Ein neues Wir – Die weltkirche.tagung 2021
Die Teilnehmer*innen wurden von Sr. Christine Rod, Generalsekretärin der Österreichischen Ordenskonferenz, und Anja Appel, Geschäftsführerin der Koordinierungsstelle der Bischofskonferenz für internationale Entwicklung und Mission (KOO), herzlich begrüßt.
Bischof Werner Freistetter: Wirtschaft muss sich am Gemeinwohl orientieren
„Es freut mich wirklich sehr, dass die heurige weltkirche.tagung die Gemeinschaft, das Wir, ins Zentrum rückt“, sagte Bischof Werner Freistetter, Vorsitzender der Bischöflichen Kommission für Weltmission, in seinem Einleitungsreferat. Die Corona-Pandemie habe zwar zu persönlichen und zu gesellschaftlichen Zerwürfnissen geführt und gezeigt, wo unsere Gesellschaften und Kulturen brüchig seien; sie habe aber auch gezeigt, dass „alles miteinander verbunden ist, dass Menschen, Pflanzen, Tiere und alle andere Materie, dass alles ein großes Zusammenspiel ist, dessen Gleichgewicht durch uns Menschen zunehmend gestört ist und, ja, seien wir ehrlich, zu kollabieren droht“, so Bischof Freistetter.
Bischof Werner Freistetter. (c) Screenshot
Papst Franziskus‘ Enzyklika „Fratelli Tutti“ diene dieser weltkirche.tagung als Grundlage. Sie sei eine „prophetische Anklage“, in der Franziskus unser profitbasiertes und an einem ungezügelten Wachstum orientiertes Wirtschaftssystem kritisiert. Menschen werden oft unter sklavenähnlichen Bedingungen ausgebeutet. Zentrale Schwachstellen unseres Systems seien auch die reine Orientierung am eigenen (ökonomischen) Vorteil und die fehlende Verbundenheit mit der Mitwelt. Der Ausweg finde sich nur in „einer konsequent und nachhaltig am Gemeinwohl orientierten Wirtschaft“. Freistetter weiter: „Zentral sollte es daher für uns sein, wiederzuerkennen, wie wesentlich die Beziehung zu anderen ist.“ Sein Fazit: „Die Kraft der Vision von einem guten Leben für Alle, kann als der zentrale Hebel für den Wandel gelten, den es braucht.“
Stefan Silber: Der Einzelne trägt Verantwortung für die Gemeinschaft
Stefan Silber lehrt Systematische Theologie an der Kath. Hochschule NRW in Paderborn und koordiniert die deutschsprachige Plattform „Theologie der Befreiung“. In seinem Referat mit dem Titel „Bekehrung zu einem anderen Wir. Befreiungstheologische Anfragen an eine neue Lebensweise“ beschäftige er sich mit den Herausforderungen, die ein „neues Wir“ mit sich bringen. Die Probleme, die die Covid-Pandemie mit sich brachte, kennen wir eigentlich schon seit langer Zeit; sie wurden jetzt nur wie „durch ein Brennglas noch verschärfter dargestellt“.
Stefan Silber. (c) Screenshot
Silber nannte bei dieser Gelegenheit auch einige Beispiele: So wurde deutlich, wie schlecht das Gesundheitssystem in manchen Ländern funktioniere. Auch der Auskommenausgleich, der bei uns eine große Hilfeleistung für fehlendes Einkommen darstellte, gab es in den meisten Ländern nicht. Auch der Zugang zu Impfstoffen war in vielen Ländern unmöglich; selbst wenn genug Impfstoff vorhanden gewesen wäre, wäre er aus wirtschaftlich oder politisch egoistischen Gründen nicht fair verteilt worden.
Dahinter steht wirtschaftlicher Egoismus; Papst Franziskus spricht in „Laudato sí“ davon, dass „diese Wirtschaft tötet“. Große Teile des Planeten werden durch Unternehmen ausgebeutet; dies geschieht oft auch in Verbindung mit vehementen Menschenrechtsverletzungen und wird oft durch teilweise illegale Waffenexporte unterstützt. Tatsächlich befänden wir uns schon mitten im 3. Weltkrieg.
Der Gedanke „We first“ ist mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert; Rechtspopulisten forcieren die Ideologie, dass wir in Wirklichkeit Opfer sein. "Das Erbe der kolonialen Vergangenheit haben wir im Westen nicht vergessen", das führe zu unüberlegt übernommenen Herrschaftsstrukturen, die in Europa Entdemokratisierungsschübe zur Folge hätten. Auch das Christentum sei, ebenso wie andere Religionen, nicht davor gefeit, bestimmte Formen des globalen Egoismus unüberlegt zu übernehmen. Teilweise werden hier auch die christlichen Kirchen missbraucht; das Christentum wird von manchen Kreisen als „beste“ Religion propagiert und kann so zu "Problemverstärkern" werden.
Silber stellte in seinem Vortrag auch die Frage, ob es ein „umfassendes Wir“ überhaupt gebe. Doch wer bestimme das? Und möchte wirklich jeder daran teilhaben?
Das "neue Wir". (c) Screenshot
Ein "neues Wir" ist möglich
Doch ein „neues Wir“ sei durchaus möglich. Voraussetzung dafür seien einige Punkte wie
* Dankbarkeit und Respekt – die müssen uns klar werden, wir „nehmen“ uns nichts von der Welt, sondern wir „empfangen“ von ihr. Dies müsse in Dankbarkeit und Respekt vor den zukünftigen Generationen passieren.
* Genügsamkeit – warum brauchen wir so viel? Wir haben in vielen Bereichen Grenzen erreicht und auch schon überschritten. Wir müssen uns mit weniger zufrieden geben und auch anderen die Möglichkeit geben, an den Reichtümern der Erde teilzuhaben.
* Das Lokale im Globalen – das Umdenken muss gleichzeitig anfangen, auch vor Ort bei uns selbst. Wir müssen bei uns selber anfangen, auch kleine Schritte können helfen. Der Einzelne trägt Verantwortung für die gesamte Gemeinschaft und muss auch bereit sein, seine eigenen Privilegien zurückzustellen.
* Reparieren statt entwickeln – es wird zu viel weggeworfen (manchmal sogar ganze Staaten). Doch es muss mehr repariert werden, weil uns einfach die Ressourcen fehlen. Und man soll durchaus die Schäden der Reparatur erkennen.
Silbers Fazit: Man "darf es sich nicht zu leicht machen mit dem Wir und muss darauf achten, dass es Menschen gibt, denen es sehr schwerfällt, sich diesem Wir anzuschließen, oder sich mitgemeint zu fühlen".
Sr. Anne Beatrice Faye: Alles ist miteinander verbunden
Sr. Anne Beatrice Faye ist Philosophin und Theologin aus dem Senegal und setzt sich vor allem mit Genderfragen in Afrika im Zusammenhang mit Entwicklungsthemen auseinander. Sie referierte darüber, dass „Afrika eine siebenjährige Reise in eine ‚integrale Ökologie' beginne“.
Sr. Anne Beatrice Faye (leider war die Bildverbindung nicht so gut, weshalb der Screenshot ein wenig verschwommen ist). (c) Screenshot
Die Covid-19-Pandemie habe gezeigt, dass alles miteinander verbunden und voneinander abhängig ist und dass sich unsere Gesundheit nicht von der Gesundheit der Umwelt trennen lässt. Die Menschheit müsse einen "neuen ökologischen Ansatz" annehmen, indem sie die ökologischen Herausforderungen und die Lebenswelten der Armen miteinander verbindet. In diesem Sinne gebe uns das von Papst Franziskus in „Laudato sí“ vorgeschlagene Siebenjahresprogramm einen moralischen und spirituellen Rahmen vor, die Zeit nach COVID-19 zu betrachten.
In Afrika waren religiöse Bedeutungen und Symbole schon immer in das tägliche Leben in Afrika integriert und hätten schon immer das Prinzip der Unteilbarkeit zwischen Gott, Geschöpfen und Menschen gelehrt. Der Mensch verstehe sich als ein multidimensionales Wesen. Er hat Beziehungen zu seinen Mitmenschen, zu seinen Vorfahren, zu Gott und zu anderen kosmischen Kräften. Er steht in direkter Verbindung zur Schöpfung und ist in Kontakt mit Flora und Fauna. In Afrika sei auch die Erde göttlich. Sie ist von Göttern, Genies, Vorfahren, okkulten Kräften bevölkert, deren Wohlwollen sich die Menschen auf der Erde erhalten müssen. Passiere das nicht, werden die Menschen von diesen bestraft.
Drei Experimente für ganzheitliche Ökologie
Das zeigten auch drei Experimente als Indikatorparameter für die ganzheitliche Ökologie, die Sr. Anne Beatrice vorstellte:
* Das Songhai-Experiment in Benin:
Produzieren, ohne den Boden zu erschöpfen oder die Umwelt zu zerstören.
* Die "Six S":
Der Versuch einer ganzheitlichen Ökologie in Burkina Faso. Die Sahelzone ist ein trockenes Land und nimmt eine große Fläche des Landes ein. Wie kann man nun mit dieser Herausforderung leben? Dieser Frage stellte sich der Lehrer und Aktivist Bernard Lédéa Ouédraogo. Er organisierte Schulungen für Frauen im Dorf Zooré, um ihnen die Grundkenntnissen über die Techniken der „Nutzgarten“ zu lehren, damit sie ihre Garten- und Feldarbeit unter Berücksichtigung der Umwelt erfolgreich durchführen können. Bisher haben rd. 150 Frauen diese Ausbildung erhalten.
* Jugend- und Öko-Schulen im Senegal:
In Afrika wird bis Ende 2050 mehr als die Hälfte des weltweiten Bevölkerungswachstums stattfinden. Was die Menschen brauchen, ist in erster Linie Bildung. Die Neugestaltung und Überarbeitung der Bildungsprogramme muss im Geiste der ganzheitlichen Ökologie geschehen, um ein ökologisches Bewusstsein und ein ökologisches Handeln zu schaffen. Es ist dringend erforderlich, die ökologische Ausrichtung der Jugendlichen, der Lehrer und der Bildungseinrichtigungen zu fördern.
"Laudato sí" spricht von ganzheitlicher Ökologie, die den Menschen in all seinen Dimensionen und die Natur in seiner Vielfalt berücksichtigt. Sr. Beatrice Faye: "So ist alles miteinander verbunden, und als Menschen sind wir alle wie Brüder und Schwestern auf einer wunderbaren Pilgerfahrt vereint".
Was andere Länder von der "Schöpfungsverantwortung Afrikas" lernen können:
* In der Praxis kann es helfen, die Auswirkungen menschlicher Eingriffe in die Umwelt zu bewerten und somit klar aufzuzeigen, wo der Mensch Schaden anrichtet aber auch, wo Nachhaltigkeit umgesetzt wird.
* Theoretisch lässt sich feststellen, inwieweit die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt den „normalen“ Funktionsweisen der Natur entspricht. Dies könnte helfen, unsere Beziehung zur Erde neu zu definieren und die vorherrschenden Paradigmen umzukehren.
Der Mensch muss die Natur schützen, bewahren, hegen und pflegen. Jede Gemeinschaft kann aus der Erde das entnehmen, was sie zum Überleben braucht, aber sie hat auch die Pflicht, sie zu bewahren – auch für künftige Generationen.
Chiara Martinelli: Heute die Welt von morgen schaffen
Chiara Martinelli ist Senior Advisor des globalen Dachverbands CIDSE, der mit seinen katholischen Mitgliedsorganisationen für globale Gerechtigkeit eintritt. Sie stellte die Laudato sí‘-Aktionsplattform vor.
Chiara Martinelli. (c) Screenshot
Diese Initiative war vom Dikasterium für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen des Vatikans gestartet worden und eröffnet praktische Möglichkeiten des persönlichen Engagements für Institutionen, Gemeinschaften und Familien. Es sollen konkrete Maßnahmen vorgestellt werden, durch die die Ziele von Laudato sí erreicht werden sollen.
„Wir können heute die Welt von morgen schaffen“, zeigte sich Chiara Martinelli in ihrem Vortrag überzeugt. Es zeige sich deutlich, dass weniger als zehn Jahre bleiben, um die Veränderung in Richtung gerechtere und nachhaltigere Welt herbeizuführen, wies Martinelli darauf hin, und zitierte Papst Franziskus, der in seinem Lehrschreiben fragt, welcher Welt den nächsten Generationen hinterlassen werden soll, und was jede und jeder Einzelne dafür tut, dass es eine gute, gesunde Welt ist.
Dazu brauche es aber die Unterstützung nicht nur der Wissenschaftler, Theologen und Künstler, sondern aller Menschen. Der Kernsatz laute daher: Niemand ist allein.
Die Plattform bietet Ressourcen zur Stärkung von Communitys, Möglichkeiten, sich direkt mit anderen Teilnehmern zu verbinden, inspirierende Geschichten von Menschen, die aktiv werden und eine Online-Bibliothek. Sie wird ständig weiterentwickelt. Chiara Martinelli: „Ich nenne die Plattform eine Bestätigung, die eine Änderung herbeiführen soll und wird.“
Sr. Birgit Weiler: Amazonasgebiet nähert sich dem Kipppunkt
Sr. Birgit Weiler ist Professorin für Dogmatik an der Päpstlichen Katholischen Universität Perus. Zusätzlich ist sie Mitglied der theologischen Beratungsgruppe des Lateinamerikanischen Bischofsrates (CELAM) sowie des ökumenischen Kirchlichen Panamazonischen Netzwerks (REPAM). In ihrem Vortrag beschäftigte sie sich mit der „Amazoniensynode – Vor welchen Herausforderungen steht die Umsetzung angesichts von Coronakrise und drohendem ökologischen Kollaps?“
Sr. Birgit Weiler. (c) Screenshot
Die Amazoniensynode sei ein wichtiger Einschnitt gewesen; große Erwartungen waren mit ihr verknüpft worden, doch nicht alle waren erfüllt worden. Was hat sich nun seither getan?
An der Vorbereitung der Synode hatten sich viele Menschen beteiligt, auch viele indigene Völker. Auf ihre Beteiligung hatte von man Anfang an großen Wert gelegt, denn die Indigenen hatten schon immer einen ganzheitlichen Blick auf Umwelt und Menschen; der Mensch ist für sie in ein großes Beziehungsnetz eingewoben. Angesichts der Krise des Planeten stellt der ganzheitliche Weg die einzige Möglichkeit dar. Die Kirche muss hier klar Stellung beziehen – und dies in Bezug auf das Amazonasgebiet nur durch den Blickwinkel der indigenen Völker. „Alles ist mit allem verbunden – für die indigenen Völker ist das Lebenswirklichkeit“, so die Amazonsexpertin.
Lage im Amazonasgebiet dramatisch
"Cuencas Sagdradas", das Gebiet um die Quellflüsse des Amazonas, sei der Raum mit der größten Biodiversität weltweit; der negative Effekt der Klimakrise zeige sich hier besonders schnell.
Und tatsächlich sei die Lage dramatisch. Die Verletzungen der Umwelt seien in der Zeit der Coronakrise nicht nur weitergegangen, sie haben sogar zugenommen. Im Amazonas finden sich diverse Bodenschätze, Gold, Erdöl, etc. Großflächige Rodungen für Anbauflächen für Soja oder Palmöl sind ein lukratives Geschäft. Die Bergbau- und Agrarindustrie betreibt exzessiven Raubbau. Brasilien, Ecuador und Peru gehörten in den Jahren 2018 und 2019 zu den fünf Ländern weltweit, die am meisten Urwald verloren haben. Die Regierungen zeigen klar, dass die indigenen Völker als Störfaktor betrachtet werden. In Brasilien ging das Militär sogar gegen die Ureinwohner vor, um den Wirtschaftstreibenden freie Hand zu garantieren; Morde an indigene Menschen stünden auf der Tagesordnung. Wenn die Entwaldung in diesem Tempo fortschreite, werde das bewaldete Gebiet bis 2050 auf einen Bruchteil schrumpfen. "Das Amazonasgebiet nähert sich an immer mehr Orten gefährlich dem Kipppunkt", warnte Weiler. Ein Zurückdrängen des Urwalds hätte deutlich spürbare negative Folgen für das Weltklima.
Nicht die einzige Problematik: Das immer weitere Vordringen von Agrarunternehmen in die letzten Urwälder führt dazu, dass zuvor eingeschlossene Krankheitserreger erst auf die lokale Viehzucht und dann auf menschliche Gemeinschaften überspringen und für den Menschen gefährliche Viren und Bakterien freisetzen.
Zusätzlich hat die Corona-Pandemie die Menschen in Amazonien hart getroffen. Mehr als 3,3 Millionen bestätigte Infektionen mit dem Coronavirus und mehr als 95.000 bestätigte Todesfälle sind die Folge der Covid-19-Pandemie.
Spiritualität im Einklang mit der Natur
Allerdings gäbe es auch Positives zu berichten. Solidaritätsaktionen innerhalb der Länder Amazoniens und international nach dem Motto "Wir alle sind Amazonien" hätten weltweit das Bewusstsein gestärkt, dass wir alle vom Amazonas abhängig sind und von ihm profitieren. Parallel dazu verstärkte sich vor Ort das Engagement für ganzheitliche Ökologie, sodass sich das Bewusstsein, Heilpflanzen und Spiritualität im Einklang mit der Natur verstärkt zu verwendet, langsam durchsetzt. Die kirchliche Versammlung Amazoniens CEAMA als auch das kirchliche Panamazonas-Netzwerk REPAM zeigen, dass Synodalität zur Praxis wird. Zusätzlich zeige die Gründung einer neuen Schule für Menschenrechte erste Erfolge: Viele Männer und Frauen würden ihr Wissen und ihre Erfahrungen vor Ort umsetzen.
Weilers Fazit: Sie verweist auf das Schlussdokument der Synode. „Angesichts der Notlage des Planeten und des Amazonasgebietes ist die ganzheitliche Ökologie der einzig mögliche Weg“, zitierte die Theologin aus dem Text. Die Kirche muss an der Seite der indigenen Völker stehen und ihnen im Kampf gegen die Vernichtung ihres Lebensraumes beistehen. Amazonien ist das Lebensgebiet der indigenen Völker; sie hätten dort seit jeher so gelebt, dass dieses Gebiet nicht zugrunde ging. Von ihnen können wir lernen, den gemeinsam Weg zu gehen. „Insofern ist diese Synode eine ernst zu nehmende Botschaft aus Amazonien heraus in die Welt“, so Weiler in ihrem Schlusswort.
[robert sonnleitner]