Freiheit von Vorurteilen führt zu Beweglichkeit
Was waren Ihre Erwartungen und Ziele, und wie erwies sich die Praxis in Afrika?
Sr. Ingrid Vorner: Als ich gefragt wurde, ob ich mir vorstellen könnte, nach Afrika zu gehen, um dort Theologie zu unterrichten, erlebte ich das als Anruf, mitzuhelfen am Aufbau der überwiegend noch jungen Kirche in Afrika. In der Praxis erlebte ich, dass diese Tätigkeit – mehr als ich je zu träumen gewagt hätte – eine Weise ist, mitzuarbeiten an der Weitergabe des Glaubens und Menschen dabei zu helfen, ihr Leben als gläubige Christen zu gestalten und ihrerseits imstande zu sein, andere auf diesem Weg zu begleiten und zu unterstützen.
Was hat sich verändert, welche neuen Sichtweisen oder Felder haben sich aufgetan?
Eine Veränderung, die bei den anfänglichen Überlegungen nicht so im Blick war, ist, dass ich hier ein weniger „verbürgerlichtes“ Ordensleben lebe. Der Lebensstil ist schon einfacher, auch wenn ich nichts entbehre. So gibt es beispielsweise in unseren Gemeinschaften in Rwanda und in Kenya normalerweise kein fließendes Warmwasser. Wer – wie ich und nach meiner Wahrnehmung auch viele meiner afrikanischen Mitschwestern – nicht kalt duschen will, muss eben Wasser wärmen und sich dann mit dem Wasser übergießen. Andererseits gehört, was die Arbeit im Hochschulbereich betrifft, in Kenya die Verwendung von Powerpoint bereits zum Standard – in einer Weise, wie das während meiner Studienzeit in Österreich und in Deutschland noch nicht üblich war.
Spürt man im gelebten Glauben einen Unterschied zwischen Zentraleuropa und Kenya?
Nicht nur in Kenya, auch in Rwanda und in Kamerun ist es den Menschen selbstverständlich, ihren Glauben wirklich zu feiern. Eucharistiefeiern sind nicht einfach länger als in Europa, sie sind gekennzeichnet durch Beteiligung der Gemeinde mit Gesang und Tanz. Auch an Werktagen ist immer eine Gruppe für Gesang und für die Lesung zuständig. Abgesehen von diesem Bereich spüre ich im Alltag aber praktisch keinen Unterschied. Wenn ich das Leben in meiner Lokalgemeinschaft ins Auge fasse, wo ich die einzige Europäerin unter lauter Rwandesinnen bin, habe ich nicht den Eindruck, dass meine Weise, meinen Glauben zu leben, so grundlegend verschieden von der ihren ist.
Mussten Sie das Loslassen nach Ihrer Ankunft erst lernen, oder fiel es Ihnen leicht, sich anzupassen? #LoslassenBefreit – würden Sie das unterschreiben?
Als ich in Afrika ankam, hatte ich nicht den Eindruck, etwas loslassen zu müssen. Ich denke, ich kam mit Offenheit, mich auf neue Erfahrungen einzulassen, und gewiss nicht mit der Vorstellung, es müsse hier alles so sein wie in Deutschland, wo ich zuvor gelebt hatte, oder in Österreich. Nach Aussage von Mitschwestern, mit denen ich zusammenlebe, und von Leuten, mit denen ich zusammenarbeite, habe ich mich gut angepasst. Ich hatte nie den Eindruck, mich „verrenken“ zu müssen. Am ersten Tag nach meiner Ankunft sagte mir meine künftige Vorgesetzte in Rwanda, ich solle ich selber bleiben. Ich denke, das habe ich getan. Das „Loslassen“ oder vielmehr erst gar nicht Festhalten ereignete sich irgendwie schon vorher. Schon als ich nach Deutschland gesandt wurde, stand erlebnismäßig nicht das Weggehen von Österreich, sondern das Ankommen an dem neuen Wirkungsort im Vordergrund. In meinem ganzen Ordensleben war mir immer der Inhalt meiner Sendung viel wichtiger als der Ort, an dem ich sie ausüben sollte. Die Freiheit von Vorurteilen oder fixen Vorstellungen und Beweglichkeit im Hinblick auf den Einsatzort ist gewiss etwas, was befreit, Freiheit gibt, Begegnungen und Erfahrungen als Geschenke zu erleben und sich ganz hineinzugeben.
Sie sind ein exemplarisches Beispiel für die gelebte Internationalität von Ordensleuten. Ist sie Freiheit oder Bürde und wo liegen ihre Vorteile?
Ein wichtiges Anliegen der Ordensgemeinschaft der Helferinnen ist es, Zeugnis zu geben davon, dass es für die Liebe keine Grenzen gibt, und daran zu arbeiten, dass alle Menschen in ihrer Würde als Kinder des einen Vaters anerkannt werden. Das Zusammenleben und Zusammenarbeiten mit Menschen anderer Herkunft und anderen Kulturen ist ein besonders geeignetes Mittel zur Verwirklichung dieses Ziels. In diesem Sinn ist für mich als Helferin Internationalität etwas Selbstverständliches. Hinzu kommt, dass es internationale Strukturen ermöglichen, vorhandene Ressourcen, insbesondere personelle, gezielter dort einzusetzen, wo sie dringender gebraucht werden und mehr Frucht erwartet werden kann. Wäre ich Mitglied einer nur lokal vertretenen Gemeinschaft, hätte niemand auf die Idee kommen können, mir einen Einsatz in Afrika vorzuschlagen!
Kenya/Afrika – Wofür stehen Land und Kontinent für Sie?
Zum einen: Schon während meiner Studienzeit in Deutschland stellte ich in Gesprächen mit meinen afrikanischen Kollegen die Idee einer einheitlichen afrikanischen Kultur, Philosophie, Theologie in Frage. Meine Erfahrungen in Rwanda und Kenya bestätigten mich darin, dass Afrika – ähnlich wie Europa – ein Kontinent mit einer Vielfalt von Kulturen ist, die zwar einige gemeinsame Grundzüge aufweisen, aber im Einzelnen doch sehr verschieden sind. Diesen Reichtum schätze ich. Zum anderen: Es betrübt mich, dass in Europa Afrika vielfach, wenn überhaupt, nur als Problemzone und als Quelle von Flüchtlingsströmen wahrgenommen wird. Auch wenn in vielen Ländern die Politiker korrupt sind und gute Verwaltung fehlt, so gibt es doch viele Menschen, die sich dafür einsetzen, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen und ihr Land voranzubringen. Die Europa-Hymne sagt etwas von ‚Alle Menschen werden Brüder (und Schwestern)‘ – da gehören Afrikaner auch dazu!“
Fotos: Helferinnen
[mschauer]