„Jerusalem küsst und beißt einen praktisch täglich"
Er selbst sagt von sich, dass er ein unruhiger, energiegeladener Mensch voller Adrenalin sei: „Ich brauche Jerusalem.“ Nur dort konnte er sich vorstellen, in ein Kloster einzutreten. „Ich könnte Jerusalem ohne mein Kloster nicht aushalten, und ich könnte mein Kloster nicht ohne Jerusalem aushalten.“ Bildhaft gesprochen, sei es eine gute Mischung aus Spielbein und Standbein, die er einfach brauche.
Abt Nikodemus Schnabel schildert im Gespräch mit Christopher Campbell seine Eindrücke und Erlebnisse in der Heiligen Stadt: „Es ist eine Achterbahn der Gefühle, die ich täglich im Heiligen Land erlebe.“ (c) ÖOK/rm
Ein Sehnsuchtsort für drei Religionen
Wenn der 44-jährige Ordensmann schildert, wie traumhaft schön und friedlich die Stadt um fünf Uhr morgens ist, möchte man sofort in nächsten Flieger einsteigen und genau das machen: Früh morgens durch die Heilige Stadt flanieren und die fast magischen Eindrücke von drei Weltreligionen aufsaugen. „Um fünf Uhr in der Früh ist die Stadt zum Verlieben schön“, kommt der Dormitio-Abt ins Schwärmen, und fügt dann ernüchternd hinzu: „Die Hooligans der Religionen, die die Stadt vergiften, wachen erst später auf.“
„Jerusalem ist für drei Religionen ein absoluter Sehnsuchtsort. Ein Ort, der mit drei Sehnsuchtserfahrungen verbunden ist. Alle sollten hier ein Heimspiel haben“, bekräftigt Abt Nikodemus Schnabel.
Zahlreiche Gäste verfolgten im Quo vadis, dem Begegnungszentrum der Ordensgemeinschaften Österreich, den eindrücklichen Erzählungen von Abt Nikodemus Schnabel. (c) ÖOK/rm
Als Christ im Heiligen Land
Bezogen auf sein Äußeres, dass ihn sofort als Christ erkennen lässt, sagt er: „Ich bin ein lebendes Kommunikationsangebot in Jerusalem.“ Als Abt mit Habit und Brustkreuz oute er sich täglich als Mitglied einer Minderheit im Heiligen Land. Die einen rempeln ihn an oder spucken ihn sogar an, während andere ihre Freude und ihren Zuspruch zum Ausdruck bringen und ihn auf der Straße anstrahlen – egal welcher Religion sie angehören. „Es ist täglich eine Achterbahn der Gefühle.“
„Die Stadt braucht Versöhnung, Heilung und Dialog“
Die Situation in Jerusalem spitze sich zu, die Enthemmung der Gesellschaft nehme zu, der Hass der Menschen nehme ebenfalls zu. Und die Regierung Netanjahus – „eine Regierung aus Kriminellen und Christenhassern“ – tue ihr Übriges. Hinzu komme eine Polizei, die wegsieht und ein Teil der Gesellschaft, dem mehr oder weniger alles egal ist. „Doch statt Hass und Gewalt braucht die Stadt Versöhnung, Heilung und Dialog“, bekräftigt der Dormitio-Abt.
Was ihm Mut mache, sind die wunderbaren Menschen, die vielleicht früher politisch nicht interessiert waren oder neutral waren, und jetzt auf die Straße gehen und gegen die Regierung demonstrieren. „Das macht mir wirklich Mut. Ich bin wieder ganz frisch verliebt in unsere Zivilgesellschaft.“ Israel hat gerade 75 Jahre seit der Staatsgründung gefeiert, und mit Blick in die Zukunft hoffe er, „dass aus dieser ganzen Krise, die Gesellschaft nochmal neu darüber diskutiert, was Israel sein will. Wie will der Staat sein? Wo will dieser Staat hin?“ Das Land stehe an einem Scheidemoment, wo eine neue Diskussion und neuer Mut entstehen können. Er hoffe sehr, dass die Radikalen nicht das letzte Wort haben.
Angesprochen auf den Vorfall, der vor ein paar Wochen beim Stadtrundgang mit der deutschen Bundesforschungsministerin passiert ist, ist Abt Nikodemus heute noch erstaunt, was dieser Vorfall für Wellen geschlagen hat. Er war beim Besuch der Jerusalemer Klagemauer zum Abdecken seines Brustkreuzes aufgefordert worden. Ein Journalist hat die Situation gefilmt und das Video ging innerhalb kürzester Zeit viral. Er selbst habe das erst nach ein paar Stunden mitbekommen und war dann lange damit beschäftigt Medienanfragen zu beantworten. „Auf Jerusalem sind zig Kameras und Mikrofone gerichtet.“ Die Situation sei banal gewesen und trotzdem eine Grenzüberschreitung. Er sei froh, dass er sein Kreuz nicht abgenommen habe. Er befand sich auf einem öffentlichen Platz, mehrere hundert Meter vom Gebetsbereich entfernt, und ohne die Absicht, diesen zu betreten.
„Aber, das alles hat gezeigt, dass aus einem Ereignis, das unangenehm ist, immer auch eine Chance erwächst in den Dialog zu treten“, so der Abt der Jerusalemer Dormitio-Abtei. Neben den Anfeindungen erlebe er auch immer wieder wahrhaftige Solidaritätsbekundungen – von allen Religionen. „Es gibt immer wunderbare Früchte, auch wenn etwas Unangenehmes passiert“, so Abt Nikodemus Schnabel abschließend.
Zur Person
Seit Februar 2023 leitet Abt Nikodemus Schnabel die Jerusalemer Dormitio-Abtei. Der 44-jährige Ordensmann stammt aus Deutschland und trat 2003 in die Dormitio-Abtei der Benediktiner auf dem Berg Zion in Jerusalem ein, wo er 2009 die feierliche Profess ablegte und 2013 zum Priester geweiht wurde. Im selben Jahr promovierte P. Nikodemus Schnabel an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Am 3. Februar 2023 wählte ihn der Konvent der Dormitio-Abtei zum Abt, die Weihe fand im Mai 2023 statt. Unter anderem ist er auch Konsultor der Wiener Stiftung PRO ORIENTE. Von seinem Wirken in Jerusalem berichtet er u.a. auf Twitter (X), Facebook oder Instagram.