Die Welt wäre ärmer ohne die Orden
Der kulturelle Kontext, in dem wir uns bewegen, ist im Fluss. Und zwar unaufhaltsam. Wir bewegen uns in diesem Fluss. Das war die Basis der Gegenwartsinterpretation von Rainer Bucher bei der Ordenswerkstatt im Kardinal König Haus. Der Fluss des Kulturwandels wird dabei von den meisten positiv erlebt. Einige Grundzüge der gewandelten Kultur sind: 1. Kulturen ordnen sich nicht mehr nach Räumen, sondern bestehen eng nebeneinander oder miteinander. Wo das nicht möglich ist, wird die alte räumliche Trennung wieder aufgebaut – mit Mauern und Maschinengewehren. 2. Die Definitionshoheit über das Geschlechterverhältnis liegt nicht mehr ausschließlich bei den Männern. Allerdings sind die Fundamentalismen in allen Religionen stark patriarchal. 3. Die Regeln des Marktes dringen in alle Lebensbereiche vor. Die Kirche ist von der Macht auf den Markt gekommen. 4. Das soziale Leben ist nicht mehr lokal gebunden. Wir sind global vernetzt.
Ist Kirche die Festung des Gestern im Heute?
Zum hohen Tempo des Kulturwandelns zitierte Bucher die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Wir fahren auf Sicht!“ Wer nicht auf Sicht fährt, ist ein Geisterfahrer. Die Institution katholische Kirche muss sich im Fluss des Kulturwandels entscheiden: Bleibt sie die Festung des Gestern im Heute? Oder was sonst? Wichtig ist für die Kirche weniger, wie sie sich selbst sieht, sondern wie die anderen sie sehen. Die Identität setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 1. aus dem Selbstbild, 2. aus dem Bild, das sich andere machen und 3. aus dem Handeln in dieser Situation.
An manchen Stellen funktioniert Kirche gut
In Gruppen- und Plenumsgesprächen nahmen die Ordensfrauen und –männer bei der Ordenswerkstatt die Anregungen auf und diskutierten, was die Überlegungen zum Kulturwandel für das Ordensleben heute bedeuten. Sie sammelten auf Anfrage des Referenten hin Beispiele, wo Kirche heute gut funktioniert. Etwa im Hospiz der Caritas Socialis, in der Begleitung von Menschen in schwierigen Lebenssituationen, in der Bildungsarbeit als Befreiungsarbeit, im stillen Morgengebet, im Erleben der Stille mit Erstkommunionkindern, in der weltweiten Verbundenheit durch das Stundengebet, in einem Begegnungstag zwischen Ordensfrauen und muslimischen Frauen…
Kirche muss sich den Problemen stellen, auch die Orden
Demgegenüber wurden auch Phänomene der Krise gesammelt. Die Demütigung des Abstiegs, die Vereinzelung, der der Zusammenhang fehlt, die Fülle an Angeboten, etwa die ZIB2 als Nachtgebet mit bestimmten Ritualen, die äußere Form des Kircheseins - das „Betriebssystem“, das sich in Kirchensprache, Kirchenrecht oder Milieu äußert oder die „Marktlogik“, nach der die Kunden die Anbieter in der Hand haben, nicht mehr die Anbieter die Kunden. Angesichts der aufgezählten Problemstellen braucht es die Unterscheidung der Geister: Welche Probleme müssen wir angehen, welche lenken uns vom Wesentlichen ab?
Den Schatz der Ordenstradition nutzbar machen für das Heute
Der Referent Rainer Bucher regte die Ordensleute der verschiedensten Ordensgemeinschaften in der Ordenswerkstatt dazu an, zu den Problemen, die sie heute bewegen, den reichen Schatz ihrer geistlichen Ordenstradition zu befragen. Nicht umgekehrt - vom Ursprung her das Heute zu entwickeln, sondern vom Heute ausgehend die Tradition zu befragen. Als Grundvoraussetzung des geistlichen Lebens (oder vielleicht auch als notwendige Begleiterscheinung) erwähnt Rainer Bucher die bedingungslose Anerkennung der Wirklichkeit. Ohne große Affekte, indifferent. Die Wirklichkeit soll man weder schönreden, noch zum Gegenangriff übergehen. Allerdings sind viele Teile der je individuellen Wirklichkeit in der Kirche nicht kommunikabel. Es gibt ein dramatisches Defizit an wirklicher Gemeinschaft in der Kirche, wenn Gemeinschaft Anerkennung der anderen bedeutet, Ehrlichkeit, Offenheit, Annahme. Ehrlichkeit in der Kommunikation ist in der Kirche nicht die große Stärke.
Machtlosigkeit macht Kirche glaubhaft
Die nächste Frage, mit der sich die Ordensleute beschäftigten, war, welche Bedingungen es braucht, damit Kirche funktioniert. Zum Beispiel den glaubhaften Gestus der Machtlosigkeit. Die Zeichen, die der neue Papst Franziskus als erste gesetzt hat, waren gut. Zuallererst hat er sich vor dem Volk verneigt. Für diese Demut braucht es ein starkes Selbstbewusstsein. Als Rahmen für die Frage, wie Kirche funktionieren kann, setzte der Referent vier Punkte, nach denen Kirche nicht mehr funktioniert: 1. Wir sind oben. 2. Wir wissen, wer ihr seid. 3. Wir wissen, wie es geht. 4. Folgt uns nach. Dieses alte System funktioniert in Zeiten des Kulturwandels nicht mehr.
Abstieg der Kirche hat Vor- und Nachteile
Professor Bucher ermutigte die Ordensleute noch einmal, jede Gemeinschaft für sich, nachzuschauen: „Was sagt die Ressource meiner Ordenstradition zu den Themen von heute?“ Eine Entlastung in der Abstiegserfahrung ist auch das Kirchenbild des Zweiten Vatikanums. Die Kirche ist nicht mehr die Grenze des Heilswillens Gottes. Sie ist die Gemeinschaft derer, die an die Berufung aller, aller Menschen durch Jesus Christus glauben. Und sie ist nur Volk Gottes, wenn sie diese Berufung bezeugt. Dieses Kirchenbild setzt die Kirche in Bezug zur Menschheitsgeschichte. Abstieg der Kirche heißt nicht mehr Heilsverlust für alle, die nicht dazu gehören. Sowohl eine große als auch eine kleine Kirche hat ihre Vorteile. Problematisch ist es erst, wenn niemand mehr da ist, der Jesus Christus bezeugt.
Welche Herausforderungen von heute gehen Orden an?
Zu den Orden meinte der Referent, viele stecken in der Vergangenheitsfalle. Sie sind so belastet mit den eigenen Werken, Häusern, Strukturen, Institutionen, dass sie jede Selbstbestimmung verloren haben. Daher noch einmal der Appell, das Heute anzuschauen, und mit diesem Blick die eigenen Ressourcen der geistlichen Tradition zu aktivieren. Das kann in einer Option für die Armen münden, in einer Schöpfungssensibilität, in einer Sensibilität für die Geschlechterfrage,… Welche Herausforderungen von heute gehen Ordensleute an? Mit der ganzen existenziellen Wucht, die das Ordensleben mit sich bringt? Bucher: „Deshalb müssen Sie ja nicht die Aufgaben einer Familie erfüllen. Deshalb müssen Sie nicht die Existenzlast tragen. Deshalb müssen Sie nicht jede Entscheidung selber treffen. Das ist die befreiende Dimension der Ordensgelübde.“
Ordensgemeinschaften sollten sich den Spiegel der anderen regelmäßig zumuten. Sie werden im Allgemeinen positiv wahrgenommen, haben kein schlechtes Image in der Gesellschaft. Und, so Rainer Bucher: „Das Volk Gottes würde etwas verlieren, die Menschheit würde etwas verlieren, wenn es die Zugespitztheit der Orden nicht mehr gäbe.“
[ms]