Die Stiftung Opferschutz der römisch-katholischen Kirche in Österreich
Vortrag gehalten bei der virtuellen Jahrestagung der ARGE Ordensarchive am 5. Oktober 2020.
Die mit dem Opferschutz in Zusammenhang stehende Arbeit in der römisch-katholischen Kirche in Österreich kann man in mehrere Phasen gliedern, bis hin zu den Änderungen, die sich durch die Überarbeitung der Rahmenordnung „Die Wahrheit wird euch frei machen“ 20211 ergeben2. In jeder dieser Phasen entstanden und entstehen für die Archive relevante Dokumente. Zu jedem Fall, der der von Ihnen vertretenen Organisation, sei es ein Orden, eine Diözese oder eine andere Einrichtung, zugeordnet ist, sollten diese Dokumente vorhanden sein.
Den Wendepunkt markiert das Jahr 2010, in dem es aufgrund der medial berichteten Skandale – auch aus der österreichischen Kirche – zu massenhaften Austritten der Katholikinnen und Katholiken des Landes kam.
Schon von Anfang an wurde von den Verantwortlichen der katholischen Kirche in Österreich, Bischöfe, Vorsitzende der Ordenskonferenz und anderen Organisationen eine Haltung „pro Opfer“ als wesentlich genannt. Es erfolgt keine Beweisführung im Sinne eines Gerichtsverfahrens, es geht um eine Glaubhaftmachung des Erlebten.
Die im gesamten Ablauf verwendeten Begriffe sind daher „Betroffene Person“, für die von Gewalt und Missbrauch Betroffenen, und „Beschuldigte Person“ für Männer und Frauen, denen Gewalt und Missbrauch vorgeworfen werden.
- 2010 Phase 1
2010 war der Druck der Öffentlichkeit so groß, dass sich die Österreichische Bischofskonferenz zum Handeln gezwungen sah. Von Anfang an waren Vertreterinnen der Vereinigung der Frauenorden und Vertreter der Superiorenkonferenz (seit 2019 gemeinsam in der „Österreichischen Ordenskonferenz“) bei der Erarbeitung der Rahmenordnung und der Gestaltung der Gremien beteiligt. Im April 2010 wurde Frau Landeshauptmann a.D. Waltraud Klasnic als Unabhängige Opferschutzanwältin bestellt und beauftragt, Personen für eine Unabhängige Opferschutzkommission (UOK) zu suchen. Die Unabhängige Opferschutzanwältin Frau Klasnic war Anlaufstelle für die Meldungen von Betroffenen, die in großer Zahl eintrafen. Für die organisatorische Unterstützung von Frau Klasnic wurde ein Büro „Unabhängige Opferschutzanwaltschaft“ (UOA) eingerichtet. Die Unabhängige Opferschutzkommission war und ist dafür zuständig, über die konkrete Höhe von Finanzhilfen und Therapiebeiträgen zu entscheiden.
Für die konkrete Abwicklung der zugesprochenen Finanzhilfen und Therapien wurde die Stiftung Opferschutz3 der katholischen Kirche gegründet. Die Stiftung setzt die Beschlüsse der Unabhängigen Opferschutzkommission um, zahlt an die Betroffenen aus und verrechnet diese Beträge an die Kirchlichen Oberen weiter.
Im Weiteren stellen einzelne Schritte Kontaktaufnahmen mit kirchlichen Oberen dar. Die Korrespondenz müsste, sofern sie an die Organisation geschickt wird, vorhanden sein.4
1.1 2010 – Phase 1 - Ablauf
In dieser Phase erfolgt der Ablauf der Meldungen und Bearbeitungen folgendermaßen.
- Betroffene melden sich direkt bei der UOA / Frau Klasnic
- Clearing durch Therapeuten
- Stiftung Opferschutz kontaktiert kirchlichen Oberen, Ersuchen um Stellungnahme („Erstkontakt“)
- Entscheidung durch UOK
- Stiftung Opferschutz verständigt kirchliche Obere „Forderungsanmeldung“
- Stiftung Opferschutz verrechnet nach Auszahlung weiter an kirchliche Obere („Refundierungsschreiben“)
1.2 2010 – Phase I - Kontakte mit kirchlichen Oberen
Untenstehend ist ein Beispiel für diesen „Erstkontakt“ durch die Stiftung. Dieses Schreiben will zum einen den Kirchlichen Oberen über die Opfermeldung informieren und zum anderen wird um eine Stellungnahme ersucht.
„Erstkontakt“ durch Stiftung
- Information über Opfermeldung
- Ersuchen um Stellungnahme
Mit der „Forderungsanmeldung“ erfolgt die Information des Kirchlichen Oberen darüber, dass die Unabhängige Opferschutzkommission einen Beschluss gefasst hat sowie über die Höhe der zugesprochenen Finanzhilfe und / oder Therapie. Untenstehend sehen Sie ein Beispiel für eine Forderungsanmeldung.
„Forderungsanmeldung“ durch Stiftung
- Information über Beschluss UOK
- Höhe Beschluss Finanzhilfe bzw. Therapie
2. Juni 2011 – Phase II
- Einbindung der diözesanen Ombudsstellen (OST)
- Ombudsstellen als Anlaufstelle für Betroffene
- Aufnahme der Fälle und – wenn gewünscht – Weiterleitung an die UOA
- Eine Falldokumentation wird von der Ombudsstelle erstellt
- Clearing nur in Sonderfällen
- Weiterer Ablauf bzw. Kontakte mit Kirchlichen Oberen wie zuvor
3. 2013 – Phase III
- Einsetzen Diözesane Kommission (DK)
- Diese führt anhand der Falldokumentationen aus den Ombudsstellen Erhebungen durch
- Befragung der Kirchlichen Oberen
- Befragung der Beschuldigten
- Beratung des Ordinarius zum Umgang mit Beschuldigten
3.1 2013 – Phase III - Kontakte mit Kirchlichen Oberen
„Erstkontakt“ durch Diözesane Kommission
- Information über Opfermeldung
- Übermittlung Falldokumentation
- Ersuchen um Stellungnahme
- Ersetzt „Ersterhebung“ durch Stiftung Opferschutz
Schreiben durch Stiftung nach Beschluss UOK (siehe Seite 3, „Forderungsanmeldung“ durch Stiftung)
- „Forderungsanmeldung“
- „Refundierungsschreiben“
4. 2017 Phase IV
Eine wesentliche Änderung brachte 2017 das vom Parlament beschlossene „Heimopferrentengesetz“5, abgekürzt HOG. Dieses Gesetz sichert Menschen, die in ihrer Kindheit und Jugend in einem Heim untergebracht waren, eine monatliche Rente zu.
- Zusatzpension für Heimkinder (auch Internate)
- Volksanwaltschaft als Anlaufstelle für Betroffene, die sich noch nicht gemeldet haben
- Volksanwaltschaft braucht Information, ob die betreffende Person
- Zur angegebenen Zeit
- In der betreffenden Einrichtung war
- Auskunft generell via Österreichische Ordenskonferenz
- Sie kontaktiert den Orden mit der Anfrage
- Sie gibt die Rückmeldung des Ordens an die Stiftung Opferschutz und diese an die Volksanwaltschaft weiter
5. 2021 Phase V
Ergänzend zum Vortrag sei an dieser Stelle auf die aktuelle Entwicklung hingewiesen. Die Österreichische Ordenskonferenz6 und die Österreichische Bischofskonferenz7 haben eine überarbeitete Rahmenordnung beschlossen. Diese dritte überarbeitete Rahmenordnung trat mit 1. September 2021 in Kraft.
Wesentliche Veränderungen sind:
- Sowohl ein kirchliche/r Obere/r als auch eine Diözesankommission können ein Clearing verlangen.
- Eine Diözesankommission kann bei bestimmten, festgelegten Voraussetzungen einen diözesanen Abschluss setzen.
- Die Unabhängige Opferschutzkommission kann bei fehlenden Informationen an die Diözesankommission eine Rückfrage stellen.
- Bei von den Voten der Diözesankommissionen abweichenden Entscheidungen der Unabhängigen Opferschutzkommission ist der Entscheidung eine Begründung beizufügen.
6. Kirchliche Verfahren bei Klerikern
Gemäß Can. 1717 - § 18 muss der Ordinarius eine Voruntersuchung einleiten, wenn er Kenntnis davon erlangt, dass eine Straftat durch einen Kleriker vorliegen könnte.
Die Voruntersuchung ist mit einem Dekret einzuleiten und mit einem Dekret abzuschließen. Danach muss der Ordinarius den gesamten Akt, versehen mit seinem persönlichen Votum, der Glaubenskongregation zuleiten, welche die bereits getroffenen Maßnahmen bestätigt oder korrigiert und die weitere Vorgangsweise festlegt (z.B. ob und von wem ein Strafverfahren oder ein kirchlicher Strafprozess durchzuführen ist).
7. Historische Dimensionen
- Ordensinterne Dokumentation von Missbrauchsmeldungen
- Betroffene und Beschuldigte
- Umgang mit Vorwürfen bzw. deren Aufarbeitung
- Konsequenzen für Beschuldigte (auch kirchliche Verfahren)
- Dokumente aus der Zeit vor 2010 integrieren
- Dokumente über die Betreuung von Minderjährigen oder Schutzbedürftigen
- Schüler, Internats- bzw. Heimzöglinge (wer war wann in welcher Einrichtung)
8. Gesetzliche Auskunftspflichten
- Heimopferrente
- Bestätigung des Aufenthalts durch Orden als Grundlage für Rentenanspruch
- Unterlagen über Heimkinder, Internatszöglinge, … dauerhaft verwahren (Nachweis für/über korrekte Auskunft)
- Verfahren nach Straf- bzw. Zivilrecht
- Auskunftsfähigkeit sichern
- Fakten und Atmosphärisches
9. Öffentliches Interesse
- Umgang der katholischen Kirche mit Missbrauchsfällen
- Auskunftsfähigkeit, auch in ferner Zukunft, sichern
- Dokumentation für und von Medienberichten
10. Zahlen, Daten, Fakten aus der Stiftung Opferschutz9
Die untenstehenden Graphiken werden von der Stiftung Opferschutz erstellt.
Der Bearbeitungsstand zeigt an, wie viele Fälle von der Unabhängigen Opferschutzkommission bereits entschieden sind. Von den 2.730 entschiedenen Fällen wurden in 1.809 Fällen sowohl Finanzhilfe als auch Therapie zugesprochen, in 625 Fällen wurde eine Finanzhilfe zugesprochen, in 81 Fällen nur Therapie. In 215 Fällen wurde weder Finanzhilfe noch Therapie zugesprochen.
In Summe wurden für Finanzhilfen EUR 25.901.468,00 und für Therapien EUR 6.766.206,00 zugesprochen. Von den Finanzhilfen sind EUR 25.731.568,00 ausbezahlt, von den zugesprochenen Therapien EUR 2.392.966,00.
11. Ablauf ab 1. September 2021
Die untenstehenden Graphiken veranschaulichen den Ablauf und die zu setzenden Kommunikationsschritte.
11.1. Gesamtprozess
Copyright Anna Egger
11.2. „Diözesaner Abschluss“
Copyright Anna Egger
Wie dargestellt ergibt sich aus den im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch geführten Verfahren zum einen die Notwendigkeit für die angefragten Stellungnahmen auf Archivunterlagen zurückzugreifen, zum anderen entstehen aus der Bearbeitung wiederum archivrelevante Unterlagen. Dies dient der internen Dokumentation und unterstützt die Auseinandersetzung mit der Geschichte der eigenen Einrichtung. Ebenso wird damit die Auskunftsfähigkeit gegenüber Dritten erhöht, sei dies aufgrund gesetzlicher Auskunftspflichten, sei dies aufgrund medialen Interesses. Mit der Sorge um diese Dokumente leisten Archivarinnen und Archivare einen wichtigen und wertvollen Beitrag in der Aufarbeitung und Bearbeitung von Fällen des sexuellen Missbrauchs.
Rita Kupka-Baier, geboren 1960 in Ried im Innkreis (Oberösterreich), studierte Wirtschaftspädagogik in Wien. Von 1991 bis 1995 war sie Assistentin der Direktion in der Finanzkammer der Erzdiözese Wien. Seit 1995 leitet sie die Kontrollstelle des Diözesanen Wirtschaftsrats in der Erzdiözese Wien. Im Vorstand der Stiftung Opferschutz ist Rita Kupka-Baier seit 2010 tätig.
P. Erhard Rauch SDS, geboren 1950 in Mistelbach, studierte in Graz Theologie. 1970 trat er in den Orden der Salvatorianer ein, wurde 1974 zum Priester geweiht und arbeitete als Erzieher und Seelsorger. Von 1993 bis 2002 leitete P. Erhard die Salvatorianer-Provinz in Österreich. Von 2002 bis 2015 war er Generalsekretär der Superiorenkonferenz der männlichen Ordensgemeinschaften Österreichs. P. Erhard Rauch ist Provinzökonom der Salvatorianer und seit Oktober 2016 Pfarrmoderator der Michaelerkirche in Wien. Von 2010 bis 2020 war er im Vorstand der Stiftung Opferschutz tätig.
1 „Die Wahrheit wird euch frei machen (Joh 8,32)“. Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich, Österreichische Bischofskonferenz (Hg.), Wien 32021.
2 https://www.ombudsstellen.at/, Rahmenordnung "Die Wahrheit wird euch frei machen" (ombudsstellen.at) [Zugriff am 12.10.2021].
3 Vorsitzende der VFÖ und Vorsitzender der SK waren Mitglieder des Kuratoriums, heute sind dies Vorsitzende/r und Stv. Vorsitzende/r der ÖOK. Der dreiköpfige Vorstand wurde gebildet von der Generalsekretärin der VFÖ, dem Generalsekretär der SK und einer Vertretung der ÖBK. Seit Gründung der ÖOK sind Generalsekretär/in und ein/e Vertreter/in der Orden sowie eine Vertretung der ÖBK im Vorstand. Das Prinzip, dass sowohl Frauen- als auch Männerorden im Vorstand vertreten sein sollen, wird weiterhin befolgt. Im Kuratorium erfüllt sich dies automatisch aus den Statuten der ÖOK.
4 Ein kirchlicher Obere / kirchliche Oberin kann jederzeit bei der Stiftung Opferschutz um eine Liste der ihrem Orden zugerechneten betroffenen Personen anfragen.
5 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20009898 [Zugriff, 12.10.2021].
6 https://ordensgemeinschaften.at/artikel/6318-opferschutz-rahmenordnung-wurde-aktualisiert [Zugriff, 12.10.2021].
7 https://www.bischofskonferenz.at/135358/missbrauch-bischofskonferenz-aktualisiert-richtlinien [Zugriff, 12.10.2021].
8 Codex des kanonischen Rechtes, Buch VII „Prozesse“, Can. 1717 - § 1. https://www.vatican.va/archive/cod-iuris-canonici/cic_index_ge.html [Zugriff, 12.10.2021]
9 Die Daten der Grafiken zeigen den Stand von 30. Oktober 2021.