Kaulquappenhermetik und Qualitätskalkül
Vortrag gehalten am Balduin-Sulzer-Symposium im Zisterzienserstift Wilhering am 17. März 2023.
„Aber etwas, was mich in die Flucht jagen kann, ist die sogenannte Objektivität. Es wird sie vermutlich geben, aber im Rahmen des menschlichen Lebens glaube ich nicht daran. Da gibt es nur subjektive Blickwinkel. Darüber bin ich froh, denn sonst gäbe es keine unterschiedlichen Menschen mehr. Ich bin so froh über diese wunderbare Unklarheit. Und ich wehre mich dagegen, dass man das sogenannte Chaos als negativ empfindet.“1
Abb. 1: Balduin Sulzer am Klavier in seinem Arbeitszimmer im Zisterzienserstift Wilhering © Stift Wilhering
Was für Individualität einsteht, zugleich zur Verständigung im Miteinander mahnt, muss den Biographen verschrecken. Nicht nur das Lebenskonzept, auch das künstlerische Profil P. Balduin Sulzers war von subjektiven Koordinaten getragen. Verborgen hinter einem „Kosmos an Noten, Büchern, Schreibutensilien, auf kleinen Zetteln hingeworfenen Notizen“, der mit „Bleistift, Radiergummi und Uhu als wesentliche[n] Hilfen“ in seinem Arbeitszimmer bewegt wurde,2 lag ‒ nahezu undurchschaubar ‒ ein durchdachtes Procedere, das Erfahrungen als Musiker, Musikpädagoge und Komponist zu einem persönlich geprägten Schaffen verband.
Geboren 1932 in Großraming im Ennstal als Sohn eines Holzfällers und einer Schneiderin, aufgewachsen gemeinsam mit drei Geschwistern, wurde Josef Sulzer, so sein bürgerlicher Name, 1942 im Linzer Staatsgymnasium aufgenommen und setzte den Schulweg ab 1945 am wiedereröffneten Stiftsgymnasium in Wilhering fort. Schon in Linz waren erste musikalische Fußstapfen gesetzt worden, unter anderem, als Joseph Kronsteiner (*1910, †1988) den Ministranten für die dortige Domschola gewann. In Wilhering, unter P. Maurus Kerner (*1887, †1957), verdichtete sich ihre Intensität. Erste kleinere Kompositionen entstanden, mehr und mehr wurde Josef Sulzer mit dem Orgelspiel betraut, wirkte aber auch als Pianist in einem schulinternen Salonorchester mit. Unterschiedliche Stilwelten erschlossen sich, mahnten zur Rücksicht den Zuhörenden gegenüber. Als er zudem während der Schulzeit an der Katalogisierung der Studienbibliothek des Stiftsgymnasiums mitwirkte, trug seine Lesefreude zu einer literarischen Bildung bei und schärfte sein Gespür für Textvorlagen, das später seinen Vokalkompositionen zugutekommen sollte.3
Als er die siebte Klasse besuchte, trat Sulzer ins Noviziat des Zisterzienserstiftes Wilhering ein und erhielt den Ordensnamen Balduin. Der Matura folgten ein Studium an der Theologischen Lehranstalt der Diözese in Linz4 und nebenher Unterricht am Brucknerkonservatorium, darunter in Orgel und Satzlehre bei Hans Winterberger (*1909, †1990), der seinerseits an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst ausgebildet worden war.5 Nach Meinung des Konventes wechselte Sulzer 1954 zur Pontifica Universitas Gregoriana nach Rom, wo er Moraltheologie, Kirchenrecht und Liturgik belegte und nach eigener Aussage so manche Vorlesung geschwänzt hat. Nicht aber am Pontificio Instituto di Musica Sacra, wo er Gregorianik – bei einem Konventualen aus der Benediktinerabtei Solesmes (Frankreich), dem in der Reform des Chorals führenden französischen Kloster – und Chorleitung studierte, aber auch mit dem Leiter der Cappella Sistina, Domenico Bartolucci (*1917, †2013) bekannt wurde. Der Rom-Aufenthalt öffnete Sulzer nicht nur eine neue Welt liturgischer Einstimmigkeit, sondern auch der figuralen Musik, obwohl ihm sakrale Werke der Vokalpolyphonie, der Klassik und Spätromantik aus der Musikpflege an Linzer Kirchen vertraut waren. Aber die römischen Chöre und Orchester schwelgten in klangsatten Tönen, ganz dem Zeitgeist der italienischen Interpretationskultur entsprechend, und Aufführungen erschlossen eine theatralische Dimension, die er sich in den 1970er Jahren, unter Abt Gabriel Weinberger (*1930, †2021; amt. 1965–1977), bei Konzerten und Kompositionen für die Wilheringer Stiftskirche zum Vorbild nehmen wird.6
Zurück im Zisterzienserstift Wilhering, wurde Balduin Sulzer am 29. Juni 1955 zum Priester geweiht, verließ aber neuerlich das Kloster, um sich schon im Herbst des Jahres für ein Lehramtsstudium in Musikerziehung und Geschichte in Wien einzuschreiben. Wieder sammelten sich prägende Eindrücke, sei es im Rahmen der Ausbildung durch faszinierende Persönlichkeiten wie Ernst Tittel (*1910, †1969) und Hans Gillesberger (*1909, †1986), sei es durch unzählige Besuche von Aufführungen in der Wiener Staatsoper, gelegentlich auch Konzerten des Musikvereins u.a.m.; Lebensgewohnheiten begannen sich abzuzeichnen:
„Gerne denke ich an diese Studentenzeit zurück, in der es mir zur Gewohnheit wurde, die Nacht zum Tag zu machen. Nachtzeiten sind für mich heute noch nicht Schlafenszeiten, sondern solche, die man gewinnbringend lösen kann. In der Nacht habe ich Zeit, nachzudenken, Lösungen zu finden, Platten oder CD zu hören usw. Ich gehe auch heute noch selten vor 3 Uhr früh ins Bett. Lieber schlafe ich am Tag irgendwo eine Stunde.“7
Das Lehramtsstudium beendete er 1959, ein Jahr darauf noch ein zusätzlich an der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst belegtes Klavierstudium. Es sind die Hörerfahrungen dieser Zeit, die Sulzer zu einem versierten Musikkritiker machten, einer Tätigkeit, der er ab 1974 für die Oberösterreich-Ausgabe der in ihrer Kulturberichtserstattung oft sträflich unterschätzten Kronen Zeitung nachging.8 Er tat es in zahllosen Miszellen mit großem Geschick, seine Eindrücke in quicklebendiger Sprache auf den Punkt zu bringen und selbst dann, wenn Leistungen nicht ganz überzeugend waren, respektvoll über die Künstlerinnen und Künstler zu berichten. Nur wenn hohe Qualität beansprucht, nicht aber erfüllt wurde, konnte er mit Ausführenden hart ins Gericht gehen. Wer die wohlmeinenden Kritiken genau liest, bemerkt jedoch rasch, ob der Rezensent tatsächlich begeistert war wie beispielsweise 2008 beim
„Liederabend mit der Mezzosopranistin Elina Garanča und ihrem Pianisten Charles Spencer im ausverkauften Linzer Brucknerhaus. Die aus Lettland stammende, 32-jährige Sängerin verfügt über eine charismatische Fähigkeit, ihre Stimme aus einem Mezzavoce-Grundbereich nicht nur in qualitativ elitäre Klangpracht anwachsen zu lassen, sondern zusätzlich perfekte und beglückende Ausdrucksintensität zu vermitteln – wie man es seit der jungen Christa Ludwig nicht mehr wahrnehmen konnte; etwa bei Brahms ‚Es träumte mir‘, ‚Maiennacht‘ und Schumanns ‚Frauenliebe‘. Rossini, Manuel de Falla und die lettischen Meister Vitols [Jāzeps Vītols] und Kalnins [Imants Kalniņš] komplettierten den mit Standing ovations akklamierten Abend.“9
Elina Garanča (*1976), die 2004 an der Wiener Staatsoper debütiert hatte, stand damals noch nicht am Zenit ihrer großen Laufbahn; der Weitblick des Autors, des erfahrenen Musikpädagogen, erkannte ihr großes Potenzial. Von 1960 bis 1977 hatte Sulzer als Musikerzieher im Zisterzienserstift Wilhering gewirkt, von 1974 bis 1997 am Linzer Musikgymnasium, mit dessen Gründung sein Name wesentlich verbunden ist. Ein Leistungsbericht, den Sulzer 1985 anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Musikgymnasiums verfasste, verdeutlicht, wie viel gerade auch im propädeutischen Bereich der Gehörbildung, der rhythmischen Schulung und der Chorübungen verlangt wurde und macht staunen, welch schwierige Chorliteratur (von Johann Sebastian Bachs doppelchörigen Motetten über spätromantische bis zu zeitgenössischen a-cappella-Sätzen) sie bewältigten, welch groß besetzte Orchesterwerke zur Aufführung kamen.10 „Ein bewundernswertes diagnostisches Auge“11 erkannte und differenzierte Begabungen (deren prominenteste der spätere Dirigent Franz Welser-Möst ist) und folgte nach eigenen Worten dem Prinzip, „über den Weg der technischen Beherrschung in das Kunstwerk selbst vorzudringen“12. Demgemäß forderte Sulzer seine Vokalensembles in einer fast ‚unbarmherzigen‘ Nutzung der Beweglichkeit der jugendlichen Stimmen mit empathischer Konsequenz. Aber es ist ihm auch darum zu tun, die Sensitivität zu befördern:
„Musik hat demnach in Sachen ‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘ die wichtige Aufgabe, das ‚Empfindsame‘, ‚Sensible‘, das ‚Sinnliche‘ des Menschen in allen filigranen Verästelungen zu wecken, zu pflegen und zu verfeinern, salopp ausgedrückt: anhand der Musikerziehung sollen die jungen Leute lernen, differenziert zu hören und differenziert zuzuhören […].“13
Es liegt auf der Hand, dass auch für den Komponisten Sulzer pädagogische Aspekte in den Vordergrund rückten. So betont Sulzer, gerade durch die Herausforderung, Tonsatz zu unterrichten, seine eigene Tonsprache erweitert zu haben. Viele Werke für Schüler:innen entstanden, wie auch sein übriges Schaffen fast stets anlassbezogen. „Wie ein roter Faden zieht sich das unmittelbare Tun, der konkrete Anlass, durch Sulzers Leben“14, bringt es sein Biograph Norbert Trawöger (*1971) auf den Punkt. Ein historisches Verständnis blendet diese Schwerpunktsetzung zunächst aus; nichtsdestoweniger trägt es die Auswahl des Repertoires zu Aufführungen unter Sulzers Leitung. Mit einer themenspezifischen Programmatik, etwa Werken von Johann Joseph Fux (*ca. 1660, †1741) oder Joseph Haydn (*1732, †1809), strebte er an diversen Wirkungsorten nach einer gleichermaßen von historischen Perspektiven wie hörerziehenden Gedanken angeleiteten Vertiefung.15 Auch bemängelt Sulzer, dass sich die Oberösterreichischen Stiftskonzerte den archivalischen Schätzen der klösterlichen Musikarchive wie auch der zeitgenössischen Musik zu wenig widmen würden.16 Dabei gelten für Sulzer aber nicht qualitative Merkmale, sondern ‚Brauchbarkeit‘ und ‚Nützlichkeit‘ als Gradmesser musikalischer Rezeption:
„Musik ist schwer greifbar; vor allem als Kunst formender Gestaltung scheint sie neben den geschichtlichen Abläufen eine Art Eigenleben zu führen, das sie freilich aufgrund ihrer Gegenstandslosigkeit für jedwede geistige Strömung der Zeiten schlechthin anfällig macht; diese Anfälligkeit wird dann akut, wenn die Musik als Gegenstand interpretatorischer Tätigkeit auftritt: dann ist sie nahezu gänzlich an das gesellschaftliche Leben samt allen seinen Wandlungen gekoppelt, als ‚Interpretationskunst‘ bzw. als ‚Aufführungskunst‘ gerät sie in die Reichweite der Gesellschaft und wird plötzlich […] auch mehr oder weniger ‚nützlich‘.“17
Sulzer weiß um die Bedeutung des Klanglichen für die Psyche des Menschen: „Gerade die Musik, aber auch der Unterricht in Geschichte sprechen nicht den Verstand an, sondern vielmehr die emotionale Seite des Menschen und ich habe es immer für enorm wichtig gehalten, sich als Pädagoge daran zu orientieren.“18 Nichtsdestoweniger waren Seichtes, Verbeugung vor dem Populären seine Sache nicht. Den gesellschaftlichen Stellenwert verstand er als Gemengelage und als Impetus gediegener kompositorischer Kreativität: „Ich werde immer unruhig, wenn etwas in einer bestimmten Ordnung abläuft. Dann brauche ich einen Störfaktor, der bewußt hingesetzt wird […]“.19 Die Arbeit am Werk gerät auf diesen Grundlagen zur intensiven, hartnäckig ausgetragenen Auseinandersetzung mit dem Material: „Wenn ich ein musikalisches Problem zu lösen habe, arbeitet das Gehirn weiter, und ich träume zum Beispiel von drei Tönen, die irgendwo ineinander stecken.“20 Sulzer, der einmal sein Schaffen wie das Tummeln von Fischen im Wasser verstand,21 verband in vielen seiner Werke das Gediegene, Versierte mit dem Unterhaltsamen, ja Humorvollen. Wiewohl sich seine Art zu komponieren durchaus der österreichischen Szene seiner Generation eingliedert, die – überspitzt gesagt – zwischen dodekaphonischem Neoklassizismus und neoklassizistischer Dodekaphonie schwankte und neuesten Ideen wie der Serialität, der Cluster- und Collagekomposition oder der elektronischen Musik größtenteils eine Absage erteilte,22 wiewohl sich Merkmale wie die Solidität des Handwerklichen, diffizile Rhythmik und überraschende Besetzungen auch bei etlichen Zeitgenoss:innen finden, begegnet eine sehr persönliche Tonsprache. Sie ist nachhaltig eigen durch vielfache Tonrepetitionen, prägnante rhythmische Strukturen, eine Vorliebe für Dissonanzen wie Sekunden und Septimen, und einen weitgehenden Verzicht auf die lyrische Komponente, es sei denn in textnaher Ausgestaltung der Singstimme. Dem akademisch verstandenen Tonsatz moderner Prägung,23 wie er an Akademien und Konservatorien (z.B. auch an der Abteilung für Kirchenmusik der Wiener Akademie für Musik und darstellende Kunst im Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg) gelehrt wurde, schloss er sich ebenso wenig an wie innovativen Ideen, beispielsweise der Minimal Music, die er als „ganz kurze Mode“ beschrieb, oder den seriellen Verfahren der 1950er und 60er Jahre. „Serialität ist nämlich, vor allem dann, wenn sie akademisch angewendet wird, etwas ganz Furchtbares […]. Ich bin allerdings kein Gegner eines bestimmten Stils, auch nicht der Zwölftonmusik, sondern in erster Linie ein Gegner des Akademismus.“24
Generell stand Sulzer einer musikwissenschaftlichen Grundierung skeptisch gegenüber und gab es offen zu: „Ich verhehle Ihnen nicht, daß ich kein fachlich ausgebildeter Musikwissenschafter bin, sondern mich eher der ‚gegnerischen Mannschaft‘ zuordne – um im Fußballjargon zu bleiben.“25 Dem oft mit schönen Worten über das reale Klanggeschehen hinweg Geworfenen vermochte er nichts abzugewinnen. Dagegen stand das Spielerische als Prinzip für Sulzer – in einem improvisatorischen Zugang – bereits am Beginn des Kompositionsprozesses.26 Was gerne als sein musikalischer Humor charakterisiert wird,27 rührt im Grunde aus dieser Verlebendigung her, die zugleich dazu verhelfen will, Sorgen des Alltags zu bewältigen:
„Ich möchte, dass meine Musik wie eine ‚Spielmusik‘ klingt: also kein Aufschrei, kein Herausreißen der Eingeweide und Herumwinken mit dem Dickdarm. Ich sehe die Aufgabe eines musikalischen Künstlers eher darin, etwas Schwebendes, Leichtes zu produzieren, immer auch ein bisschen lustig zu sein, sogar bei ernsten Dingen, die eh nicht zu leugnen sind – es gibt furchtbar ernste Dinge. Aber auch bei denen sollte man nicht in Tränen ausbrechen, sondern sie lieber aus der Distanz betrachten. Mir ist auch viel daran gelegen, ein bisschen karikieren zu können, satirisch zu schreiben – gerade bei den ernsten Themen, auch bei religiösen.“28
Das bedeutet aber nicht, dass Sulzer der Kirchenmusik eine Art ‚Freibrief‘ erteilt hätte. Leistungsdenken bestimmt auch diesbezüglich seine Haltung. Selbst wenn sich Sulzer mit Adaptionen der Musik zur Liturgie befasste, war er doch weit entfernt vom volksliturgischen Apostolat eines Pius Parsch (*1884, †1954) und Vinzenz Goller (*1873, †1953).29 Und als er anlässlich seiner Ernennung zum Linzer Domkapellmeister 1981 seine „Gedanken (Utopien) zum Amtsantritt“ mitteilte, strotzen sie geradezu von Verabschiedung jeglicher Mittelmäßigkeit:
„[…] die Musik soll immer den Ausdruck zur Schau tragen dürfen, den ihr der Komponist in die Seele gelegt hat; ihre Freudigkeit soll nie gedämpft und ihre Dramatik nie verwässert werden; und in ihrer Darbietung muß sie von jeder Art von Dilettantismus freigehalten und den Höransprüchen, die wir vom Konzertsaal her gewohnt sind, gerecht werden. […] Dem Zeitgenössischen soll die Tür weit geöffnet sein, auch wenn diese Musik nicht nur Erhebendes birgt, sondern fallweise aufschreit, provoziert und unter die Haut geht; aber Kirchenmusik darf sich nie als anonymer Berieselungsfaktor, als Backgroundmusik, Stimmungssound oder dergleichen präsentieren […]; sie muß das Volk zur aktiven Teilnahme am Gottesdienst zwingen, egal, ob diese Teilnahme sich konkret im Singen oder Zuhören abspielt.“30
Über lange Zeit verantwortete Sulzer die Kirchenmusik im Zisterzienserstift Wilhering, auch hier mit nimmermüder Ambition, was Werkauswahl und die Verpflichtung von Solisten, Chor und Orchester betraf.31 Bis zuletzt war er bei allen Hochämtern zugegen, die ihm musikalisch jenes Daheim boten, das er als Komponist für sich verloren sah: „Nein, für die Liturgie mag ich nicht recht schreiben […]. Im Rahmen der Liturgie ist die Kunst leider mittlerweile nicht mehr gar so gefragt.“32 Nicht nur darin bedeutete Sulzers eigener Weg auch Verzicht. Stetes Abschätzen des Erreichbaren, selbst im höchstmöglichen Ziel, kann sich zum Hemmschuh der Kreativität wenden. Indem seine Kompositionen zumeist an konkrete Anlässe gebunden waren, die Stimmen und das Spiel der Interpretinnen und Interpreten im Ohr, waren Aufführungen wie auch lokale bis regionale Aufmerksamkeit garantiert, doch ergab sich daraus keine breite Rezeption. Sulzers Internationalität war immer mit Ensembles oder Künstler:innen verbunden, die sein Werk aus der oberösterreichischen Heimat hinaustrugen – allerdings bis ins ferne Japan. Über Editionen oder CD-Aufnahmen sind, obwohl sie in maßvoller Zahl vorgelegen wären, Folgeaufführungen selten zustande gekommen. Und insgesamt fehlt jene Rigidität, die ein Komponist an den Tag legt, der sein Ziel bedingungslos am zu schaffenden Werk ausrichtet. Dass Sulzer sich überdies keiner bestimmten Richtung zuordnen lässt und lassen wollte, verwehrte ihm Einlass zu einem Kreis gleichgesinnter Kolleg:innen, dass er keinen Hochschulunterricht erteilte, versagte ihm einen institutionellen Background, der sein Œuvre in akademischen Konzerten hätte zirkulieren lassen.33
So bestätigte sich das Zisterzienserstift Wilhering als Nabel, als geistiges Zentrum seines künstlerischen Schaffens. Doch war sein Tagesablauf nicht monastisch reguliert. Die Abende verbrachte er in einer Linzer Wohnung, die er oft spät, erst nach Konzert- und Opernbesuchen erreichte. Am frühen Vormittag traf er in Wilhering ein, das Mittagessen als Jause mit dabei, und arbeitete dort bis in den Nachmittag oder frühen Abend. Der Ruhestand verlagerte zwar zwangsläufig den Schwerpunkt seiner Tätigkeit, ließ ihn aber an einem regulierten Schaffen festhalten: „Ich kann nicht den ganzen Tag lang komponieren, ansonsten kommt man in eine Ghettosituation.“34
Geregelte Strukturen beherbergten Zeitgestaltung und Inspiration: „Es gibt […] keine Entdeckungsreise ohne Disziplin, aber auch nicht ohne Improvisation und nicht ohne geistige Freiheit.“35 Hinter dem „kreativen Chaos“ seines Arbeitszimmers im Stift36, „ein[em] Kosmos der anderen Art“37, und seinem sympathisch-offenen Wesen blieb Vielen verborgen, dass Ordnung, Anspruch und Konsequenz die eigentlich bestimmenden Kategorien im Leben und Schaffen Balduin Sulzers gewesen sind: Kaulquappenhermetik und Qualitätskalkül, Kennzeichen eines künstlerischen Profils, das sich mit sicherem Urteil und außergewöhnlichem Gespür für das Wesen und die Talente eines Gegenübers paarte, getragen von einer Religiosität, die weit über den künstlerischen Auftrag hinausreichte:
„In meiner Vorstellung ist Gott die Personifizierung der absoluten Liebe. Gott hat den Menschen geschaffen nach seinem Ebenbild, er hat ihm den freien Willen und auch die Fähigkeit zur Liebe gegeben und durch Jesus hat er den Menschen wieder den Weg in das Zentrum der Liebe gewiesen. Die einzige und wahre Aufgabe der Kirche ist es daher in Liebe zu handeln.“38
Zu den vielen „Umlaufbahnen“ und „Aggregatszuständen“, wie sie Norbert Trawöger in seiner sprühend-unterhaltsamen Biographie so feinsinnig und kenntnisreich einzufangen verstand,39 der entscheidende Pol.
Thomas Hochradner ist a.o. Prof. am Department für Musikwissenschaft der Universität Mozarteum Salzburg. Er betreut zusammen mit seiner Gattin Michaela Schwarzbauer das Balduin Sulzer Archiv im Zisterzienserstift Wilhering in Oberösterreich.
Kontakt: thomas.hochradner@moz.ac.at
1 Der Titel des Referats nimmt Bezug auf Kaulquappen, nichts als Kaulquappen. Impromptu für vier Blockflöten Op. 180 (Nr. 215) von Balduin Sulzer.
Abdruck eines Gesprächs zwischen P. Balduin Sulzer OCist. und Peter Schöttler, in: Michael WRUSS (Red.), Balduin Sulzer. Porträt zum 85. Geburtstag (Linz 2017) 17–19, hier 18.
2 Zitate nach Michaela SCHWARZBAUER, In memoriam Balduin Sulzer, in: Musikerziehung 72/2 (2019) 54f., hier 54.
3 Julia LEHNER, Von Tönen träumen. Ein Gespräch mit dem Komponisten Balduin Sulzer, in: Faible Nr. 1 (August 2005) 23–25, hier 23.
4 Bis 1971 als „Philosophisch-Theologische Lehranstalt Linz“ bezeichnet.
5 Bettina GRAF, Art. Winterberger, Hans (eig. Woprawil, Johann Evangelist) (18.02.2022), in: Österreichisches Musiklexikon, online unter https://musiklexikon.ac.at/ml/musik_W/Winterberger_Hans.xml [Zugriff: 23.06.2023].
6 Zum Lebensweg Balduin (Josef) Sulzers bis 1955 siehe Norbert TRAWÖGER, Balduin Sulzer (Linz 2010) 25–32; Michaela SCHWARZBAUER, Streifzüge in Klostergängen – Balduin Sulzer, Pater musicus, in: Streifzüge III. Beiträge zur oberösterreichischen Musikgeschichte, hg. von Oberösterreichischen Volksliedwerk und dem Anton Bruckner Institut Linz durch Klaus PETERMAYR‒Andreas LINDNER (Oberösterreichische Schriften zur Volksmusik 14, Linz 2013) 283–290, hier 284f.; Dr. Alfred Keiler im Gespräch mit Prof. Balduin Sulzer, in: Together. Das Life & Style Magazin der Privatklinik Wels St. Stephan (Winter 2000) ohne Seitenzahlen; Linzer Torte: Balduin Sulzer im Gespräch mit Gisela Schreiner, ORF Sendung vom 13. März 2002.
7 Dr. Alfred Keiler im Gespräch mit Prof. Balduin Sulzer (wie Anm. 6) ohne Seitenzahl.
8 Ebd. ohne Seitenzahl.
9 Balduin-Sulzer-Archiv im Zisterzienserstift Wilhering, Gesammelte Kritiken.
10 Balduin SULZER, Ensemble-Übungen am Linzer Musikgymnasium, in: 10 Jahre Musikgymnasium am ORG der Diözese Linz. Bericht und Rückschau auf die Aufbauarbeit (Linz [1985]) 7–11; ausführlich dokumentiert wird die Konzerttätigkeit bei TRAWÖGER (wie Anm. 6) 23f.
11 SCHWARZBAUER (wie Anm. 2) 54.
12 SULZER (wie Anm. 10) 11.
13 Saiten-Gespräch mit Balduin Sulzer, in: Saiten-Spiel. Zeitschrift der Oberösterreichischen Streichervereinigung Nr. 11 (Dezember 1997) 8.
14 TRAWÖGER (wie Anm. 6) 12.
15 Dazu TRAWÖGER (wie Anm. 6) 46.
16 Balduin SULZER, Die Stellung der oberösterreichischen Klöster im Musikbetrieb der Gegenwart, in: Oberösterreich. Kulturzeitschrift 31/2 (1981) 13–19, hier 14.
17 Balduin SULZER, „brauchbarkeit“ „nützlichkeit“
„schönheit“ in der musik, in: historicum (Herbst 1985) 13f., hier 13.
18 Dr. Alfred Keiler im Gespräch mit Prof. Balduin Sulzer (wie Anm. 6) ohne Seitenzahl.
19 Balduin Sulzer zitiert bei Thomas KRAMPL, Humor in der Musik am Beispiel Balduin Sulzer und seinem geistlichen Konzert „Benedicamus Domino“ (Seminararbeit aus Musikwissenschaft, Universität Wien, Wintersemester 1998/99) 6.
20 LEHNER (wie Anm. 3) 24.
21 Alice ERTLBAUER-CAMERER, Wenn der Pate(r) ruft… Balduin Sulzer, in: Musikfreunde (Februar 2005) 34f., hier 35.
22 Vgl. dazu den mit zahlreichen Werkbesprechungen aufbereiteten Überblick von Roman SUMMEREDER, Zwischen Motu proprio und Secession. Österreichs Kirchenmusik auf Wegen in die Moderne, in: Musik & Kirche 91 (2021) 238–243.
23 Gemeint ist hier ein Tonsatz nach avancierter harmonischer Progression, der dennoch im Grunde dem Regulativ des strengen Satzes unterliegt.
24 Christoph WAGNER, Auch Mozart prägte keinen eigenen Stil. Balduin Sulzer, in: Oberösterreich. Ansichten eines Landes (1998), Heft 1: Kaiserwetter in Bad Ischl ohne Seitenzahl; vgl. auch ERTLBAUER-CAMERER (wie Anm. 21) 35.
25 Balduin SULZER, Konzept für ein Gesprächskonzert „Spannungsmomente zwischen Kreativität und Wissenschaft“ (undatiert), Balduin-Sulzer-Archiv 6.1.15.
26 TRAWÖGER (wie Anm. 6) 14f.
27 Näheres hierzu s. KRAMPL (wie Anm. 19).
28 Balduin Sulzer zitiert bei Walter WEIDRINGER, Randbemerkungen. Balduin Sulzer, in: Musikfreunde (Jänner 2012) 30–33, hier 31.
29 Vgl. dazu als zeitgenössisches Stimmungsbild Franz KRIEG, Katholische Kirchenmusik. Geist und Praxis, mit geschichtlichen Beiträgen von Ernst Tittel (Bücher der Weltmusik 5, Teufen u.a. 1954) 150–173; aktuellere Darstellungen s. Ernst TITTEL, Österreichische Kirchenmusik. Werden – Wachsen – Wirken (Wien 1961); Peter PLANYAVSKY, Katholische Kirchenmusik. Praxis und liturgische Hintergründe (Innsbruck 2010).
30 Balduin SULZER, Meine Gedanken (Utopien) zum Amtsantritt, in: Singende Kirche 29/1 (1981/82) 22f.
31 Eine Aufschlüsselung des Repertoires bei TRAWÖGER (wie Anm. 6) 45f.
32 WAGNER (wie Anm. 24) ohne Seitenzahl.
33 In Linz stand die Konkurrenz des Musikgymnasiums zum Bruckner-Konservatorium (heute Anton Brucker Universität Linz) einer engeren Zusammenarbeit entgegen, in Salzburg führte Sulzers Bewerbung um eine Professur für Chorleitung an der Abteilung Kirchenmusik der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mozarteum (heute Universität Mozarteum Salzburg) Anfang der 1980er Jahre nicht zur gewünschten Berufung.
34 LEHNER (wie Anm. 3) 25.
35 Dr. Alfred Keiler im Gespräch mit Prof. Balduin Sulzer (wie Anm. 6) ohne Seitenzahl.
36 SCHWARZBAUER (wie Anm. 6) 283.
37 LEHNER (wie Anm. 3) 23.
38 Dr. Alfred Keiler im Gespräch mit Prof. Balduin Sulzer (wie Anm. 6) ohne Seitenzahl.
39 TRAWÖGER (wie Anm. 6) 9.