Präsidentin Mayrhofer und Bischof Bünker sprechen bei Gedenkfeier zur Pogromnacht 1938
Bischof Bünker lässt keinen Zweifel: "Entfesselte Gewalt ist vor 75 Jahren zu Anwendung gekommen. Lasst uns daher nicht aufhören hinzuschauen." Und diese tödliche Ideologie ist heute stellenweise noch immer im Gange bis hin zum Präsidium des Nationalrates, "wo einer die Meinungsfreiheit in Gefahr sieht". Auch die Kirchen sind an der Shoa mitschuldig geworden, weil sie die Juden "theologisch getötet" haben. "Die Kirchen waren stumm, wo sie hätten schreien sollen." Bünker zum Heute: "Die Kirche ist auf den Weg der Umkehr und steht in lebendiger Beziehung zur jüdischen Gemeinde."
Stimme erheben und nicht in Stummheit versinken
Sr. Beatrix Mayrhofer sprach für die katholische Kirche in der überfüllten Ruprechtskirche in Wien und erinnert an diese Nacht mit einem Blick in die Chronik der Schulschwestern in Wien. Es waren keine Kinder mehr da, die Schule wurde geschlossen und die brennende Synagoge in der unmittelbaren Nachbarschaft hat an diesem Abend niemand gerettet. Gerade heute heißt es auch, "die Stimme zu erheben und nicht in Stummheit zu versinken". Es geht darum, "gemeinsam eine neue Stadt des Friedens und der Gerechtigkeit zu bauen". Immer wieder braucht es das "Wendegebet, um aufzustehen und einzustehen".
Ansprache von Präsidentin Sr. Beatrix Mayrhofer im Wortlaut
"Morgen früh beten wir ihn wieder, den 17. Vers dieses Psalms, jeden Morgen beten wir ihn, denn es sind die ersten Worte, mit denen rund um den Erdball die Priester, die Mönche, die Ordensfrauen das Lob unseres Gottes beginnen. Und mit den Schulschwestern in Japan, bei denen schon bald der Morgen des 10. November anbricht, beten wir wieder: Herr, öffne mir die Lippen! Herr, öffne mir die Lippen! – so haben meine Mitschwestern am Morgen des 10. November 1938 auch gebetet.
Sprache verschlagen
Haben sie wirklich gebetet? Hat es ihnen nicht die Sprache verschlagen? Haben sie nichts gehört in dieser Nacht, als nur einen Häuserblock weiter in Wien Fünfhaus der Turnertempel gebrannt hat, haben sie das krachende Einstürzen dieses Zentrums jüdischen Lebens nicht gehört, das Schreien der Menschen? Die Feuerwehr haben sie nicht gehört, denn die kam nicht, noch lange nicht. Und als sie kam, hat sie die umliegenden Häuser geschützt vor den Flammen, die gerade die Synagoge vernichteten. Mit ihren Schulkindern konnten die Schwestern über die vergangene Nacht nicht sprechen, denn auch die Schulkinder kamen nicht, durften nicht mehr kommen. Schon Anfang August 1938 wurde den privaten Schulen das Öffentlichkeitsrecht entzogen und alle Lehr- und Erziehungstätigkeit verboten.
Schwere tiefgreifende Ereignisse
Die Chronik des Ordens berichtet von allen Schließungen, von der Vertreibung der Schwestern. Über das Verbrennen der Synagoge schweigt sie. Hat die Angst, die politische Vorsicht, der Schreiberin die Feder gehalten? Oder sogar der Antisemitismus, von dem auch die Ordensfrauen angesteckt waren? Ich weiß es nicht. Ich lese nur, dass die Chronistin das Jahr 1938 beschließt mit dem Hinweis auf „schwere, tiefgreifende Ereignisse“ und auf eine „dunkle Zukunft“. So stehe ich nun hier, am 9. November 2013, und bete mich hinein in die alten, heiligen Worte. Herr, öffne mir die Lippen! Öffne du mir die Lippen, denn wenn ich den Mund aufmache, ohne geleitet zu sein von deinem Geist, dann kann es wohl sein, dass nur sinnloses Schwätzen oder auch böse Worte über meine Lippen kommen. Wenn wir den Mund aufmachen, ohne geleitet zu sein vom göttlichen Geist, dann kann es auch ein auftrumpfendes, abwertendes, verletzendes und verurteilendes Reden sein, launisch und lügnerisch. Das Brüllen am Heldenplatz, damals, das Johlen der Brandsätze werfenden Fanatiker in dieser Nacht, in dieser Stadt, kam nicht von den Lippen derer, die den Psalm 51 gebetet haben – aber waren nicht gerade die Getauften die Tätern? Wer hat denn die Stimme erhoben gegen die grässlichen Maul-Aufreißer? Und wer hat den Mund eben nicht aufgemacht, wer hat geschwiegen?
Lippen öffnen auch bei tiefer Schuld
Herr, öffne mir die Lippen, öffne sie mir, damit ich rede, die Stimme erhebe, wo ich reden muss und mich nicht vergrabe in Stummheit und in feigem Verschweigen. Heute. Herr, öffne mir die Lippen! Aber was bete ich da? Zu wem bete ich so, noch bevor ich zu beten beginne? Du, Herr, bist da, bist der, zu dem ich mich wende, du, der sich schon herwendet zu mir, der mich schon kennt im Schoß meiner Mutter. Und der mir die Lippen öffnet, wenn tiefe Schuld mir die Sprache verschlägt. Du, der Du wirkmächtiges Wort bist, der An-Redenden, der Gott des Zu-Spruchs, der du Schöpfung durch Sprache erschaffst, du öffnest mir die Lippen und ich flehe zu dir um ein reines Herz, um einen neuen, beständigen Geist. Und da ich anfange, mit dir zu reden, bitte ich dich, dränge ich dich mit der ungestümen Hoffnung des Beters.
Imperative
Achtzehn Imperative formuliert unser Psalm: Sei mir gnädig, wasche mich, entsündige mich, verwirf mich nicht, rette mich! Öffne mir die Lippen! Tu Gutes an Zion! Bau die Mauern Jerusalems wieder auf! Nach aller persönlichen Rede, aller Bitte, dass der Herr an mir handle, wendet und weitet sich das Gebet. „Bau die Mauern Jerusalems wieder auf!“ Möge doch aus den uralten Trümmerstätten eine neue Stadt erstehen, ein Haus des Friedens, eine Stadt der Gerechtigkeit, in der das Opfer des Lobes dargebracht und zum Mahl der Versöhnung geladen wird. Im tiefem Bewusstsein um die Schuld unserer Väter und Mütter, um die Verbrechen in den Straßen unserer Stadt heute, in dieser Nacht und in vielen folgenden Tagen und Nächten und auch im Einbekennen unseres eigenen Versagens angesichts neuer Schuld und himmelschreiender Sünde in unserer Welt klammern wir uns an den Beter des Psalms, beten Zeile um Zeile und bitten mit ihm: Herr, öffne mir die Lippen, damit mein Mund dein Lob verkünde!
Wendegebet
Morgen früh werden wir Schwestern wieder mit diesem Vers die Laudes beginnen. Weder werden wir beten, wie tausende Jahre vor uns schon abertausende Menschen gebetet haben. Möge es zu einem Wende-Gebet werden, zu einem Beten, das uns hinwendet zum Lobpreisen und Wahr-Nehmen, zum Auf-Stehen und Ein-Stehen, zum großen Jubel über Gottes Gerechtigkeit. Herr, öffne mir die Lippen und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden."
In einem Schweigemarsch trugen die Mitfeiernden Lichter von der St. Ruprecht Kirche zum Mahnmal am Judenplatz.
[fk]