„Jesus würde sich heute auf die Straße kleben“
Als wir P. Jörg Alt zum Interview treffen, trägt er ein weißes T-Shirt mit der ironischen Aufschrift „Weltuntergang 2012 – ich war dabei!“ Noch einen Weltuntergang möchte er offensichtlich nicht miterleben. „Ich beschäftige mich seit 40 Jahren mit den Themen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit“, sagt der Ordensmann. „Ich habe dazu Predigten gehalten, Vorträge, Publikationen, Diskussionen, Petitionen und habe eigentlich gedacht, dass ich alles tue, was ich tun kann, um dieses Thema in die Öffentlichkeit zu bringen.“ Doch irgendwann wurde ihm bewusst, dass er den Ernst der Lage selbst noch nicht verstanden hatte und dass die Regierungen dieser Welt nur mehr drei Jahre Zeit haben, entscheidende Weichen zu stellen, bevor das Klima vielleicht nicht mehr repariert werden kann. „Das war dann der Punkt, wo ich mich fragen musste: Wenn die Lage so dringend ist wie 99,9 Prozent der seriösen Wissenschaft sagt, dann kann ich nicht mehr so weiter machen wie in den letzten 40 Jahren. Und wenn diese jungen Menschen mutig genug sind, sich gegen die Dinge einzusetzen, die die Klimakatastrophe schon spürbar machen, kann ich als Ordenspriester nicht nur zusehen, Segen spenden und weiter predigen. Also musste ich mitmachen und mich auch auf die Straße kleben.“
Ziviler Widerstand
Einen ähnlichen Zugang hat auch Jonas Seyer von „Letzter Generation“. Der Oberösterreicher ist noch nicht sehr lange Mitglied bei der Umweltschutzinitiative. Seine Motivation: „Ich habe mich immer mehr mit der Klimakatastrophe befasst und bin richtig aufgerüttelt worden von dieser Information. Und ich habe mich gefragt, wie die Regierung darauf reagieren möchte“, so der Klimaaktivist. Doch befriedigende Antworten fand er keine, und das war der Grund, aktiv zu werden. „Ich habe beschlossen, dass ich das nicht länger aushalte, nur zuzusehen. Und ich habe mich für den zivilen Widerstand entschieden.“ Sein Ziel ist, die Menschen auf die Problematik aufmerksam zu machen und aufzuwecken. „Ich möchte die Menschen überzeugen, doch ich möchte auch selbst Dinge verändern“, so der junge Idealist von „Letzter Generation“. „Ich mache gerade eine technische Ausbildung, und ich möchte mit meinem Beruf etwas verändern. Doch technische Lösungen sind nicht alles. Jetzt müssen die Menschen einmal aufgerüttelt werden.“
Lösung gemeinsam finden
Die Kritik, dass ihre Aktionen dem Klima nicht helfen und die Menschen eher verärgert zurücklässt, lassen beide nicht gelten. „In diesem Fall sage ich immer: Empfiehlt uns etwas anderes!“, zeigt sich P. Jörg Alt kämpferisch. „Empfiehlt uns etwas, was nicht schon jahrzehntelang vergeblich versucht worden ist und was gleich effizient ist, die Menschen so zu irritieren, dass das Thema unignorierbar im Raum steht.“ Und weiter: „Wenn die Menschen die gleiche Energie darauf verwenden würden, die Regierung bei diesem Thema zum Handeln zu bringen statt die 'Letzter Generation' zu bekämpfen, dann würde die Regierung schon längst handeln. Aber stattdessen führt sie nur Schattenboxen gegen die Aktivistinnen und Aktivisten, die als einzige etwas ernst nehmen, was mit 99,9prozentiger Sicherheit auf uns zukommt.“
Jonas Seyer geht mit P. Jörg Alt konform. „Nicht jeder Protest muss quasi die Lösung darstellen, sondern soll nur als Aufwecken wirken“, so der Oberösterreicher. „Wir Klimaaktivisten sind auch nicht die, die die Lösungen finden. Es gibt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auf die gehört werden soll. Lösungen müssen gemeinsam gefunden werden. Wir sind nur der Feuermelder. Und ich glaube, das funktioniert sehr gut durch unseren zivilen Widerstand.
Überzeugen, wo der Wille fehlt
Was sind nun die konkreten Forderungen an die Regierung und an die Gesellschaft? „‘Letzte Generation‘ fordert sogenannte „Low hanging fruits“. Das sind schnelle, billige Maßnahmen, die jede Regierung, die die Klimakatastrophe ernst nimmt, machen sollte wie zum Beispiel ein Tempolimit und das Stoppen von neuen Bohrungen nach fossilen Brennstoffen“, sagt Jonas Seyer. Das sind Probleme, die sofort und einfach eingelöst werden könnten. „Wir haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die genau voraussagen, was getan werden sollte. Es gibt den IPCC-Bericht, den internationalen Klimabericht, es gibt einen speziellen österreichischen Klimabericht. Es sind alle Informationen da, die man braucht. Nur der Wille fehlt. Und genau dafür ist „Letzte Generation“ da, um diese Menschen zu überzeugen und aufzuwecken.“
Keine Gewalt, sondern friedlicher Protest
Bei ihren Aktionen bewegen sich die Aktivistinnen und Aktivisten immer am Rande des Erlaubten – eine Gratwanderung für einen Ordenspriester. „Letzte Generation ist ganz klar der Gewaltfreiheit verschrieben“, erzählt P. Jörg Alt. „Das ist nicht verhandelbar, und das wird auch in Aktionstrainings mit jedem durchexerziert, bevor er überhaupt für Letzte Generation auf die Straße gehen kann. Auch ich als Nichtmitglied musste dieses Training machen. Wir dürfen uns nicht einmal in gefährlichen Situationen verteidigen. Das Einzige, was wir dürfen, ist, unsere Körper gegen Aggression zu schützen.“ Was Jonas Seyer bestätigen kann: „Mit Gewalt löst man keine Dinge!“
Diese Wirtschaft tötet
„Wir sagen, dass wir gewaltfrei protestieren gegen ein System, das Gewalt ausübt“, zeigt sich P. Jörg Alt überzeugt. „Der Zusammenhang zwischen fossilen Energien und globaler Erwärmung und globalem Sterben ist ja erwiesen. Also wenn das nicht Gewalt ist, also wenn es nicht klar ist, dass diese Wirtschaft tötet, auf welche Beweise wartet man noch?“
Jonas Seyer macht auf ein weiteres großes Thema aufmerksam: „Wir müssen auf die kommenden Probleme, konkret auf riesige Klimaflüchtlingswellen, vorbereitet sein. Und da müssen wir auch friedlich miteinander umgehen; auch hier ist Gewalt keine Lösung.“ Ähnlich sieht es der Jesuit: „Die Entwicklungen, die wir bereits angestoßen haben, werden zunehmend Weltteile unbewohnbar machen, zu einen wegen Dürre- und Hitzewellen, aber auch wegen dem unaufhaltsam ansteigenden Meeresspiegel. Aber wir können immer noch viel Gutes bewirken, indem wir unser Verhalten, unsere Wirtschaft umstellen, indem wir unsere Anspruchsdenken überprüfen.“
Jesus als Klimakleber?
Würde sich Jesus heute auf die Straße kleben? P. Jörg Alt: „Jesus hat nicht nur eine individuelle Caritas gepredigt hat, sondern sich auch mit dem Mächtigen seiner Zeit angelegt. Das ist ein Vorbild, dass es heute zu befolgen gibt. Er hat damals Gesetze gebrochen, als er Kranke an Sabbat geheilt hat. Jesus hat Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Institution einen Spiegel vorgehalten. Also ja, deswegen glaube ich schon, dass Jesus sich heute auf die Straße kleben würde.“
Erfahrungen mit staatlichen Institutionen hat P. Jörg Alt mittlerweile genug gesammelt. In Deutschland hat sich der Ordensmann wegen Aktionen zivilen Ungehorsams und Widerstands, etwa an einer Straßenblockade oder dem Retten essbare Lebensmittel aus den Mülleimern von Supermärkten, strafbar gemacht. Seither laufen gegen P. Alt verschiedene Strafermittlungsverfahren. Der jüngste Gerichtsfall: Das Amtsgericht München verurteilte ihn am 16. Mai 2023 mit zwei anderen Aktivisten wegen Nötigung zu Geldstrafen von 10 Euro. Im Gefängnis war der streitbare Jesuit noch nicht – obwohl er sich redlich bemüht: „Ich habe irgendwie den Eindruck, dass die Staatsanwaltschaft mich behandelt wie eine heiße Kartoffel. Man versucht bei mir, die Fälle immer einzustellen, und ich habe mich auch schon erfolgreich gegen Einstellungen gewehrt. Aber ich stelle trotzdem fest, dass man eine große Scheu hat, mich genauso zu behandeln wie die Aktivisten. Aber umso größer ist mein Ehrgeiz, gleichbehandelt zu werden, denn Justitia sollte eigentlich blind sein.“
„Orden on air“ – der Podcast der Ordensgemeinschaften Österreich
Das Medienbüro hat im März 2022 mit dem Podcast „Orden on air“ einen neuen Medienkanal der Ordensgemeinschaften Österreich ins Leben gerufen. Und der Name ist Programm: Der Podcast der Ordensgemeinschaften Österreich holt Ordensfrauen und -männer vor den Vorhang und – im wahrsten Sinne des Wortes – vor das Mikrofon. Ziel ist es, interessante Persönlichkeiten und besondere Talente vorzustellen sowie das Engagement von Ordensleuten in den vielfältigen Bereichen des Lebens zu zeigen.
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[rs]