Kirchliche Chroniken heute schreiben
Vortrag gehalten beim online-Studientag am 31. Jänner 2022.
Geschichtsforschung, die sich mit den relativ kleinen Einheiten von Regionen, Dörfern oder – noch kleiner – Klöstern und Familien befasst, ist sehr stark auf Chroniken und Annalen angewiesen. Viele Aspekte dieser „abgegrenzten“ Lebensformen sind nur in den entsprechenden Archivgattungen dokumentiert. Solche Aufzeichnungen reichen in manchen Fällen bis ins Mittelalter zurück. Dennoch vernachlässigen viele Pfarrgemeinden und Ordensgemeinschaften unserer Zeit ihre Chroniken; paradoxerweise entsteht trotz der medialen Möglichkeiten ein Dokumentationsschwund. Damit wird die Chance vertan, Informationen zu vermitteln, die mit Sicherheit für künftige Forschungen überaus wertvoll sein werden. Dieser Beitrag will einige unkomplizierte Vorschläge machen, um kirchliche Lebenswelten effektiv zu dokumentieren.
Grundsätzlich konzentrierten sich Klosterchroniken und -annalen auf die Geschichte des Klosters und seiner Umgebung. Der Akzent war bis ins 19. Jahrhundert viel juridischer als heute. Dispute über Privilegien und Besitzungen zwischen Mönchen und Kanonikern kamen im Mittelalter oft vor; die Kloster- oder Stadtchronik lieferte gegebenenfalls das schlagende Argument für Gerichtsverhandlungen. Sie enthalten oft Informationen über weltliche und kirchliche Herrscher, berichten über Wirtschaft, Seuchen, Klima und Kriege – ebenso über Erfolg und Missgeschick. Auch wenn diese Notizen auf die Ebene von „berühmten Männern“ und Ereignissen im Königreich fixiert waren, haben sie in manchen Fällen allerhöchste Relevanz für die Forschung gehabt. Ihr immenser Wert entstand mit einem verhältnismäßig geringen Aufwand. Oft sind die Einträge in mittelalterlichen Chroniken nur eine Zeile lang; das soll uns heute als Chronisten1 ermutigen.
Archivare in heutigen Gemeinschaften, die sich mit der Erstellung einer Gegenwartschronik befassen, sind also in bester Gesellschaft. Wer heute die Klosterchronik schreibt, ist in gewisser Hinsicht Nachfolger der wichtigsten Autoren des Mittelalters, auch wenn deren Namen unbekannt sind. Traditionell haben Pfarrer die Pfarrchroniken geführt und Ordensleute die Chroniken ihrer Ordensgemeinschaften; das ergab offensichtlich Sinn. Wo das allerdings heute nicht mehr möglich ist, sind begabte und interessierte Menschen im jeweiligen Umfeld durchaus passende Chronisten.
Die jüngere Forschung hat festgestellt, dass gewisse Chroniken von Frauengemeinschaften eine Gegenfolie zur Juristerei der Männer bilden. Es zeigt sich, dass frühneuzeitliche Chroniken von Nonnen komplexe, vielschichtige Texte sein können.2 Sie enthalten Biographien einzelner Schwestern, Gründungsgeschichten und Abschriften von Predigten. Die in ihnen erhaltenen Reformberichte sind besonders aufschlussreich. Die Chronistinnen hatten teilweise ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Was sie uns hinterließen, ermutigt zur Abwechslung: Man darf als Chronist einmal dokumentarisch, einmal literarisch unterwegs sein. Man darf sich sein Publikum vorstellen und es ansprechen. Chroniken haben Platz für Meditationshilfen, Exerzitienvorträge und sogar Theaterstücke.
Offizielle Richtlinien zum Inhalt der Chronik
Das Kirchenrecht sieht eine Pfarrchronik vor; Chroniken (und Archive überhaupt) dürfen anlässlich der Visitation einer Pfarrkanzlei oder eines Klosters kontrolliert werden. Der Linzer Kirchenhistoriker und Leiter des Diözesanarchivs von 1973 bis 1999, Rudolf Zinnhobler, hielt in einem Vortrag des Jahres 1977 die klassischen Themen fest: „Aufzunehmen ist alles, was das Leben einer Pfarre betrifft: die Personaldaten der Seelsorger einschließlich der Versetzungen; bei Tod eines Seelsorgers ein kurzer Nachruf unter Hervorhebung seiner besonderen Leistungen; die Würdigung verdienstvoller Laien im kirchlichen Bereich einer Pfarre; die politischen und geistigen Strömungen und deren Einfluss auf das Pfarrleben; die Änderungen der Sozialstruktur (Industrie, Pendler); die Arbeit der Vereine und der katholischen Jugend; liturgische Neueinführungen; Hinweise auf den Niedergang oder Aufschwung des religiös-sittlichen Lebens; Berichte über Ordensniederlassungen und deren Tätigkeit; alles, was kirchliche Einrichtungen (einschließlich Bausachen und deren Finanzierung) betrifft; Grundstücksveränderungen (Verkauf, Erwerb); Patronatsangelegenheiten; Kapellen (Renovierung, Reaktivierung aufgelassener und Errichtung neuer Kapellen); Umpfarrungen von Ortschaften oder Häusern; Änderung der Dekanatszugehörigkeit; Berichte über größere religiöse Veranstaltungen (Triduen, Religiöse Wochen, Jubiläen etc.) und deren Ergebnis; Hinweise auf eingewurzelte Bräuche und Missbräuche (z. B. Wallfahrten, Raufen, Trunksucht etc.).“3
Statistiken jeder Art werden immer gerne festgehalten; der Messbesuch und alles was mit Sakramenten- oder Kasualseelsorge zu tun hat, ist immer relevant. Doch schon im Bereich der Statistik erkennt man Kriterien, die sich verschieben. Im 19. Jahrhundert war der Begriff „Osterpflicht“ noch geläufig, heute schwindet die Kenntnis von jährlicher Beichte und dem damit verbundenen Empfang der Kommunion. Eine Pfarrchronik ist keineswegs auf Verwaltungsfragen beschränkt. Bereits 1885 hat Bischof Ernest Maria Müller (1885‒1888) von Linz „seinen“ Klerus dazu ermutigt, viel über die „örtlichen Schulverhältnisse“ zu schreiben; die Zusammensetzung des Bezirksschulrates gehörte für ihn „ohne Frage“ zu den Standardinhalten der Chronik. Ebenso seien Konversionen jeder Art festzuhalten, und „ob gute oder schlechte Blätter [Zeitschriften] in der Gemeinde gelesen werden, ist gewiss nicht überflüssig zu bemerken.“4 Chroniken gelten traditionell auch als eine Art Erbauungsliteratur, weil die guten Bräuche der Pfarre festgehalten werden, wie auch die apostolischen Initiativen des Pfarrers und der Gruppierungen.
Abb. 1: Register im Tagebuch eines Abtes. Abt Albert Nagnzaun ordnet die Einträge alphabetisch und fügt zum Schlagwort „Abtenau“, zum Beispiel, zehn untergeordnete Einträge ein. Unter anderem werden Inhalte über Personalveränderungen, Bauliches und Disciplinaria verzeichnet. Es handelt sich um eine nachträglich angefertigte Reinschrift. Tagebuch des Abtes Albert Nagnzaun von St. Peter, 1824–1828 (ASP, Hs. A 83, p. 453).
Register
Schließen sollte jeder Band einer jeden Chronik mit einem alphabetisch geordneten Register (es darf auch damit anfangen). Dieses Register ist ein Schlüssel zur Chronik und eine überaus lohnende Arbeit. Ohne Register verliert eine Chronik rasch an Wert. Sollte sie noch so viel Detail enthalten, bleibt diese Information ohne Register begraben. Daher empfiehlt sich eine laufende Erfassung von Stichwörtern am Seitenrand der Chronik. Etwa 5 cm Platz sollte man dafür freilassen, um dort Stichworte einzutragen. Das ist eine Sicherung für jeden Fall; anlässlich der Füllung des jeweiligen Bandes sollten alle Stichwörter gesammelt und geordnet werden. Auch wo das nicht geschieht, ist durch die laufende Erfassung zumindest eine sehr gute Grundlage vorhanden, die von späteren Generationen nachgearbeitet werden kann.
Abb. 2: Platz freihalten am Seitenrand. Abt Willibald Hauthaler von St. Peter hat in seinem Tagebuch eine großzügig dimensionierte Spalte für den Eintrag von Stichwörtern freigelassen. Die Einträge enthalten zwar viel Detail, aber die Schlagwörter bringen den Seiteninhalt auf zwei Themen: „P. Edmund Neißl“ und „Ökonomie“. Tagebuch des Abtes Willibald Hauthaler von St. Peter, 1915 (ASP, Hs. A 96, p. 129).
Jeder, der ein Verzeichnis erstellt, muss eine gewisse Klassifikation erarbeiten, die ihre eigene Systematik und Logik braucht. Man soll anfangs auf Intuition und Hausverstand setzen und nicht zu abstrakt werden: Wenn die Chronik beschreibt, wer als Gast zu Mittag da war, dann sollte man eine Oberkategorie „Gäste“ in den Index einbauen. Die Details zum Ablauf des Heiligen Abends oder einer Primiz sollten unter „Liturgie“ klassifiziert werden, oder auch unter „Feste“. Jeder Personenname ist an sich ein Stichwort (so lange es nicht um unüberschaubare Personengruppen geht). Jeder Chronist wird einen eigenen Register-Stil entwickeln, allerdings sind für spätere Benützung Standardisierung und Logik sehr hilfreich.
Mischformen
Die genannten Linzer Beispiele aus dem 19. Jahrhundert dienten dem allgemeinen Anliegen der Informationsdokumentation. Um es auf den Punkt zu bringen: Der Chronist sollte sich seinen Nachfolger als Leser vorstellen. Der Neuling brauchte in seinem Anfangsjahr eine Orientierung in Bezug auf das Leben der Pfarrgemeinde und wusste anhand der Chronik, was dort als traditionell galt und was man von ihm erwarten würde. Diese etwas starre Autor-Leser- Beziehung ist heute nicht mehr verpflichtend. Neue Personalstrukturen und ein Mangelid an Priestern macht die herkömmliche Chronikführung schwierig. Ein Priester betreut oft viele Pfarren und kann nicht Chroniken für alle führen; darüber hinaus sind Priester anderer Muttersprache oft dazu nicht in der Lage.
Einer von vielen Auswegen aus diesem Chronisten-Engpass ist eine Mischform, die man „das kommentierte Pfarrblatt“ nennen könnte. Neuerdings werden die überregional unbekannten und eher bescheiden auftretenden Pfarrblätter neu entdeckt. Eigentlich sind sie kirchliche Medien mit großer Reichweite und sollten allerorts gefördert werden. Wie kürzlich Bischof Manfred Scheuer feststellte, ergeht das Pfarrblatt an fast jeden Haushalt und greift – im Idealfall – Lebensthemen „in einfacher und bildreicher Sprache“ auf. „Das ideale Pfarrblatt ist nahe an den Lebenswelten“, setzte er fort, und unterscheide sich vom „medialen Mainstream“, wenn es auf das Miteinander eingehe und die persönlichen Überzeugungen und positiven Erfahrungen von engagierten Christen festhalte. Weil das Pfarrblatt „Servicecharakter“ habe, dokumentiere es automatisch die aktivsten Lebensbereiche der Pfarre und ihren Jahreskreis.5
Es ist daher ratsam, Pfarrblätter ein weiteres Mal, in einem etwas größeren Format, binden zu lassen und sie zu kommentieren. Das könnte durch Zerlegung der Einzelausgaben geschehen: Eine Seite wird rechts fixiert und auf der linken anfangs leeren Seite eines Albums werden zusätzliche wertvolle Informationen festgehalten. Hier können Details (auch Enttäuschungen und Verluste) für spätere Generationen festgehalten werden.
Pfarrblätter haben natürlich auch Inhalte, die für eine Chronik überflüssig sind. Katechese und Verkündigung sollten niemals im einem Pfarrblatt fehlen, aber für eine Chronik ist etwa eine kalendarische Auflistung von Tagesheiligen nicht sehr aussagekräftig. Andererseits sind im Pfarrblatt alltägliche Informationen enthalten, etwa zu den Gottesdienstzeiten und ehrenamtlichen Kontaktpersonen, die selten dokumentiert werden aber wichtig sind.
Eine Chronik darf persönlich sein
Als Modeworte sind „Lifelogging“ oder „Scrapbooking“ mit den Traditionsbegriffen Chronik und Annalen fast austauschbar. Der Impuls, das eigene Leben als eine Erfahrung zu beschreiben, zu kartographieren und graphisch darzustellen, wird nicht nur in der wissenschaftlichen Forschung eingesetzt, sondern belebt auch die künstlerische Praxis. Es hat sich eine eigene Handelsbranche dazu entwickelt.
Chronisten sollen, egal, auf welcher Ebene der Hierarchie sie sich befinden, ihre Persönlichkeit beim Arbeiten entfalten können. Diese Aussage wäre für frühere Generationen durchaus fragwürdig, denn man hielt Führungspersonen für prinzipiell relevant, nicht aber „das gemeine Volk“. Ein Prachtband über das Klosterleben der Benediktiner bringt es 1929 auf den Punkt: „Die Geschichte eines Benediktinerklosters ist immer die Geschichte seiner Äbte gewesen.“6 Diese Aussage ist zwar nicht falsch, aber ein überstrenger Fokus auf Obrigkeit und vermeintliche Objektivität hemmt den Chronisten. Er soll faktisch bleiben, indem er alle Tatsachen festhält, die in seiner Zeit und an seinem Ort geschehen. Aber in der Auswahl der dokumentierten Ereignisse und der Art und Weise der Beschreibung kommt die Persönlichkeit des Chronisten unvermeidlich zum Ausdruck.
Spätere Leser werden sich im Umgang mit dem Objekt ohnehin ihre eigene Meinung bilden und die Chronik ganz anders auslegen, als wir uns das heute vorstellen können. Es besteht in jedem persönlichen Bericht eine untrennbare Harmonie zwischen der Stimme des Chronisten, seiner Lebenswelt und der Schilderung seiner Geschichte. Diese Harmonie soll sich entfalten können, um möglichst aussagekräftige Inhalte entstehen zu lassen. Vollkommene Objektivität in der Schilderung des angeblich „Wichtigen“ erreicht keiner.
Chronisten stehen Kommunikationsmittel zur Verfügung, um persönliche und gemeinschaftliche Erlebnisse zu verarbeiten, die über die Sprache hinausgehen. Sie dürfen sich als Künstler verstehen. Durch eine Erweiterung auf die Bildebene kann die Umgebung detailreicher festgehalten werden. Das Bild muss sich nicht auf Photographien beschränken, sondern kann auch auf Graphiken und diverse Diagramme zurückgreifen.
Abb. 3: Eine mennonitische Chronik aus 1959 zeigt, wie Bild und Text sich gegenseitig ergänzen. Der Text, feinsäuberlich in Maschinenschrift gesetzt, ist eingerahmt durch die Form eines Werkzeugs. PAX Collection, 1959 Scrapbook (Mennonite Church Archives, Goshen, Indiana, HM1-927 Box 3 Folder 4). Wikimedia Commons (7.12.2010).
Dokumentation geschieht oft an Orten, wo man sie nicht zunächst erwartet: Familienbibeln, zum Beispiel, dienen Forschern als einzigartige Quellen zur Sozial- und Religionsgeschichte. Die Buchgattung ist zwar Massenware, versteht sich aber als biblisches Prachtexemplar und enthält Blätter für handschriftliche Eintragungen, die meist genealogischer Art sind. Gerade weil so wenig in ihnen gelesen wurde, waren die Bibeln ein praktisches Behältnis für wichtige Informationen über eine Familie. Mitglieder der Familien (überdurchschnittlich oft Frauen) hielten Ereignisse wie Geburten, Taufen, Firmungen, Eheschließungen und Sterbefälle darin fest.
Machen wir einen weiteren Schritt in unserer Vorstellung der Chronik: Könnten Konzepte wie „Scrapbooking“ oder „Bullet Journals“ eine Methode zur Bewahrung, Präsentation und Anordnung von persönlicher und gemeinschaftlicher Geschichte werden? Chronisten könnten sich an der Kunst beteiligen, einem einfachen Photoalbum eine Seele zu geben. Zu den typischen Erinnerungsstücken gehören Photos, Ausschnitte von gedrucktem Text und gelegentlich Kunstwerke. Wie Scrapbook-Alben häufig Tagebucheinträge oder beliebige schriftliche Information enthalten, so könnten Kloster- und Pfarrchroniken ähnlich abwechslungsreich sein.
Abb. 4: Aus einer 1905 in Japan erstellten Sammlung von 280 Stoffmustern. Enthalten im Buch sind u.a. Brokate, Stickereien sowie bedruckte und bemalte Baumwollstoffe. Die Textilien stammen aus Indien, Japan und Indonesien und reichen bis ins 17. Jahrhundert zurück. Eine kirchliche Chronistin könnte in vergleichbarer Manier den aktuellen Habit-Stoff ihrer Gemeinschaft oder Alltags-Textilien welcher Art auch immer dokumentieren. Cooper Hewitt, Smithsonian Design Museum, Textiles, Accession Nr. 1905-14-1, Object ID 18145027. „File:Scrapbook (Japan), 1905 (CH 18145027-19).jpg.“ Wikimedia Commons (3.1.2018).
Praktische Hinweise zum Werkzeug
Aus verschiedenen Handreichungen, unter ihnen eine sehr gute aus der Diözese Linz7, habe ich einige Tipps für MiKO-Leser gesammelt.
Natürlich ist säurefreies Papier und dokumentenechte Tinte zu verwenden; Bleistift sollte immer die Wahl im Alltag sein, wenn sonst nur alltägliche Schreibmittel zur Verfügung stehen. Plastik welcher Art auch immer ist verpönt! Kunststoff ist nur dann zulässig, wenn er aus dem verhältnismäßig teuren Archivfachhandel besorgt wurde. Alles andere zerstört Archivalien. Laserdruck ist suboptimal; Tintenstrahldruck ist die bessere Lösung. Am besten händisch schreiben, mit Bleistift. Kirchliche Archive sind derzeit noch nicht weit genug im Umgang mit digitalisierter Archivierung; wo wir physische Textträger haben, ist eine Überleben realistisch; Digitales kann leicht verschwinden. Wer mit einem Textverarbeitungsprogramm arbeitet, riskiert zwar langfristig den Verlust der digitalen Information, genießt aber die Vorteile von Volltextrecherche.
Aus gegebenem Anlass kann es vorkommen, dass man lose Blätter beschriftet und chronistisch bearbeitet, natürlich immer mit Datumsangabe. Material muss manchmal unmittelbar gesammelt werden; der Chronist ist schließlich immer auf Ausschau nach festzuhaltendem Material! Auch diese Methode birgt eine gewisse Gefahr des Verlustes in sich, muss aber nicht schlecht ausgehen, wenn das flüchtig Gesammelte ordentlich abgelegt wird. Lose Blätter sollten schlussendlich gebunden werden. Eine Richtlinie für den Schritt zum Buchbinder oder zum Anlegen einer neuen Mappe liegt bei der 3 cm Regel: wenn der Blätterstapel 3 cm dick geworden ist, ist es Zeit zum Buchbinder zu gehen.
Abb. 5: Mischformen ergeben viele Einsichten. Die abgebildete Archivalie ist Bildchronik und Kunstinventar zugleich, erstellt von P. Willibald Meier von St. Peter im Kriegsjahr 1942. Obwohl die Photographie bedarfsmäßig einfach ist, kann man die Amtszeit eines Administrators gut erschließen, wie auch die Sorge um das abgebildete Gemälde. Spätere Einträge datieren gewissenhaft den weiteren Weg des Kunstwerkes in der Nachkriegszeit. Bildchronik der Propstei Wieting in Kärnten, 20. Jahrhundert (ASP, Photo A 134).
Bilder und Photos sollten sofort beschriften werden. Dabei notiert man das Ereignis und erklärt den Anlass, identifiziert die Abgebildeten namentlich und hält das Datum fest. Zeitgenössische Photos digital zu speichern, ist aus oben genannten Gründen ein Risiko. Es ist sicherer, sie im Fachhandel drucken zu lassen und dann mit konservatorisch unbedenklichen Photo-Ecken einzukleben. Von der Verwendung von Flüssigkleber und Klebestreifen aus dem gewöhnlichen Bürowarenhandel wird aufgrund von konservatorischen Bedenken abgeraten.
Auch Zeitungsausschnitte bedürfen der Kommentierung. Sie klebt man mit archivgerechtem Klebstoff ein und notiert dazu den Namen, das Erscheinungsdatum und auch die Seitennummer der Zeitung. Diese Information steht nicht immer unmittelbar neben dem ausgeschnittenen Text, muss daher oft nachträglich (bzw. gleich beim Ausschneiden) notiert werden. Weitere relevante Drucke sind: Einladungen zu Feierlichkeiten, Rundbriefe, Ankündigungen, Festabläufe, Menüs, Konzerte und Todesanzeigen, auch von Nichtmitgliedern.
Wenn sich zu viele eingeklebte Schichten von Photos, Zeitungsausschnitten und Stoffen ansammeln, dann empfiehlt sich das Entfernen von leeren Zwischenblättern. Die Chronik soll sich nicht blähen, daher kann man bei Bedarf jedes zweite oder dritte Blatt entfernen.
Praktische Hinweise für das Schreiben
Viele machen sich zu viele Gedanken über den passenden, angeblich objektiven Ton. Bei diesem Thema sollte man sich nicht lang aufhalten. Grundsätzlich kann ein Chronist unmöglich vorhersehen, welche Textstellen für einen späteren Rezipienten interessant sein werden. Was er allerdings wissen kann, ist, dass je mehr notiert wird, desto ergiebiger später daraus geschöpft werden kann.
Man soll sich auch nicht durch Sorge ob der „Schönheit“ der Schrift oder des Layouts hemmen lassen. Einfach eine persönliche Erledigungsliste („to do list“) über ein Leben lang aufzuheben, wäre von großem Quellenwert. In diesem Fall dürften die Listen allerdings wenige Abkürzungen und ein etwas höheres Detail enthalten, als gewöhnliche „zu Erledigen“ Listen. Einträge dürften auch nicht durchkreuzt, sondern sollten säuberlich abgehakt werden. Verzeichnisse jeder Art sind wertvoll: Listen von den Namen der Zelebranten, der Küchenangestellten, wer wo seinen Sommerurlaub gemacht hat. Abläufe im Alltag und an Festtagen sind ebenso von Belang. Wer Inspiration sucht, braucht nur das Schwarze Brett anschauen (und es auch dokumentieren).
Abb. 6: Eine mehr oder weniger zufällig gesammelte Anzahl von Anschlägen sagt viel über Zeit und Raum aus, in denen sie entstanden ist. „File:Gurudwara Notice board.jpg.“ Wikimedia Commons (24.10.2020).
Chronik-Eintragungen erfolgen grundsätzlich chronologisch. In manchen Fällen lohnen sich Exkurse oder Eigenberichte, etwa über einen Neubau oder ein längeres Kapitel im Leben der Gemeinschaft (Flüchtlingskrise 2015, Missbrauchs-Aufarbeitung, Sakristei-Inventar).
Formulierungen sollten auch in den nächsten Jahrzehnten verständlich sein, daher sollten Modewörter (auch sie haben ihren Forschungswert) benützt und erklärt werden. Abkürzungen bringen immer eine Auslegungsgefahr mit sich; auch Personennamen soll man nicht abkürzen, sondern ganz ausschreiben. Schönschreiben ist nicht so wichtig wie leserliches Schreiben.
Todesanzeigen sind eine weitverbreitete Quellengattung. Chronisten müssen allerdings nicht warten, bis unsere Mitschwestern und -brüder gestorben sind, bevor wir über sie schreiben. Erweiterte Lebensläufe kann man anlässlich von Jubiläen verfassen und in die Chronik eintragen, oder auch die Festansprachen von den Rednern erbitten und einbringen. Festansprachen können allerdings von der Wahrheit etwas abweichen: ein Chronist könnte die Diskrepanzen kommentieren.
Der Chronist, der in der zu dokumentierenden Gemeinschaft lebt, kann Gesprächsinhalte auf allen Ebenen festhalten, von der Prälatur bis zur alltäglichen Rekreation. Was interessiert die Mitglieder der Gemeinschaft, welche Lager bilden sich zu welchen Themen?
Erwähnungen des Klosters oder der Pfarre in der Regionalpresse gehören ausgeschnitten und eingeklebt. Eine Kommentierung wird in vielen Fällen notwendig sein, weil Journalisten zunehmend kirchenfern sind und gewisse Inhalte eventuell falsch verstehen. Was nicht der Erwähnung wert ist, ist das Wetter oder Nachrichten aus aller Welt, die keinen Bezug zur Gemeinschaft haben.
Gerade weil die persönliche Dimension der Chronik so ausgeprägt ist, sollten Chronisten sich in regelmäßigen Abständen innerhalb ihres Werkes identifizieren. Wenn es einen Chronistenwechsel gibt, soll das kenntlich sein. Die Chronik sollte sich (als Objekt) nicht zu viel bewegen, weil ein Verlust dadurch droht; besser ist es, beim Chronistenwechsel einen neuen Band anzulegen.
Ein Interview zum Annus horribilis 2020
Die Coronakrise bietet sich sehr gut als Beispiel für einen mehrseitigen Chronikeintrag an. Der Chronist kann sich die folgenden Fragen selber stellen, und entsprechend darüber schreiben. Noch besser ist es, andere in seiner Pfarr- oder Klostergemeinschaft zu befragen:
Was macht Dir Sorgen?
Was frustriert Dich? Was enttäuscht Dich? Was wird nicht genügend berücksichtigt?
Was geht Dir seit März 2020 am meisten ab?
Was ist Deine erste Erinnerung an den Anfang der Pandemie?
Wieviele Menschen kennst Du, die an Covid gestorben sind?
Hast Du das Wort Pandemie vor 2020 gekannt?
Was gibt Kraft und Erholung und Perspektive während der Pandemie?
Wie hat sich Dein Verhalten seit dem ersten Lockdown verändert?
Weißt Du aus dem Stegreif, wieviele Lockdowns es bis dato gab?
Als Ergänzungstext zum Interview könnte eine Beschreibung des jeweiligen Corona-Alltags erfolgen: Maskenordnungen, evtl. getrennte Speisesäle, Desinfektionsrituale, veränderte Liturgie, Konfliktthemen, Kontrollmaßnahmen von außen oder oben oder unten, empfundene Widersprüche, Aufklärung bzw. Ignoranz in der Gemeinschaft.
Abschließend sei daran erinnert, dass schriftliche Erzählung ein Kommunikationsmittel von vielen ist. In der Forschung wächst das Interesse an gefühlsbetonten Wahrnehmungen und sogar den haptischen Dimensionen des Alltags. Kirchliche Chronisten sind dabei in einer privilegierten Lage. Sie haben die Gelegenheit, nachfolgende Generationen mit reichhaltigen Inhalten zu versorgen, die den Alltag durch photographische, künstlerische und haptische Spuren beleuchten. Diese Chronistenaufgabe hängt mit dem Beruf des Archivars eng zusammen, denn die Erschließung der Vergangenheit und die Wahrnehmung der Gegenwart sind nicht zu trennen.
Autor:
P. Alkuin Volker Schachenmayr promovierte 1996 in Theaterwissenschaft an der Stanford University. 1998 trat er in Heiligenkreuz in den Zisterzienserorden ein. Er studierte Theologie, Geschichtswissenschaft und Geschichtsforschung und wurde 2005 in Wien im Fach Kirchengeschichte promoviert. 2016 erfolgte die Habilitation an der Universität Würzburg. P. Alkuin Schachenmayr wirkt seit 2020 bei den Benediktinern in der Erzabtei St. Peter in Salzburg und ist Professor an der Hochschule Heiligenkreuz.
Kontakt: nota@schachenmayr.net
1 Zur besseren Lesbarkeit von Personenbezeichnungen und personenbezogenen Wörtern wird die männliche Form genutzt. Das generische Maskulinum gilt für beide Geschlechter [P. Alkuin Schachenmayr].
2 Kate J. P. LOWE, Nuns' Chronicles and Convent Culture in Renaissance and Counter-Reformation Italy (Cambridge 2003).
3 Rudolf ZINNHOBLER, Pfarrarchive, Pfarrbücher, Pfarrchroniken, in: Linzer Diözesanblatt 124 (1978), Beilage 50‒53, hier 51‒52.
4 Ernest Maria MÜLLER, Weisung über die Einführung von Pfarr-Chroniken; in: Linzer Diözesanblatt 28 (1885) 189‒192, hier 190.
5 „Ideales Pfarrblatt ist nahe an den Lebenswelten“ (08.10.2016), https://www.katholisch.at/aktuelles/2016/10/10/ideales-pfarrblatt-ist-nahe-an-den-lebenswelten, archiviert unter perma.cc/W6R4-LXCQ [Zugriff: 1.2.2022].
6 Abtei Maria Laach (Hg.), Benediktinisches Klosterleben in Deutschland. Geschichte und Gegenwart (Berlin 1929) 352.
7 Führung der Pfarrchronik (Merkblatt), erstellt vom Diözesanarchiv Linz (Linz o. J.).