Liturgische Gebrauchsmusik?
Vortrag gehalten am Balduin-Sulzer-Symposium im Zisterzienserstift Wilhering am 17. März 2023.
Balduin Sulzer OCist (*1932, †2019) als Klosterkomponisten zu beschreiben erweist sich angesichts der innigen Verbindung mit dem Stift Wilhering, die, seit er 13-jährig, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als Gymnasiast im Stiftsgymnasium aufgenommen wurde, nie abgerissen ist, als ‚Selbstverständlichkeit‘. Nur hier, im Umfeld ‚seiner‘ Kirche, hat er in seinem Arbeitszimmer – mit Blick auf den Stiftshof – komponiert. Theologisch und musikalisch geschult, unter anderem am Pontificio Instituto di Musica Sacra in Rom, umgeben von der Engel- und Heiligenschar der Stiftskirche wurde geistliche Musik zu einem zentralen Pfeiler seines musikalischen Schaffens, auch wenn er selbst ein wenig nonchalant die Bedeutung von Spiritualität für ihn als Künstler und Menschen ‚herabzuspielen‘ pflegte. Balduin Sulzer hat mit Ausnahme eines Frühwerks aus dem Jahr 1963, dem Lateinischen Ordinarium für Sopran, Alt und Tenor (Instrumente colla parte ad libitum) op. 4 (Nr. 5), den lateinischen Ordinariumstext nicht vertont, obwohl, wie er in einem Gespräch mit mir betonte, für ihn persönlich dem Satz et vitam venturi saeculi des Credos eine ganz besondere Rolle zukam. „Das ist mir ein persönliches Anliegen, eine Art Glaubensanliegen: Ich bin überzeugt davon, dass ich zwar anfing zu existieren, aber dass ich nicht mehr aufhöre zu existieren, sondern dass es in irgendeiner Form weitergeht, [wenn auch] alles ‚totaliter aliter‘ [sein wird].“1 Wie sehr es ihm wichtig war, den Blick über das Irdische hinaus streifen zu lassen belegt auch der Aufgriff der Worte des Heiligen Augustinus (*354, †430)2 in Carmina Mortis op. 142 (Nr. 177) für Sopran und Cembalo aus dem Jahr 1993. „Dort werden wir ausruhen und schauen, / werden schauen und lieben, / werden lieben und loben. / Siehe, was am Ende sein wird ohne Ende“.
Gleichzeitig beschäftigte ihn aber in vielfältigen Schattierungen über Jahrzehnte die Bindung des Menschen an Materielles, die im Bild des ans Kreuz Genagelten einen Kulminationspunkt findet. Immer wieder im Verlauf seines Schaffens konfrontiert er sich mit dem Symbol des Kreuzes. 1970 erlebt Golgotha. Drei Szenen nach Texten von Konrad Weiß für Mezzosopran und Klavier op. 11 (Nr. 14), das Sulzer bereits 1966 komponiert hatte, seine Uraufführung, am 14. Februar 1976 vollendete er die Passio Crucis op. 49 (Nr. 63). In beiden Werken wird der Schmerzensmann – dessen Sein im Ecce Homo einen Kristallisationspunkt findet – in den Blick genommen. Psychische Grundsituationen im Vorfeld von Golgotha, wie Zweifel an der eigenen Berufung, Isoliertheit und zunehmende Vereinsamung angesichts von Verständnislosigkeit, Kälte der persönlichen Umgebung, Ächtung und letztlich Liquidation des unbequemen Idealisten werden in Opus 49 in einer hoch-dramatischen, von wenigen zentralen Motiven gespeisten Tonsprache bloßgelegt. In fiebrigen Gedankenfetzen gleitet in Golgotha erneut der Leidensweg hin zum Kreuz an dem ans Holz Genagelten vorüber. Ausgehend von lyrischen Betrachtungen rückt zunehmend die Dramatik einer Extremsituation ins Zentrum. „Indem er den Menschen in den Mittelpunkt stellt, will Sulzer abgehen von dem mystisch verzerrten Bild des Gottessohns“3, schreibe ich am Ende meiner 1981 eingereichten Diplomarbeit, in der sich Analytisches mit aus vielen Gesprächen mit dem Komponisten Gewonnenem verwebt. Dramatik und Expressivität insbesondere in der Anlage der Gesangsstimme birgt auch op. 246 (Nr. 281), 2005 für eine musikalische Meditation im Kreuzgang des Stiftes komponiert und dem Wilheringer Damenquartett4 zugeeignet: In textlicher Hinsicht basierend auf dem lateinischen Kreuzeshymnus des Venantius Fortunatus (*ca. 530, †609) und vom Komponisten ergänzt durch ins Deutsche übersetzte Texte des Bernhard von Clairvaux (*1090, †1153) rückt in Vexilla Regis prodeunt für Sopran, Schlagzeug und Streichquintett das Kreuz als Zeichen in den Mittelpunkt: ein von Nägeln durchdrungenes Mahnmal von Schmerz und Tod, gleichzeitig aber auch Versprechen eines Weiterlebens – Venantius spricht vom seligen Baum, der Wohlgeruch aus seinen Rinden verströmt, der Früchte hervorbringt, die Nektar an Süße übertreffen.5
Im Vergleich zu diesen Annäherungen an Christi Leiden und Tod erfährt Sulzers Ausdruckswille in den 1989 gezielt für den Anlass einer Rundfunkübertragung komponierten Deutschen Gesängen zur Karfreitagsliturgie für zwei Soprane und Tenor-Solo, gemischten Chor und Instrumente deutliche Begrenzungen: sowohl in zeitlicher Hinsicht, als auch in der Verfügbarkeit von Freiraum für Expressivität und persönliche Ausdeutung. Durch den liturgischen Rahmen ergeben sich klare Vorgaben, fest gesteckte Abgrenzungen, innerhalb derer sich der Kirchenmusiker Sulzer mit seinen eigenen Ansprüchen zu bewegen hat: „Natürlich ist nicht jede Musik für die liturgische Handlung geeignet; da sie aber einmal nur im Zeitablauf leben kann, also ‚dauern‘ muß, soll man sie atmen lassen; und der musikalisch gebildete Liturge wird seine Gemeinde so führen, daß sie während der ‚Dauer‘ der Musik zu aktiv-meditativem Hören angeleitet wird.“6 Sulzers scheinbar widersprüchliche Wortzusammenstellung ‚aktiv–meditativ‘ fällt ins Auge. Mit dem Anspruch von Meditation schlägt er einerseits eine Brücke zu den wesentlich früher für den Konzertsaal bzw. eine konzertmäßige Aufführung konzipierten Opera 11 und 49, andererseits spricht er im Verweis auf Aktion etwas an, das ihm im Kontext liturgischer Musik ganz zentral erscheint: den Einbezug der mitfeiernden, mitsingenden Kirchengemeinde.7
Abb.1: Einblick in die Stiftskirche Wilhering © Kurt Hörbst
Es wird in den folgenden kurzen Betrachtungen darum gehen, die Deutschen Gesänge zur Karfreitagsliturgie im Spannungsfeld zwischen funktionalen, durch die Liturgie vorgegebenen Notwendigkeiten, und künstlerischem Ausdrucksstreben, aber auch aus einer pädagogischen Perspektive zu beleuchten. Als Reflexionsfolie dient mir ein von Sulzer 1984 veröffentlichter Beitrag. Es wäre Ziel meiner Ausdeutung herauszufinden, der natürlich ein gerütteltes Maß an Subjektivität innewohnt, ob es gelingen wird, in dessen Titel Die Liturgie – ein Kunstwerk? das vom Komponisten gewählte Fragezeichen durch ein Ausrufzeichen zu ersetzen. Sulzer verfasste seine wie er schreibt „privaten, ganz unverbindlichen Gedanken eines Musikers“ angestachelt durch Worte des von ihm verehrten Johannes Pauls II. (*1920, †2005), die dieser 1983 anlässlich seines Besuchs in Österreich äußerte: „Im besondern [sic] bedarf die Kirche der Kunst für ihre Liturgie, die in ihrer Vollgestalt ein durch den Glauben inspiriertes Kunstwerk8 sein will unter Einbeziehung aller schöpferischen Kräfte aus Architektur, bildender Kunst, Musik und Dichtung.“9
Wie fast immer in seinem kompositorischen Schaffen schrieb Sulzer die Deutschen Gesänge für ein ihm in seiner künstlerischen Leistungsfähigkeit wohl bekanntes Ensemble. Den Tenor-Solisten Kurt Azesberger (*1960, †2020), die beiden kleiner dimensionierten Sopranpartien sowie das Instrumentalensemble aus zwei Querflöten, Schlagwerk, Geige, Violoncello und Kontrabass hatte er selbst gewählt und als Ausführende eingeladen, der gemischte Chor war allerdings durch die kirchenmusikalische Tradition an der Stiftskirche Wilhering vorgegeben. Die Gestaltung der Kartage obliegt ebenso wie die Musik zur Christmette und beim Fronleichnamsumzug mit dem Wilheringer Pfarrkirchenchor einem Ensemble engagierter Laiensänger:innen, das bei Bedarf durch einige Kräfte ‚von außen‘ Unterstützung erfährt. Es ist ein Chor, zu dem der Komponist in seiner langen Wilheringer Zeit ein sehr persönliches, durchaus emotionales Verhältnis aufbauen konnte: Als Sulzer als Schüler in die dritte Klasse des Stiftsgymnasiums gekommen war, integrierte ihn sein Musiklehrer Pater Maurus Kerner (*1887, †1954), dem auch die Leitung des Pfarrkirchenchors oblag, sogleich als Bassisten. Später – nach dem Lehramtsstudium nach Wilhering zurückgekehrt – übernahm Pater Balduin, noch bevor er seine Kantorei am Stiftsgymnasium etablierte, diesen Klangkörper und machte hier seine ersten Erfahrungen als allein verantwortlicher Chorleiter. Schon damals war ihm bewusst, wie wesentlich im Umgang mit einem Laienensemble eine geschickte Literaturwahl ist: „Meine Aufgabe war in erster Linie, die richtigen Stücke zu finden.“10 Auch wenn Sulzer 1989 schon lange nicht mehr als Chorleiter für dieses Ensemble fungierte – die Leitung lag zu der Zeit in meinen Händen – kannte er die stimmlichen Qualitäten, aber auch den persönlichen Hintergrund vieler der Sänger:innen. Ihnen, aber auch der Kirchengemeinde seine Musik näherzubringen stellte sich in diesem Zusammenhang als Aufgabe dar, die insbesondere den versierten Pädagogen in ihm herausforderte.
Das Spiel mit Vertrautem auf der einen Seite, Befremdlichem auf der anderen Seite erwies sich als probate künstlerisch-pädagogische Strategie, getragen von volksliturgischen Ansprüchen, wie er sie schon als zehnjähriges Kind in den von den Brüdern Joseph Kronsteiner (*1910, †1988) und Hermann Kronsteiner (*1914, †1994) am Linzer Dom gestalteten Glaubensstunden erfahren konnte. Neben dem der gesamten Kirchengemeinde überantworteten „Heil᾿ges Kreuz sei hoch verehret“, neues Gotteslob (GL) 823, dem zwischen Kantor und Kirchengemeinde aufgeteilten Dankgesang GL 297, dem leicht modifizierten, dreistimmig gesetzten Kyrie Ruf aus GL 722 sowie dem den Instrumenten und den Frauenstimmen des Chors zugewiesenen Kehrvers zum Antwortpsalm GL 308 auf eine Melodie von Walther Lipphardt (*1906, †1981) übernahm er ‚wörtlich‘ die 2. und 3. Antiphon aus Hermann Kronsteiners Deutschem Proprium vom Karfreitag (dort zur Übertragung des Allerheiligsten vorgesehen). Im Wissen um die Vorliebe der Sänger*innen, aber auch der Kirchengemeinde für „O du mein Volk“ aus Kronsteiners Proprium11, als einem in Wilhering fast schon ‚institutionalisiert‘ in die Karfreitagsliturgie integrierten Gesang, manövriert er geschickt zwischen Zitaten und der Aufnahme markanter Motive. Diese spinnt er im eigenen Sinn, seinen künstlerischen Intentionen entsprechend, fort, wobei insbesondere dem Tenor-Solisten technisch Herausfordernderes überantwortet wird.
Wiedererkennen erwies sich somit als geschickt genutzte Strategie: Für die Sänger:innen schien das auch als eine Art ‚Rückversicherung‘, dass sie gewisse Passagen ja schon ‚beherrschten‘, für die Kirchengemeinde sollte es eine Art Sicherheitsnetz darstellen angesichts der ästhetischen Herausforderungen seiner Tonsprache, die er, wenn auch ‚dosiert‘ eingesetzt, keineswegs leichtfertig preisgeben wollte.
In geschickter Weise spannte der Komponist den Bogen von Zitaten über Verfremdungen zum ganz Neuen, das auch in den Ansprüchen an das Hörverständnis und damit einhergehend die Treffsicherheit des Chores ‚Befremden‘ auslöste. Nicht Schönklang, sondern Härte, Brutalität im Erleben der Realität des Kreuzes sollten an manchen Stellen im Vordergrund stehen, womit auch in den früheren Kompositionen kompromisslos zum Ausdruck gebrachte Aspekte der Passion in den Fokus rückten. Insbesondere das Hammermotiv aus Golgotha scheint eine in zwei kurze Chorsätze gefasste komprimierte Replik zu erfahren: durch Akzente auf teilweise schwache Zählzeiten, Herausforderungen an ein überartikuliertes ‚Sprechen‘. Ich erinnere mich an viele Schweißperlen in der Erarbeitung, aber auch die nimmer müde werdenden, bildreichen Aufforderungen des Komponisten, hier über ganz unmittelbare sinnliche Empfindungen, die Konfrontation mit dem Bild und körperlichen Leid des ans Kreuz gehämmerten Schmerzensmanns durchaus den Aspekt des Hässlichen, Schmerzhaften im Gesang zum Ausdruck zu bringen.
Abb. 2: Einblick in das Balduin Sulzer Archiv © Stift Wilhering
Lässt sich Sulzers Bestreben, neben Möglichkeiten zu einem kontemplativen Innehalten für Ausführende, in der Stiftskirche Mitfeiernde und über den Rundfunk ‚Dazugeschaltete‘ auch die Dramatik des Karfreitags heraufzubeschwören, als pädagogisches Programm beschreiben? Ich denke, dass eine solche Zuschreibung zu kurz geriete, es dem Komponisten tatsächlich darum ging, im Sinn Johannes Pauls II. Liturgie als ein durch den Glauben inspiriertes Kunstwerk zu sehen, dem immer auch ein hoher ästhetischer Anspruch innezuwohnen hat. Sehr präzise beschreibt Kurt Azesberger in einem Interview mit mir Sulzers Verständnis der Bedeutung von Musik im Rahmen der Liturgie: „Balduin als Kirchenmusiker zu bezeichnen, würde ihm nicht gerecht werden. Balduin ist ein Dramatiker, ist ein Szeniker, ein szenisch denkender Mensch, und ich finde, die Stärken seiner Aufführungen in der Kirchenmusik sind eben deshalb so gegeben, weil er auch Kirchenmusik szenisch denkt.“12 Azesbergers Überlegungen gelten primär dem Dirigenten Balduin Sulzer in der Gestaltung vieler musikalischer Hochämter in der Stiftskirche sowie zwischenzeitlich als Domkapellmeister am Linzer Mariendom, können meines Erachtens aber auch auf den Komponisten gemünzt werden. Es erhebt sich die Frage, ob ein solches Anliegen in der musikalischen Gestaltung der Karfreitagsliturgie gelingen kann, an einem Tag, an dem das kirchliche Leben in vielerlei Hinsicht in Stille zu gerinnen scheint, Orgel und Glocken schweigen. Neben dem Wort, das in den Lesungen, der Leidensgeschichte, den großen Fürbitten in der Kirchengemeinschaft eine kontemplative Grundhaltung hervorrufen will, ist es das Bild des Kreuzes, das in der elevatio und der adoratio crucis in den Mittelpunkt rückt. Welche Rolle kann und darf in diesem Kontext Musik zukommen? Vermag sie Kontemplation, verstanden im Sinn Richard von St. Viktor (*um 1110, †1173) als Schulung des geistigen Auges, „das unser Gesichtsfeld im Anschauen der körperlichen Welt auf die Unendlichkeit hin erweitert […]“13 zu verstärken?
Ich kann mich in einer analytischen Betrachtung nur auf wenige Details beschränken: Vorerst möchte in diesem Kontext insbesondere das in seiner Schlichtheit und Schmucklosigkeit den liturgischen Ansprüchen der Karfreitagsfeier entsprechende Vorspiel zum Einzug des Priesters14 in den Blick nehmen: Mit Wiederholung umfasst es gerade einmal 21 Takte, in identischer Form wird es im Postludium aufgegriffen.
Auf einer durchaus auch pragmatischen Ebene unterstützt Sulzers Musik die Gliederung des liturgischen Ablaufs, schafft Orientierungsmöglichkeiten. Sie strukturiert die Zeitspanne, die die Zelebranten beim Gang durch das Kirchenschiff zum Volksaltar und am Ende in der Übertragung des Allerheiligsten in die Nordkapelle benötigen. In ästhetischer Hinsicht werden für mich, die die Karfreitagsliturgie in der musikalischen ‚Auslegung‘ Sulzers viele Male als Sängerin im Kirchenchor unmittelbar miterleben konnte, viele Assoziationen freigesetzt. Sulzer mag wohl in seiner Wahl des Xylophons (einem Instrument, dem auch in der Passio Crucis und später in der Vertonung des Kreuzeshymnus eine wesentliche Rolle zukommt) an das Einschlagen der Nägel am Kreuz gedacht haben. Dieses Bild würde er meines Erachtens Instrumentalist:innen als Ausführungshinweis vermittelt haben. Gleichmäßig harte, vorerst das Metrum betonende Schläge, die durch Pizzicato in den Streichinstrumenten verstärkt werden, bestimmen den instrumentalen Duktus. Für mich persönlich erscheinen diese auch als Versuch, dem sprachlosen, erstarrten Entsetzen im Angesicht des ans Kreuz Geschlagenen eine Form der Rückbindung an materielles Leben entgegenzustellen, in der Wahrung von ‚Zeit‘, die allerdings ab Takt 12 durch Sforzati auf unbetonter Taktzeit zunehmend ‚aus dem Lot‘ zu geraten scheint. Dem von rhythmischen Elementen bestimmten Part des Schlagzeugs und der Streicher wirkt vorerst eine kurze Kantilene in den beiden Querflöten entgegen, in der der Komponist die ersten vier Takte des später von der Kirchengemeinde gesungenen Liedes „Heil’ges Kreuz sei hochverehret“ aufgreift. Auch hier wird durch Sforzati auf unbetonte Taktzeiten, den vorübergehenden Verlust jeglichen kantablen Elements ab Takt 12, Störendes, Verstörendes eingebracht.
Abb. 3: Abt Reinhold Dessl OCist im Sulzer-Raum des Stiftsmuseums © Thomas Hochradner
Sulzer greift in modifizierter Form diesen kurzen instrumentalen Satz erneut als Zwischenspiel und Einleitung zu den dreimaligen Rufen des Tenorsolisten zur Kreuzeserhebung „Seht das Kreuz“ auf. Nunmehr übernimmt das Xylophon den Part der Querflöten, die gleichmäßigen Akzentuierungen werden alleine den Streicherpizzicati überantwortet. Auch an dieser Stelle im Rahmen der Liturgie gilt es Zeit zu strukturieren. Das Kreuz wird in optisch eindrucksvoller Weise durch Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr der Marktgemeinde Wilhering durch das Kirchenschiff nach vorne getragen. Es ist eine theatralisch anmutende Szene, die schon Jahre vor der Entstehung von Sulzers Gesängen zur Karfreitagsliturgie durch den damaligen jungen und kunstaufgeschlossenen Abt des Stiftes, Pater Gabriel Weinberger (*1930, †2021; 1977), in die liturgische Gestaltung des Karfreitags integriert worden war.15 In dieser Seh- und Hörsinn ansprechenden ‚Inszenierung‘ der Errichtung und Enthüllung des vorerst mit einem violetten Fastentuch verdeckten Kreuzes im Altarraum rückt ein szenisches Element in den Vordergrund. Erneut gilt es innezuhalten und zu fragen: Widerspricht nicht die Theatralik der prinzipiellen sinnlichen Armut, zu der die katholische Kirche die versammelte Kirchengemeinde in der gemeinsamen Karfreitagsandacht auffordert? Sparsame Gesten im allmählichen Enthüllen des Kreuzes sind Teil eines jahrhundertealten Ritus. Im Vergleich dazu mag die feierliche Errichtung des Kreuzes im Altarraum der Stiftskirche Wilhering, einem Kirchenraum, dem prinzipiell schon durch die Architektur und den Kirchenschmuck Theatralisches eingeschrieben ist, ostentativ anmuten. Ich habe nie mit Pater Balduin darüber gesprochen, vermute aber, dass in ihm als Szeniker durch diese elevatio crucis durchaus Saiten zum Schwingen gebracht, Räume geschaffen wurden, die ihm als Komponisten in der anschließenden adoratio crucis den Einsatz von Expressivem, fast opernhaft Anmutendem gestatteten. Die gequälte Kreatur tritt in den Improperien, den Heilandsanklagen, in den Vordergrund: „Du wirfst Kreuzesjoch auf mich. Du durchbohrst mein Herz“. Kurt Azesberger, der auch dem Leid Hiobs in Horst Daniel Schlees (*1957) Ich, Hiob op. 68 in eindrucksvoller Weise seine Stimme verlieh, gestaltete die wenigen Takte der Schelte des Erlösers stets mit einem Höchstmaß an Dramatik, betonte meines Erachtens in seiner Gestaltung die völlige Vereinsamung des an das Kreuz gehefteten Menschen.
Ich kehre zurück zu den grundsätzlichen Überlegungen, die mich vorangetrieben haben, dem Kunstwerkanspruch an das liturgische Geschehen. Würde man diesen einzig mit ästhetischen Kriterien verbinden, würden zentrale Ansprüche ausgespart bleiben. Verschwistert sich allerdings Ästhetisches mit dem Bestreben, mittels Kunst religiöse Botschaften zu verstärken, oder Freiräume zu öffnen, um Spirituellem in einer kontemplativen Haltung nachzusinnen, eine Ahnung jenes Schauens zu vermitteln, das Augustinus verheißt, wohnt liturgischer Musik etwas inne, dessen die Kirche im Sinn Johannes Paul II. bedarf. Balduin Sulzer hat sich in Gedanken immer wieder mit Schlussbildungen beschäftigt. Diejenigen, die er für seine musikalische Annäherung an das Geschehen des Karfreitags wählte, münden teilweise in einen Septakkord ein, sie sind zögerlich, im Piano verhallend. Vielleicht hat Sulzer sie als Vorahnung des Geschehens der Auferstehung betrachtet. Sicher hätte er solche Vermutungen nonchalant vom Tisch gewischt, dennoch: Für mich erscheint hier ein Anklang an das aliter, das ganz Andere, von dem er in seinem Verweis auf das et vitam venturi saeculi spricht.
Michaela Schwarzbauer ist Universitätsdozentin für Musikpädagogik an der Universität Mozarteum Salzburg. Gemeinsam mit ihrem Gatten Thomas Hochradner betreut sie das Balduin-Sulzer-Archiv im Zisterzienserstift Wilhering.
Kontakt: michaela.schwarzbauer@moz.ac.at
1 Interview von Michaela Schwarzbauer mit Balduin Sulzer am 13. September 2016 in dessen Arbeitszimmer.
2 „Dann werden wir stille sein und schauen, schauen und lieben, lieben und loben. Das ist’s, was dereinst sein wird, an jenem Ende ohne Ende […]“ – so der Wortlaut der Übersetzung von Wilhelm Thimme in Augustinus, Vom Gottesstaat, erschienen im Artemis Verlag. Zitat aus: Augustinus. Der Gottesstaat. De Civitate Dei (Systematischer Durchblick in Texten und eingeleitet von Hans Urs VON BALTHASAR) (Freiburg 62021, Christliche Meister, Bd. 16) 272.
3 Michaela SCHWARZBAUER, Der Passionsgedanke in den Werken Balduin Sulzers. Ein analytisch-exegetischer Versuch (ungedr. Diplomarbeit Hochschule für Musik und darstellende Kunst Wien 1981) 135.
4 Das Wilheringer Damenquartett wurde vor mittlerweile fast 30 Jahren von der Geigerin Christine Schwarzbauer gegründet: Die ursprüngliche Besetzung mit Elisabeth Pouget (Violine 1), Christine Schwarzbauer (Violine 2), Gabriele Azesberger (Viola) und Michaela Schwarzbauer (Violoncello) ist in den letzten Jahren, dem Namen des Quartetts nur mehr bedingt entsprechend, vielfach durch Marcus Pouget am Violoncello verändert worden.
5 Venantius FORTUNATUS, Vexilla regis prodeunt, insbesondere Strophe 7 des Hymnus.
6 Balduin SULZER, Die Liturgie – ein Kunstwerk? (Rein private und völlig unverbindliche Gedankengänge eines Musikers), in: Blätter für Kunst und Sprache (März 1984) 15f.
7 SULZER, Balduin (wie Anm. 5) 16.
8 Der Ausdruck „Kunstwerk“ ist im Original gesperrt gedruckt.
9 Ansprache von Papst Johannes Paul II. an Vertreter:innen von Wissenschaft und Kunst, ohne näheren Quellenverweis. Zitiert in SULZER, Balduin (wie Anm. 5) 15.
10 Persönliche Erinnerungen. Balduin Sulzer im Gespräch mit Michaela Schwarzbauer, 30. Mai 2016.
11 Kronsteiner war es schon 1956 darum gegangen, eine aktiv mitfeiernde Kirchengemeinde anzusprechen: „Nach der gleichen obenerwähnten Enzyklika [Enzyklika über die Kirchenmusik „Musicae sacrae disciplina“ vom 25. Dezember 1955] sind bei der forma lecta Gesänge in der Muttersprache erlaubt, sie sollen aber den einzelnen Teilen der Liturgiefeier gut angepasst sein, damit die Gläubigen nicht wie fremde und stumme Zuschauer beim Heiligen Opfer zugegen seien, sondern sich innerlich und äußerlich mit den Gebeten des Priesters vereinen.“ Hermann KRONSTEINER, Deutsches Proprium vom Karfreitag (Wien 1956) Klappentext.
12 Interview von Michaela Schwarzbauer mit Kurt Azesberger am 9. Dezember 2016, in der Wohnung von Christine Schwarzbauer (Wilhering).
13 Zitat in: Christian ALLESCH, Innehalten – Innewerden. Zu einer Ästhetik der Kontemplation, in: Jahrbuch Polyaisthesis 1 (Wien 1994) 31–43, hier 38.
14 Diese Einleitung war ursprünglich wohl eine Konzession an die Gegebenheiten der Rundfunkmesse, wäre doch für die Karfreitagsliturgie ein Einzug in völliger Stille vorgesehen. Sie ist seither allerdings fester Bestandteil der Wilheringer Karfreitagsliturgie geworden.
15 Abt Gabriel war hier durch eine szenische Aufführung von Händels Oratorium Saul mit der Kantorei des Stiftsgymnasiums in der Regie von Frederik Mirdita (*1931, †2016) inspiriert worden, den Kirchenraum entsprechend zu nutzen. Seine Öffnung des Kirchenraums für konzertante Aufführungen liturgischer, aber auch außerliturgischer Musik und noch mehr die Bereitstellung eines Kirchenraums für szenische Aufführungen muss als mutige, in klerikalen Kreisen damals keinesfalls widerspruchslos hingenommene Entscheidung gesehen werden. Vgl. dazu Balduin SULZER, Die Stellung der oberösterreichischen Klöster im Musikbetrieb der Gegenwart, in: Oberösterreich. Kulturzeitschrift 31 (1981) 13–19, hier 15f.