess der Ausstellungsgestaltung von Anfang an, nicht nur beratend, sondern produktiv einzubeziehen. Hier müsste gefragt werden, wo Räume in der Ausstellung geschaffen werden können, die gleichsam zum Ort der Bildung werden, und nicht nur (in unserem Fall) theaterpädagogische Zugangsweisen ermöglichen, sondern grundsätzlich auch Möglichkeiten der Mitgestaltung durch die Besucher:innen bieten.
Theaterpädagogisches Arbeiten mit Kunstwerken/Bildern
In Bildungsprozessen spielen Bilder schon lange eine wesentliche Rolle, sei es in verschiedenen Unterrichtsfächern in der Schule, aber auch in der pädagogischen Arbeit in Museen. Die vorliegenden Ausführungen, die sich hier meist konkret auf den Umgang mit Bildern beziehen, gelten dabei auch für andere Artefakte im musealen Kontext. Dabei möchte ich eine Möglichkeit vorstellen, mit Bildern anders zu arbeiten, als dies klassisch der Fall ist. Unter einer klassischen Arbeit mit Bildmedien verstehe ich dabei die Arbeit mit Bildern in dem Sinne, dass Pädagog:innen Fragen zu einem Bild stellen, die von den Lernenden beantwortet werden (sollen). Diese Fragen können sich auf die Beschreibung, Interpretation oder Bewertung des Bildes beziehen. Dabei können Inhalte abgefragt werden, deren Antworten den Lehrenden bekannt sind, oder auch Fragen gestellt werden, die nur aus der eigenen Perspektive heraus beantwortbar sind, offene Fragen. Im Sinne einer subjektorientierten Herangehensweise wären hier Fragen zu bevorzugen, die kein scheinbar objektives Wissen, das die Lehrperson hat, abfragen, sondern auch die Perspektive, die Erfahrungen und das Erleben der Lernenden thematisieren. Sogenannte known information questions,25 die darauf abzielen, Wissen zu überprüfen, tragen wohl mehr dazu bei, dass die Lernenden verinnerlichen, möglichst herauszufinden, was ihre Pädagog:innen von ihnen hören wollen. Ist es jedoch Ziel des Bildungsprozesses, das eigenständige und autonome Denken anzuregen, so wird mehr zu fragen sein, was die Lernenden über ein Bild denken, welche Gedanken ihnen dazu kommen bzw. was sie darüber wissen, ohne die Antwort davor schon parat zu haben und Lernende auf genau diese Antwort hinzutrimmen. Known information questions werden hier nur beschränkt hilfreich sein, wenn man ein Gegenkonzept zum banking concept vertreten möchte, dessen Menschenbild von mündigen Lernenden geprägt ist. Abgesehen von der Auswahl passender Fragen ist diese „klassische“ Art der Arbeit mit Bildmedien eine, die vor allem die kognitive Ebene anspricht und damit die leiblich-aisthetische Ebene26 ausblendet. Genau aus diesem Grund scheint ein theatraler Ansatz des Lernens sinnvoll: „Die theaterpädagogische Arbeit kann über die kognitive Ebene hinausgehen und einen ganzheitlichen, aisthetischen und nachhaltigen Lernprozess ermöglichen, der zudem Kreativität fördern kann.“27 Der lernende Mensch wird dabei also nicht auf sein Denken und Argumentieren beschränkt, sondern in seiner Leiblichkeit angesprochen. Die Gefühlsebene spielt dabei eine wesentliche Rolle, wobei die Kombination dieser Aspekte dazu führen kann, dass Erlebnisse nachhaltiger wirken und damit auch Lernen nachhaltiger möglich wird. Auch der Aspekt der Kreativität betont dabei das selbsttätige Handeln auf Basis eigener Ideen, das wiederum der Subjektorientierung des Lernens entspricht.
Abb. 3: Theaterpädagogisches Arbeiten im Museum: Handeln in Als-ob-Situationen © Emily Fisher
Beim Theaterspielen handeln die Teilnehmenden in „Als-ob-Situationen“. Sie können also Situationen erleben, in denen sie sind und gleichzeitig nicht sind. Sie handeln in einem Erfahrungsraum zwischen Realität und Fiktion.28 Theaterpädagogische Übungen sind insofern Spiele, als dass sie ein bewusstes Austreten aus der alltäglichen Realität ermöglichen, die in eine fiktionale Realität übergeht.29 In dieser können Erfahrungen gemacht werden, die im „echten Leben“ gar nicht gemacht werden könnten, weil sie bspw. unrealisierbar, gefährlich oder illegal sind. Der theatrale Erfahrungsraum ermöglicht also Handlungsspielräume, die im Alltäglichen nicht möglich wären, und bietet damit ungeahnte Bildungsmöglichkeiten.
Die Rolle der Theaterpädagog:innen ist dabei eine anleitende, die möglichst demokratisch angelegt werden sollte. Es wird über die Anleitung zu einer Übung die Struktur vorgegeben, in der sich die Spielenden bewegen können. Danach wird der Prozess moderiert, in die Handlungsvollzüge aber möglichst wenig steuernd eingegriffen. Es ist dabei von autoritären Handlungsweisen Abstand zu nehmen, die sich durch „[i]mposing one’s own experiences, frames of reference and behavior patterns upon another“30 auszeichnen. Das bedeutet, dass die eigenen Vorstellungen und Annahmen der Pädagog:innen über die Gruppe und den Prozess so gut wie möglich zu reflektieren sind. Christoph Nix (*1954) sieht (Theater-)Pädagog:innen als Personen, die sich nicht als neutrale Vermittler:innen verstehen, die sie gar nicht sein können. Sie müssten verstehen, dass sie immer auch politische Menschen sind und als Pädagog:innen vielmehr „Anti-Pädagogen, Gegner von geschlossenen Systemen, Öffner in geschützten autonomen Räumen“31 sein müssen. Damit verbindet sich die Frage, wie in Institutionen wie der Schule oder dem Museum, die in bestimmten Herrschaftsverhältnissen existieren, eine solche Art emanzipatorischer Vermittlung möglich ist. Diese müsste nämlich nicht nur das eigene Handeln, sondern auch die Institution selbst ständig in Frage stellen können und dürfen, um tatsächlich ihrem kritisch-emanzipatorischen Anspruch gerecht werden zu können.
Theaterpädagogische Übungen für das Museum
Basierend auf den vorab dargelegten theoretischen Erwägungen, soll nun der Übergang in die Vermittlungspraxis ermöglicht werden. Ich möchte im Folgenden einige Übungen vorstellen, die gewissermaßen praxisbewährt sind, und auch den im Hinblick auf Theater Unerfahrenen nicht schwerfallen werden. Die Übungen sind derart organisiert, dass am Beginn die niederschwelligeren und weniger zeitintensiven Übungen vorgestellt werden. Nach und nach werden die Übungen etwas anspruchsvoller. Zielführend kann es sein, vor den Übungen ein kurzes Warm-Up zu machen, bei dem die Teilnehmenden nicht nur körperlich und stimmlich aufgewärmt werden, sondern auch in einen Spielmodus kommen. Dieser beinhaltet jedenfalls das möglichst freie Assoziieren und das Impulsen-Nachgehen sowie das Einlassen-Können auf Figuren, Situationen und Emotionen. Auch wenn in der Folge hauptsächlich von Bildern die Rede ist, möchte ich dazu ermutigen, die Übungen (mit etwas kreativer Abwandlung) auch auf andere Ausstellungsgegenstände anzuwenden.
Akustische Bildbelebung
Die Teilnehmenden suchen sich auf einem Bild ein Element (eine Person, einen Gegenstand etc.) aus und überlegen sich, was dieses Element denken oder sagen könnte. Sie sollen dies möglichst in einem kompakten Satz umsetzen. Danach sprechen die Teilnehmenden der Reihe nach ihre Sätze aus. Bei jedem Satz kann nun von der Gruppe besprochen werden, zu welchem Element auf dem Bild dieser wohl passen könnte. Die Teilnehmenden sollen hier auch gerne begründen, warum für sie dieser Satz zu dem von ihnen genannten Element passt. Sinnvoll ist diese Übung dann, wenn sie nicht darin ausartet, dass man das „richtige Element“ findet, sondern ein Raum an Möglichkeiten eröffnet wird. Nachdem eine mögliche Antwort besprochen wurde, sollen weitere besprochen werden. Es geht nicht darum, was richtig oder falsch ist, sondern es geht um das genaue Betrachten des Bildes und um das Herstellen eines Bezugs zu den einzelnen Elementen des Bildes. Manchmal habe ich es auch gerne, wenn wir gar nicht auflösen, wo der Satz ursprünglich dazugehört hat, sondern im Raum der Möglichkeiten bleiben. Anschließend kann mit einigen Sätzen weitergearbeitet werden. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Variante 1: Drei bis fünf Personen stellen sich in einem Kreis auf und wiederholen ihre Sätze immer wieder, teils durcheinander, teils einzeln. Sie sollen außerdem probieren, in verschiedenen Stimmungen und Emotionen ihre Sätze zu sagen, sodass ein Stimmengewirr entsteht und das Bild auditiv zum Leben erweckt wird. Das Stimmengewirr kann auch mittels Audioaufzeichnung festgehalten werden.
Variante 2: Jeweils zwei Personen gehen zusammen und improvisieren einen Dialog, der jedoch auf der Ebene des Ausgesprochenen nur aus ihren Sätzen aus der Übung besteht. Abwechselnd sagen sie diese immer wieder. Sie können dabei in Emotion, Betonung, Stimmung, Lautstärke usw. variiert werden, sodass die Sätze einen neuen Sinn erhalten. Hier kann auch mit dem Subtext32 gespielt werden.
Variante 3: Die Teilnehmenden führen ein Chorstück auf. Dazu stellen sich etwa sechs bis acht Personen in einem Halbkreis auf. Eine Person dirigiert und gibt die Einsätze. Wichtig ist, dass der Text dabei nicht gesungen werden muss. Es handelt sich um einen Sprechchor. Die dirigierende Person versucht dabei möglichst gut die Emotion und die Intensität zu vermitteln und gibt auch die Einsätze. Es kann dabei der Chor durcheinander sprechen, einzelne Sätze wiederholt werden oder auch einzeln gesprochen werden. Das Dirigat bestimmt die Auslegung des Textes. Auch rhythmische Elemente können sich ergeben.
Variante 4: Ausgehend von dem Satz, den sich die Personen überlegt haben, werden innere Monologe geschrieben bzw. improvisiert. Diese können anschließend in der Gruppe vorgelesen bzw. vorgetragen werden.
Variante 5: Immer zwei Personen entwickeln zusammen einen Dialog. Der Ausgangspunkt dafür ist jeweils der von den Personen überlegte Satz. Der Dialog kann improvisiert oder aufgeschrieben werden.
Arbeit mit freeze frames
In der theaterpädagogischen Arbeit wird gerne mit sogenannten freeze frames33 gearbeitet. Das entspricht der Idee, dass man eine Szene an einer bestimmten Stelle anhält und demnach alle handelnden Personen „einfrieren“. Die Personen sind damit Statuen. Diese Statuenbilder, oder eben freeze frames, können improvisiert oder auch vorab geplant werden. Sie sind eine sinnvolle Möglichkeit, um Szenen in entschleunigter Art und Weise betrachten zu können. In der Auseinandersetzung mit Kunstwerken können Teile eines Werks von den Teilnehmenden in Statuen dargestellt werden. Dabei versuchen die Teilnehmenden, die Haltung der Elemente auf dem Kunstwerk möglichst mit ihren eigenen Körpern darzustellen. Damit kann man sich selbst mit dem eigenen Körper in die jeweiligen Elemente auf dem Kunstwerk hineinversetzen. Auch hier gibt es verschiedene Varianten, wie mit den freeze frames weitergearbeitet werden kann.
Abb 4: Arbeit mit freeze frames © Christian Tesak
Variante 1: Mit den restlichen Teilnehmenden werden die freeze frames besprochen. Es kann in einem ersten Schritt beschrieben werden, was genau (bei den freeze frames, nicht beim Original) gesehen werden kann. In diesem ersten Schritt sollte man von Interpretationen noch Abstand nehmen, um möglichst einmal das Gesehene erfassen zu können. Im nächsten Schritt können die Teilnehmenden interpretieren, was das Dargestellte bedeuten könnte. Hier kann möglichst frei, abseits des Originals, interpretiert werden. Danach kann im letzten Schritt wieder der Bezug zum Original hergestellt und Gemeinsamkeiten und Differenzen zum ursprünglichen Werk diskutiert werden.
Variante 2: Personen können sich nun abwechselnd von außen zu den Personen im freeze frame dazustellen und deren Gedanken aussprechen. Es können dabei auch mehrere Personen miteinander in Dialog treten.
Variante 3: Die Personen im freeze frame können auf ein Zeichen hin (Antippen oder Zeigen) ihre Gedanken aussprechen. Auch hier können Dialoge entstehen.
Bei Variante 2 und 3 kann auch jeweils nach dem Aussprechen gefragt werden, ob sich Figuren verändern wollen, damit es ihnen besser geht.
Danach kann reflektiert werden, was die Statuen mit dem Original zu tun haben. Es kann außerdem darüber gesprochen werden, wie es den Personen in den Statuen ging, wie sie sich gefühlt haben, welche Gedanken sie hatten. Außerdem kann (Variante 2) besprochen werden, wie es sich angefühlt hat bzw. was es an der Situation auch verändert hat, als sich Personen von außen dazugestellt und ihre Gedanken geäußert haben.
Variante 4: Die Statuen werden als neues Kunstwerk wahrgenommen, das im Rahmen einer Pressekonferenz oder Führung vorgestellt wird. Eine Person übernimmt die Rolle der Vermittlung und beantwortet Fragen aus dem Publikum.
Arbeit mit Monologen
Die Teilnehmenden können mit der Methode des inneren Monologs arbeiten. Dabei versetzen sie sich entweder in ein Element des Kunstwerks oder in die Person(en), die das Werk geschaffen hat (haben). Ausgangspunkt könnte also sein, sich in den Rahmen eines Bildes oder in eine konkrete Figur auf dem Bild zu versetzen. Oder man stellt sich die Künstler:innen bei der Erarbeitung des Werks vor. Aus dieser Sichtweise heraus kann nun ein Monolog improvisiert oder niedergeschrieben werden.
Variante 1: Der innere Monolog wird improvisiert. Je nach Offenheit, Vertrautheit und auch Erfahrung mit dieser Methode können innere Monologe vor größerem Publikum oder aber auch in Kleingruppen oder für sich alleine improvisiert werden. Die Person spricht dabei einfach los. Auch (Denk-)Pausen sind erwünscht und legitim. Der Monolog kann dabei nur in Gedanken entwickelt oder ausgesprochen werden. Er kann aber auch mittels Smartphone aufgezeichnet und in weiterer Folge abgespielt werden.
Variante 2: Der innere Monolog wird niedergeschrieben. Es handelt sich dabei um einen Akt kreativen Schreibens. Im Anschluss kann der Text mit theatralen Methoden vorgespielt oder vorgetragen werden. Der Text kann in unterschiedlichen Emotionen gelesen werden (Frage zur Reflexion: Wie verändert sich der Text in der jeweiligen Emotion? Wie wirkt er im Unterschied zu anderen Emotionen?). Der Text kann rhythmisch gelesen werden, in verschiedenen Intensitäten und Lautstärken, usw. Als Alternative dazu können die Texte auch einfach ausgetauscht werden und die jeweils anderen Teilnehmenden suchen auf Basis des Textes das dazu passende Kunstwerk bzw. diskutieren, zu welchen anderen Kunstwerken der Text noch passen könnte.
Arbeit mit Dialogen
Dialoge können als Weiterentwicklung der monologischen Arbeit betrachtet werden, bei der zwei (oder auch mehrere) Personen interagieren. Dabei suchen sich die zwei Personen jeweils ein Element des Kunstwerkes aus, in das sie sich hineinversetzen. Dann wird wieder aus den beiden Varianten „Improvisieren“ oder „Schreiben“ gewählt. Im Bereich des Schreibens besteht die Möglichkeit, sich verschiedener Formate zu bedienen. Es können Briefe geschrieben werden, von einem Element des Bildes zu einem anderen, oder sogar von einem Bild zu einem anderen oder auch Chatnachrichten ausgetauscht werden, bspw. über datenschutztechnisch halbwegs sichere Telekommunikationsapps wie bspw. Signal. Die Kunstwerke bzw. ihre Elemente treten dabei in einen schriftlichen Dialog.
Abb. 5: Szenisches Arbeiten mit Kunstwerken © Alexander Hoffelner
Reflexion
Nach den Übungen ist es sinnvoll und oft notwendig, Raum für Reflexion zu schaffen. Je nach Ziel und Fokus der Übung kann diese ganz unterschiedliche Aspekte in den Blick nehmen. Die Reflexion wird dabei grundsätzlich von der kunstvermittelnden Person über Fragen gesteuert, wobei die Antworten, möglichst ohne dabei zu werten, gesammelt werden. Grundsätzlich kann auf der inhaltlichen Ebene analysiert werden, was gesehen wurde, was das bedeuten könnte und wie das Gesehene zu bewerten wäre. Es kann auf der subjektiven Ebene gefragt werden, wie es den Spielenden bei der Übung ging, welche Gedanken und Gefühle hochgekommen sind. Dieselben Fragen können dem Publikum gestellt werden. Der Fokus kann aber auch auf den entstandenen Figuren bzw. Geschichten liegen: Wer waren die handelnden Figuren? Was haben wir über sie erfahren? Welche Geschichte hat sich ergeben? Wie haben sich die verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten unterschieden bzw. welche Ähnlichkeiten hatten sie? Darüber hinaus kann auch immer der Bezug zum Kunstwerk hergestellt werden. Hier könnte man fragen: Was könnte das Gespielte/Gesehene mit dem Kunstwerk zu tun haben? Wie siehst du das Kunstwerk nun nach der theatralen Auseinandersetzung? Welche Fragen haben sich für dich über das Kunstwerk und seine Entstehung bzw. die Künstler:innen ergeben? Was möchtest du nun wissen? Welche eurer Performances bzw. selbstgeschriebenen Werke sollten wo in der Ausstellung zu finden sein? Welche vorhandenen Werke müssten ergänzt oder erweitert werden? Insbesondere die letzten Fragen lassen sich im Rahmen des kritischen Ansatzes als Unterbrechen der Ausstellung verstehen. Darüber hinaus kann in der Reflexion auch der Bezug zum (kunst-)historischen Kontext des Werkes, seiner Entstehungsgeschichte, seiner Bedeutung sowie den Künstler:innen hergestellt werden. Umgekehrt ist es aber auch möglich, Informationen zu den Werken vorab zu vermitteln, um darauf aufbauend die Übungen durchzuführen.
Praxisnahe Anmerkungen
Die Übungen, die ich hier dargestellt habe, sind von mir selbst vielfach erprobt worden, sowohl mit Kindern und Jugendlichen als auch mit (angehenden) Lehrer:innen in der Aus- und Fortbildung sowie Kunstvermittler:innen in verschiedenen Institutionen. Nicht zuletzt ist ja die Idee für diesen Beitrag aus einer Veranstaltung im Museum am Dom St. Pölten im Mai 2022 hervorgegangen, die sich mit der Frage „Kunst vermitteln – aber wie?“ beschäftigte. Bei dieser Tagung waren über 30 Vertreter:innen aus klösterlichen Sammlungen anwesend, die zum Teil erstmals theatrale Erfahrungen gesammelt haben und dabei spürbar profitiert haben.34 Die Punkte, die ich nun noch anmerken möchte, resultieren aus meinen Erfahrungen mit dieser Art von Arbeit mit unterschiedlichen Personengruppen.
Mir ist es wichtig, klarzustellen, dass die theaterpädagogische Arbeit im Rahmen kritisch-emanzipativer Kunstvermittlung den Standpunkt vertreten muss, dass keine Person etwas tun muss, wenn sie das nicht möchte. Manchmal braucht es Zeit und Überwindung, um sich auf die Übungen einlassen zu können. Manchmal braucht es möglicherweise auch die Einladung zu einer Übung, die jedoch keinesfalls die Grenzen der teilnehmenden Personen überschreiten sollte. Das bedeutet auch eine Verabschiedung von „jenen autoritären Gesten, die darin bestehen, andere unbedingt aktivieren zu wollen.“35 Es besteht oft ein schmaler Grat zwischen dem motivierenden Zuspruch und dem überfordernden Zwang, den es in der theaterpädagogischen Arbeit sensibel handzuhaben und gezielt zu reflektieren gilt. Theaterpädagogisches Arbeiten braucht jedenfalls einen geschützten Rahmen, manchmal auch einfach den überschaubaren Rahmen der Kleingruppe. Die Übungen selbst können zwar auch vor einer größeren Gruppe praktiziert werden, gerade mit unerfahrenen Spieler:innen bietet es sich aber auch an, die Gruppe in Kleingruppen zu zwei bis drei Personen aufzuteilen, um so das Ausprobieren im Kleinen zu ermöglichen, ohne dass der Rest der Gruppe zusieht. Einen geschützten Rahmen gilt es aber auch in der Arbeit in der Großgruppe sicherzustellen. So ist von der anleitenden Person nicht nur darauf zu achten, dass sich die Teilnehmenden wohlfühlen und nichts tun müssen, was sie nicht tun wollen. Die kulturvermittelnde Person hat auch darauf zu achten, dass über das Gesehene immer nur aus der jeweils subjektiven Perspektive gesprochen wird. Teilnehmende können sagen: „Ich habe X gesehen.“ oder „Für mich bedeutet das Y.“ Abstand sollte man möglichst von Bewertungen des Spiels der Personen nehmen. Schließlich geht es hier nicht darum, aus den Teilnehmenden gute Schauspieler:innen zu machen, sondern die eigene Erfahrung und das Erleben stehen im Mittelpunkt und diese können sich von Teilnehmer:in zu Teilnehmer:in sehr unterschiedlich gestalten. Wesentlich ist es, Reflexions(zeit)räume zur Verfügung zu stellen, in denen über die eigenen Erfahrungen gesprochen werden kann und auch Unsicherheiten und Ängste thematisiert werden können. Das gilt es bei der zeitlichen Planung zu berücksichtigen. Die Freude und der Enthusiasmus am eigenen Spiel sollten dabei ebenso Platz haben wie die Thematisierung von Widerständen und Ängsten.
Fazit
Theaterpädagogische Methoden bieten die Möglichkeit, kritisch-emanzipatorische Kunstvermittlung zu ermöglichen, Lernen subjektorientierter zu gestalten sowie den Ausgangspunkt bei den Voraussetzungen der Lernenden zu nehmen. Verstehen wir Museen als Orte, die Bildung ermöglichen sollen, und damit einem kritisch-emanzipatorischen Anspruch gerecht werden müssen, dann bieten theaterpädagogische Ansätze hier hilfreiche Möglichkeiten. Gemeinsam mit den Teilnehmenden können Kunstvermittler:innen hier gegen die Naturalisierungseffekte der Institution arbeiten und die Narrative der Ausstellung kreativ unterbrechen. So werden im theatralen Spiel eigene Deutungen der Exponate bzw. Umdeutungen der Ausstellung realisiert, die entgegen dem banking concept of education keine einseitige, asymmetrische Wissensvermittlung zum Ziel haben, sondern die persönliche spielerisch-reflexive Auseinandersetzung mit den Exponaten.
Im Idealfall kann die theaterpädagogische Arbeit über den Moment hinaus wirksam werden, indem sie, nach Interesse und Einverständnis der Teilnehmenden, auch festgehalten und zum integrativen Teil der Ausstellung gemacht werden kann. Auch hier könnte das Narrativ der Institution unterbrochen werden. Es könnten Audiofiles, Fotos, Videos und anderen mediale Produkte entstehen, die auch für andere Besucher:innen sichtbar gemacht werden. Eine Berücksichtigung dessen müsste ebenfalls schon beim Kuratieren der Ausstellung stattfinden.
Inwieweit eine kritisch-emanzipatorische Kunstvermittlung im Rahmen einzelner Institutionen tatsächlich umgesetzt werden kann, ist natürlich fraglich. Schließlich müsste sich die Institution damit selbst kritisch befragen und angesichts des politisch-ökonomischen Drucks ist das wohl nicht immer leicht.
Sollten Institutionen diese Art der Vermittlung jedoch umsetzen, bleibt noch die Frage, wie ein solches Programm an das Publikum gebracht werden kann? Im Rahmen von Führungen und Workshops für Schulgruppen scheint das einfach, weil hier vermehrt ein interaktives Programm üblich und auch angenommen wird. Doch wie wäre das mit erwachsenen Individualgästen? Angelika Doppelbauer geht davon aus „dass viele Erwachsene interaktive Vermittlungsprogramme, wie sie hauptsächlich für Kinder angeboten werden, oder praktisches, handlungsorientiertes Arbeiten lieben. Die wenigsten gestehen sich das jedoch ein. Es besteht für Erwachsene eine Hemmschwelle, solche Vermittlungsangebote in Anspruch zu nehmen. Gelingt es, sie dazu zu bewegen, sich auf eine solche Aktivität einzulassen, kommt es oft zu erfüllenden Erlebnissen.“36 Die Frage ist also, wie mit der hier konstatierten Hemmschwelle produktiv umgegangen werden kann. Welcher Art von Werbetexten, Slogans oder Einladungen bedarf es, um Erwachsenen ein solches Vermittlungsprogramm schmackhaft zu machen? In welcher Form müsste ein solches Programm umgesetzt werden? Und wie kann mit Blockaden oder Hemmschwellen im Rahmen des Programms umgegangen werden? Diesen Fragen muss sich eine kritisch-emanzipatorische und interaktiv arbeitende Kunstvermittlung letztlich stellen und mögliche Handlungsoptionen erarbeiten, erproben und immer wieder modifizieren.37
Alexander Hoffelner studierte Geschichte, Bildungswissenschaft sowie das Lehramtsstudium Geschichte/Politische Bildung und Geografie/Wirtschaft an der Universität Wien und der Swansea University (UK). Er promoviert derzeit in der Bildungswissenschaft zum Thema "Pädagogische Improvisation" und ist Universitätslektor am Zentrum für Lehrer:innenbildung der Universität Wien sowie an der Akademie der bildenden Künste Wien. Außerdem arbeitet(e) er als Kunstvermittler u.a. im Stift Klosterneuburg und der Albertina Wien sowie als Referent in der Lehrer:innenfortbildung. Er ist freischaffender Schauspieler, Sprecher und Theaterpädagoge.
Kontakt: alexander.hoffelner@univie.ac.at
1 Roland ALBRECHT, Betrachtungen über das Museum im Allgemeinen und über das Museum der Unerhörten Dinge im Besonderen, in: Viktor KITTLAUSZ–Winfried PAULEIT (Hg.), Kunst – Museum – Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung (Bielefeld 2006) 25–35, hier 25–26.
2 Hildegard Katharina VIEREGG, Museumswissenschaften. Eine Einführung (Paderborn 2006) 63.
3 Christine BREYHAN, Was unterscheidet das Museum vom Bahnhof, wo die Menschen kommen und gehen, in: Viktor KITTLAUSZ‒Winfried PAULEIT (Hg.), Kunst – Museum – Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung (Bielefeld 2006) 163–174, hier 164.
4 Ebd. 163–164.
5 Angelika DOPPELBAUER, Museum der Vermittlung. Kulturvermittlung in Geschichte und Gegenwart (Wien–Köln–Weimar 2019) 45.
6 Nora STERNFELD, Der Taxispielertrick. Vermittlung zwischen Selbstregulierung und Selbstermächtigung, in: Beatrice JASCHKE‒Charlotte MARTINZ-TUREK‒Nora STERNFELD (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen (Wien 2005) 15–33, hier 20.
7 STERNFELD, Taxispielertrick (wie Anm. 6)
8 Carmen MÖRSCH, Künstlerische Kunstvermittlung: Die Gruppe Kunstcoop © im Zwischenraum von Pragmatismus und Dekonstruktion, in: Viktor KITTLAUSZ–Winfried PAULEIT (Hg.), Kunst – Museum – Kontexte. Perspektiven der Kunst- und Kulturvermittlung (Bielefeld 2006) 177–194, hier 178.
9 Kristine PREUSS–Fabian HOFMANN, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Kunstvermittlung im Museum. Ein Erfahrungsraum (Münster–New York 2017) 11–27, hier 12.
10 Jörg ZIRFAS, Einführung in die Erziehungswissenschaft (Paderborn 2018) 129.
11 Büro trafo.K, Formate der Vermittlung, in: ARGE schnittpunkt (Hg.), Handbuch Ausstellungstheorie und -praxis (Wien–Köln–Weimar 2013) 103–110, hier 104.
12 Oliver MARCHART, Die Institution spricht. Kunstvermittlung als Herrschafts- und als Emanzipationstechnologie, in: Beatrice JASCHKE–Charlotte MARTINZ-TUREK–Nora STERNFELD (Hg.), Wer spricht? Autorität und Autorschaft in Ausstellungen (Wien 2005) 34–58, hier 34.
13 Paulo FREIRE, Pedagogy of the Oppressed (London 1970/2017).
14 Büro trafo.K, Formate (wie Anm. 11) 104.
15 Stephan SCHWAN, Lernen und Wissenserwerb im Museum, in: Hannelore KUNZ-OTTO–Susanne KUDORFER–Traudel WEBER (Hg.), Aneignungsprozesse – Vermittlungsformen – Praxisbeispiele (Bielefeld 2009) 33–43, hier 34–36.
16 MARCHART, Institution (wie Anm. 12) 38.
17 Ebd. 38–40.
18 STERNFELD, Taxispielertrick (wie Anm. 6) 21–25.
19 SCHWAN, Lernen (wie Anm. 15) 38–39.
20 Büro trafo.K, Formate (wie Anm. 11) 105.
21 Ilse SCHRITTESSER–Julia KÖHLER–Michael HOLZMAYER, Lernen verstehen – Unterricht gestalten. Lehren und Lernen in pädagogischer Perspektive (Wien–Innsbruck 2022) 41–42.
22 Renate HÖLLWART–Nora LANDKAMMER–Elke SMODICS, Taktiken für eine verändernde Praxis. Schnittstellen kritischer Kunstvermittlung und partizipativer Forschung, in: Elke RAJAL–Büro trafo.K–Oliver MARCHART–Nora LANDKAMMER–Carina MAIER (Hg.), Making Democracy – Aushandlungen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität im Alltag (Bielefeld 2020) 85–99, hier 87.
23 Stephan SCHWAN, Nicht immer an der Wand lang. Kunstvermittlung im Raum, in: Kristine PREUSS–Fabian HOFMANN (Hg.), Kunstvermittlung im Museum. Ein Erfahrungsraum (Münster–New York 2017) 179–181.
24 MARCHART, Institution (wie Anm. 12) 34.
25 Hugh MEHAN, “What Time is it, Denise?” Asking Known Information Questions in Classroom Discourse, in: Theory into Practice 18 (41979) 285–294.
26 Unter der leiblich-aisthetischen Ebene wird hier ein Zugang zum Körper verstanden, der diesen als Leib begreift, der ganzheitlich gedacht wird und vor allem auch die Komponente der Sinneswahrnehmung in den Mittelpunkt rückt. Damit wird Lernen nicht rein auf den kognitiven Aspekt reduziert, sondern in seiner gesamten Leiblichkeit wahrgenommen.
27 Alexander HOFFELNER, Zum Performative Turn in der Arbeit mit Bildmedien. Theoretische Überlegungen und konkrete Impulse für die theaterpädagogische Arbeit im Unterricht, in: GW-Unterricht 160 (2020) 45–56, hier 46.
28 Leopold KLEPACKI–Jörg ZIRFAS, Theatrale Didaktik. Ein pädagogischer Grundriss des schulischen Theaterunterrichts (Weinheim–Basel 2013) 174–176.
29 Ursula STENGER, Spiel, in: Christoph WULF–Jörg ZIRFAS (Hg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie. (Wiesbaden 2014) 267–274, hier 267.
30 Viola SPOLIN, Improvisation for the Theatre (Evanston 31999) 3.
31 Christoph NIX, Theaterpädagogik oder müssen wir nicht erst einmal die herrschende Pädagogik in Frage stellen, in: Christoph NIX–Dieter SACHSER–Marianne STREISAND (Hg.), Lektionen 5. Theaterpädagogik (Berlin 2012) 45–52, hier 47.
32 Der Subtext bezeichnet am Theater den unausgesprochenen Text, der unter dem eigentlich Gesagten liegt. Den Subtext denken sich die Darsteller:innen, während sie den eigentlichen Text sprechen. Der Subtext macht die Bedeutung des Satzes aus. Unter dem Wort „Hallo“ könnte als Subtext z.B. „Ich liebe dich“ oder „Ich hasse dich“ liegen. Je nachdem, welcher Subtext unter dem Wort liegt, wird der Satz ganz unterschiedlich ausgesprochen werden.
33 David FARMER, freeze frames, online unter https://dramaresource.com/freeze-frames/ [Zugriff: 29.05.2022]
34 Elisabeth MAYR, Unsichtbares sichtbar machen: Kunst vermitteln – aber wie? https://www.ordensgemeinschaften.at/artikel/6691-unsichtbares-sichtbar-machen-kunst-vermitteln-aber-wie [Zugriff: 30.05.2022]
35 Büro trafo.K, Formate (wie Anm. 11) 106.
36 DOPPELBAUER, Vermittlung (wie Anm. 5) 20.
37 Ich möchte meiner Kollegin Julia Köhler vom Zentrum für Lehrer:innenbildung der Universität Wien für die hilfreichen und kritischen Kommentare zu diesem Text danken.